Aus aller Welt
USA: Säkulare „Werte-Wähler*innen“ werden wahlentscheidende Kraft
Ein genauerer Blick auf die Ergebnisse der US-Wahlen 2020 zeigt, dass nichtreligiöse Wähler*innen auch bei dieser Wahl schon das Zünglein an der Waage gewesen sein könnten, meint der Soziologe und Säkularismus-Forscher Phil Zuckerman.
Ein genauerer Blick auf die Ergebnisse der US-Wahlen 2020 zeigt, dass nichtreligiöse Wähler*innen auch bei dieser Wahl schon das Zünglein an der Waage gewesen sein könnten, meint der Soziologe und Säkularismus-Forscher Phil Zuckerman.
Von Phil Zuckerman, Pitzer College (Kalifornien). Übersetzung: Arik Platzek
Das Wahlverhalten religiöser Gruppen in den USA wurde seit den Präsidentschaftswahlen auf Anzeichen für eine Verschiebung der Loyalitäten unter den Gläubigen untersucht. Viele haben sich gefragt, ob hinter Bidens Sieg ein Anstieg der katholischen Unterstützung stand oder ob ein Rückgang bei der Unterstützung durch Evangelikale dazu beigetragen hat, Trump zu Fall zu bringen.
Doch viel weniger Aufmerksamkeit wurde einer der am stärksten wachsenden demografischen Gruppen unter den US-Wähler*innen gewidmet, die in den letzten 50 Jahren von etwa 5 Prozent der Amerikaner*innen auf über 23 Prozent angestiegen ist: Die sogenannten „Nones“ – also die Nicht-Religiösen.
Als Wissenschaftler forsche ich zum Säkularismus in den USA und konzentriere mich auf die soziale und kulturelle Präsenz säkularer Menschen – nicht-religiöse Menschen wie Atheist*innen, Agnostiker*innen, Humanist*innen, Freidenker*innen und diejenigen, die sich einfach mit keiner Religion identifizieren. Diese haben eine immer bedeutendere Präsenz in der amerikanischen Gesellschaft, die sich unweigerlich auch auf die politische Bühne überträgt.
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Bei der letzten Wahl war der wachsende Einfluss der säkularen Wähler*innen nicht nur auf der Ebene der Präsidentschaftswahlen zu spüren, sondern auch bei vielen Themen, die nicht zur Wahl standen.
Die neuen „Wertewähler*innen“
Seit Jahren sprechen Wissenschaftler*innen und Expert*innen vom politischen Einfluss der „Wertewähler*innen“ in Amerika. Diese Bezeichnung bezieht sich im Allgemeinen auf religiöse Männer und Frauen, deren biblisch begründete Werte sich um Themen wie die Ablehnung der Gleichberechtigung der Ehe und die reproduktive Autonomie der Frau ranken.
Aber solche religiösen Wähler*innen als „Werte-Wähler*innen“ zu bezeichnen ist ein echtes semantisches Verwirrspiel. Es stimmt zwar, dass viele religiöse Amerikaner*innen bestimmte Werte pflegen, die ihr Wahlverhalten motivieren, aber es ist auch sehr wohl der Fall, dass säkulare Amerikaner*innen ebenfalls ihre eigenen stark ausgeprägten Werte pflegen. Meine Forschungen legen nahe, dass sie auf Basis dieser Werte mit genauso viel Motivation abstimmen wie die religiösen Menschen.
Sexualaufklärung
Dies zeigte sich im November in einer Reihe von Abstimmungsinitiativen, die unter dem Radar der nationalen Medien geblieben sind.
So haben die Wähler*innen im Bundesstaat Washington das „Referendum 90“ angenommen, welches vorschreibt, dass Lernende in allen öffentlichen Schulen Sexualkundeunterricht erhalten. Es war das erste Mal, dass eine solche Maßnahme jemals auf einem staatlichen Stimmzettel stand, und sie wurde mit Leichtigkeit angenommen – zum Teil dank der beträchtlichen Anzahl von nicht-religiösen Wähler*innen im pazifischen Nordwesten.
Tatsache ist, dass Washington einer der am wenigsten religiösen Staaten in der Union ist. Weit über ein Drittel aller Einwohner*innen gehören zu keiner Religion, mehr als ein Drittel betet nie und fast 40 Prozent besuchen keine Gottesdienste.
Die Verabschiedung des Referendums wurde durch die Tatsache begünstigt, dass nicht-religiöse Erwachsene dazu neigen, umfassende Sexualerziehung wertzuschätzen. Zahlreiche Studien haben herausgefunden, dass säkulare Amerikaner*innen mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit eine umfassende Sexualerziehung in der Schule unterstützen. Der Soziologe Mark Regnerus fand in seinen Untersuchungen heraus, dass säkulare Eltern sich im Allgemeinen viel wohler fühlen – und eher bereit sind – mit ihren Kindern offene und ehrliche Gespräche über sicheren Sex zu führen als religiöse Eltern.
Drogenpolitik
In der Zwischenzeit hatten die Wähler*innen in Oregon – einem weiteren Staat im pazifischen Nordwesten, der eine der säkularsten Bevölkerungen des Landes aufweist – die „Maßnahme 110“ verabschiedet, das erste landesweite Gesetz zur Entkriminalisierung des Besitzes und des persönlichen Gebrauchs von Drogen.
Dies deckt sich mit Forschungsergebnissen, die zeigen, dass nicht-religiöse Amerikaner*innen viel eher die Entkriminalisierung von Drogen unterstützen als ihre religiösen Altersgenoss*innen. So ergab eine Studie des christlichen Meinungsforschungsinstituts Barna aus dem Jahr 2016, dass 66 Prozent der Evangelikalen glauben, dass alle Drogen illegal sein sollten, ebenso wie 43 Prozent der anderen Christ*innen, aber nur 17 Prozent der Amerikaner*innen ohne religiösen Glauben vertraten eine solche Ansicht.
Wissenschaft an der Wahlurne
Säkulare Menschen haben im Allgemeinen mehr Vertrauen in die wissenschaftliche Empirie, und verschiedene Studien haben gezeigt, dass Nichtreligiöse eher die Beweise für den vom Menschen verursachten Klimawandel akzeptieren. Dies führt zur Unterstützung von Politiker*innen und Maßnahmen, die den Klimawandel ernst nehmen.
Dies könnte auch zum Erfolg einer Abstimmung im November in Denver, Colorado, beigetragen haben, bei der es um die Finanzierung von Programmen zur Beseitigung von Treibhausgasen, zur Bekämpfung der Luftverschmutzung und zur aktiven Anpassung an den Klimawandel ging. Die Abstimmung wurde mit über 62 Prozent der Stimmen angenommen – und es ist bemerkenswert, dass Denver eine der säkularsten Städte der Nation ist.
Die Wähler*innen in Kalifornien – einer weiteren relativ säkularen Region – hatten zwischenzeitlich die Proposition 14 verabschiedet, die die Finanzierung der Stammzellenforschung unterstützt, wobei der Bundesstaat einer von nur einer Handvoll ist, die ein entsprechendes öffentlich finanziertes Programm haben. Pew-Studien haben wiederholt festgestellt, dass säkulare Amerikaner*innen die Stammzellenforschung weitaus eher unterstützen als religiöse Amerikaner*innen.
Werte gegen Werte
Bei Themen, bei denen die religiöse Rechte in den letzten Jahren einen gewissen Einfluss hatte, gibt es Anzeichen für ein Gegengewicht unter säkularen „Wertewähler*innen“.
Während zum Beispiel religiöse Menschen eher gegen die gleichgeschlechtliche Ehe sind, sind säkulare Amerikaner*innen eher dafür, und zwar mit deutlichem Vorsprung. Eine aktuelle Pew-Studie ergab, dass 79 Prozent der säkularen Amerikaner*innen die Ehe befürworten, verglichen mit 66 Prozent der weißen „Mainline“-Protestant*innen, 61 Prozent der Katholik*innen, 44 Prozent der schwarzen Protestant*innen und 29 Prozent der weißen Evangelikalen.
Es gibt viele weitere Werte, die unter säkularen Amerikaner*innen eine große Rolle spielen. Zum Beispiel ergab die U.S. Secular Survey of 2020 – die größte jemals durchgeführte Umfrage unter nicht-religiösen Amerikaner*innen mit fast 34.000 Teilnehmer*innen – eine starke Unterstützung für die Wahrung der Trennung zwischen Kirche und Staat.
Andere Studien haben herausgefunden, dass säkulare Amerikaner*innen die reproduktiven Rechte von Frauen, die Erwerbstätigkeit von Frauen, das DACA-Programm („Deferred Action for Childhood Arrivals“), ein Sterben in Würde und die Ablehnung der Todesstrafe stark unterstützen.
Säkulare Welle
Laut einer Datenanalyse von Professor Ryan Burge von der Eastern Illinois University stimmten rund 80 Prozent der Atheist*innen und Agnostiker*innen und 70 Prozent derjenigen, die ihre Religion als „unbestimmt“ beschrieben, für Biden.
Dies könnte entscheidend gewesen sein. Wie Professor Burge meint, „ist es durchaus angemessen zu sagen, dass diese Verschiebungen landesweit einen Zwei-Prozent-Punkt-Swing für Biden erzeugten. Es gab fünf Staaten, in denen der Abstand zwischen den Kandidaten weniger als zwei Prozentpunkte betrug (Georgia, Arizona, Wisconsin, Pennsylvania und North Carolina). Vier von diesen fünf gingen für Biden – und die Nichtwähler*innen lagen zwischen 28 Prozent und 37 Prozent der Bevölkerung in diesen Schlüsselstaaten.
Wie die letzte Wahl gezeigt hat, sind säkulare Werte nicht nur lebendig und gut, sondern sie sind ausgeprägter denn je. Es ist auch bemerkenswert, dass mehr offen nicht-religiöse Kandidat*innen in öffentliche Ämter gewählt wurden als je zuvor. Nach einer Analyse des atheistischen Autors und Aktivisten Hemant Mehta wurden nicht nur alle Mitglieder des säkularen Congressional Freethought Caucus wiedergewählt, sondern auch zehn Senator*innen, die offen säkular sind – das heißt, sie haben öffentlich bekannt gegeben, dass sie nicht religiös sind – in ihr Amt gewählt, vor zwei Jahren waren es noch sieben. Laut Mehtas Analyse gibt es nun landesweit einen Höchststand von 45 offen säkularen Staatsvertreter*innen. Jede*r einzelne von ihnen ist eine Demokrat*in.
Religiöse Wähler*innen werden sicherlich weiterhin für ihre Werte stimmen – und für Politiker*innen, die ähnliche Ansichten vertreten. Doch ich meine, säkulare Wähler*innen werden das auch tun.
Zahlen aus 100 Jahren US-Präsidentschaftswahlen
100.
Geburtstag hatte das Frauenwahlrecht in den Vereinigten Staaten in diesem Jahr.
Mit der Einführung im Jahr 1920 erhöhte sich die Zahl der abgegebenen Stimmen im Vergleich zur Wahl vor Jahre zuvor um 77 Prozent bzw. rund sieben Millionen Wählerinnenstimmen auf rund 16,14 Millionen.
Nur
1 Mal in den letzten 30 Jahren
hat ein Präsidentschaftskandidat der Republikaner das sog. „popular vote“ gewonnen, d. h. die Mehrheit der tatsächlich abgegebenen Stimmen.
Hintergrund: Die US-Wahlberechtigten stimmen nicht über eine Präsidentschaftskandidat*in, sondern über ein Gremium von Wahlleuten ab, das „Electoral college“, welches anschließend den/die Präsident*in wählt.
Rund
80 Mio.
Stimmen hat der demokratische Präsidentschaftskandidat Joe Biden bei den Wahlen im November erhalten.
Joe Biden hat damit rein zahlenmäßig so viele Stimmen erhalten wie kein US-Präsident vor ihm. Die Zahl der abgegebenen Stimmen verändert sich aufgrund des Wachstums der wahlberechtigten Bevölkerung sowie der Höhe der Wahlbeteiligung.
9,74 Mio.
Wähler*innenstimmen genügten vor 100 Jahren, um dem Republikaner Warren Harding die erforderliche Mehrheit im Electoral college zu sichern.
48 Jahre später sorgten 13,8 Mio. Stimmen für den Einzug des Republikaners Richard Nixon ins Weiße Haus, trotz seines Unterliegens beim „popular vote“, wo er sogar nur 43,42 Prozent aller abgegebenen Stimmen erhielt.
1. US-Vizepräsidentin
in der Geschichte der Vereinigten Staaten wird: Kamala Harris (56).
Ihr gelang mit Joe Biden im November der Wahlsieg. Damit gibt es in Anlehnung an die Tradition der „First ladies“ in den USA es auch erstmals einen „second gentleman“, den Anwalt Douglass Emhoff.
2 Mitglieder des US-Repräsentantenhauses
identifizieren sich als Humanisten, Jared Huffmann (Kalifornien) und Jamie Raskin (Maryland).
Insgesamt acht offen bekennende Humanist*innen, Atheist*innen und Agnostiker*innen waren zu den Wahlen angetreten. In der Legislative der US-Bundesstaaten üben derzeit mehr als fünf Dutzend weitere Abgeordnete, die sich offen als nicht-religiös und/oder humanistisch identifizieren, ein Mandat aus.
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