Aus aller Welt
Die Rückkehr des amerikanischen Säkularismus?
Der gewählte US-Präsident Joe Biden beabsichtigt die Interessen der Amerikaner*innen aller Religionen oder Glaubensrichtungen zu vertreten, meint Andrew Copson.
Von Andrew Copson, Präsident der Humanists International

Joe Biden erhielt mit rund 80 Millionen soviele Stimmen wie kein anderer US-Präsident vor ihm. Foto: Flickr / Gage Skidmore / CC BY-SA 2.0
Letzte Woche twitterte ich wie viele andere über die US-Wahl (insbesondere darüber, was für eine Erleichterung es ist, dass der gesetzlose nationalistische Populismus bei der Wahl besiegt wurde – und zwar nicht von den Extremist*innen auf der Gegenseite, sondern von liberalen demokratischen Internationalisten).
Als Antwort kam sofort ein höhnischer Tweet von einem anderen Twitter-Nutzer – einem Christen – und dieser antwortete, ja, wie wunderbar es in der Tat ist, einen Christen im Weißen Haus zu haben (der Katholizismus von Joe Biden ist gut dokumentiert). Ich vermute, dass der Twitterer andeuten wollte, dass ich unwahrscheinlich Anhänger eines religiösen Politikers sei. Nichts könnte mehr danebenliegen!
Was mich interessiert ist nicht die Religion von Politiker*innen, sondern ob sie die richtigen Werte haben, gesetzestreu und in ihrer Politik säkularistisch sind. Biden und Harris sind beide Säkularisten in der amerikanischen Tradition. Ja, Joe Biden ist römisch-katholisch. Aber er ist ein Katholik, der stets die prinzipielle Position vertreten hat, nicht zu versuchen, seine eigenen Werte und Annahmen mittels der Gesetze denen, die sie nicht teilen, aufzuzwingen.

Andrew Copson ist seit 2015 Präsident der Humanists International und seit 2010 Chief Executive der Humanists UK. Foto: privat
Ich denke, es könnte auch weitere Gründe für Humanist*innen (und Säkularist*innen unterschiedlicher Glaubensrichtungen) geben, zu glauben, dass diese Wahl einen Wendepunkt für die Vereinigten Staaten markieren könnte.
Einen Wahlsieg in den Vereinigten Staaten zu erringen, bedeutet traditionell den Aufbau einer Wahlkoalition, die zumindest einige extrem gläubige religiöse Anhänger*innen mit starken Anti-Abtreibungs- und Anti-LGBT-Ansichten umfasst. Aber die politische Polarisierung, die durch parteiische Medien wie Fox News und eine zunehmend aufrührerische politische Rhetorik unterstützt wurde, hat diese Gruppe fast vollständig hinter der republikanischen Partei vereint. Unter Trump haben christliche Nationalist*innen und konservative Kräfte versucht, die Trennung zwischen Staat und Kirche in den USA zu untergraben.
Der Aufstieg der Nichtreligiösen in Amerika hatte ebenfalls tiefgreifende Auswirkungen. Etwa 80 Prozent der nichtreligiösen Amerikaner*innen wählten bei der letzten Wahl die Demokraten, die 40 Prozent der demokratischen Basis ausmachten. Mit der Unterstützung religiöser Progressiver und schwarzer Wähler*innen haben die Demokrat*innen nun eine progressive Koalition, die eine Mehrheit der Amerikaner*innen bildet. Wo früher Demokrat*innen aufpassen mussten, die Unterstützung von Buchstabengläubigen bei Themen wie gleichgeschlechtlichen Ehen und Abtreibung nicht zu verlieren, könnten die Leute um Biden sich frei fühlen, sie einfach zu ignorieren. Das geht deutlich genug aus seiner Siegesrede hervor, in der er schwulen, lesbischen, bisexuellen und transsexuellen Amerikaner*innen für ihre Stimmen dankte.
Statistiken untermauern die Vorstellung von einer pluralistischeren demokratischen Basis. Trump, dessen persönliches Verhalten vor einigen Jahren viele konservative Christ*innen abgestoßen hätte, gewann unter allen christlichen Konfessionen – den evangelikalen und protestantischen und knapp unter den katholischen. Im Gegensatz dazu gewann Biden – und mit großem Vorsprung – die Unterstützung der jüdischen, muslimischen und nichtreligiösen Amerikaner*innen.
Aber unter den Nichtreligiösen gewann er am meisten, und das ist eine gute Nachricht. Obwohl Säkularität allen zugutekommt und Anhänger*innen sowohl mit religiösen als auch nichtreligiösen Weltanschauungen hat, wird er zweifellos von den Nichtreligiösen stärker unterstützt, und als wachsende demographische Gruppe in den USA werden immer mehr Politiker*innen ihre Unterstützung benötigen.
Es ist klar, dass Biden beabsichtigt, die Interessen der Amerikaner*innen aller Religionen oder Glaubensrichtungen zu vertreten, anstatt eine enge Vision von „Religionsfreiheit“ zu verankern, die eine bestimmte Religion oder Weltanschauung über andere stellt. In weniger als einer Woche nach dem Wahlsieg machte der President elect seine Unterstützung für die Rückgängigmachung der so genannten „Knebel-Regel“ deutlich; einer Regierungsrichtlinie, die die Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen, die als Förderer*innen oder Befürworter*innen der Entkriminalisierung der Abtreibung angesehen werden, aus US-Bundesmitteln blockiert. Auf die Frage nach seiner Haltung zum Schwangerschaftsabbruch im Jahr 2015 erklärte er, dass er zwar persönlich glaube, dass das Leben mit der Empfängnis beginnt, aber: „Was ich nicht zu tun bereit bin ist, anderen Menschen eine präzise Sichtweise aufzuzwingen, wie sie sich aus meinem Glauben ergibt.“ Wie bei diesem, dem giftigsten aller Themen in Amerika, so ist es auch bei den anderen Brennpunktthemen der amerikanischen Säkularität.
Amerika hatte schon immer ein eigenes, ausgeprägtes Flair der Säkularität, das aus einer verfassungsmäßigen Verpflichtung zur Religionsfreiheit und der Trennung zwischen staatlichen und religiösen Institutionen als Mittel zur Erlangung dieser Freiheit geboren wurde. Ich glaube, dass Biden dafür sorgen wird, dass die USA ihren Idealen gerecht werden, ein Ort zu sein, an dem Menschen aller Religionen und Glaubensrichtungen willkommen, gleichberechtigt und frei sind, ihre Religion oder ihren Glauben nach Belieben auszuüben, doch keiner, wo anderen die nicht geteilten Ansichten aufgezwungen werden.
Zahlen aus 100 Jahren US-Präsidentschaftswahlen
100.
Geburtstag hatte das Frauenwahlrecht in den Vereinigten Staaten in diesem Jahr.
Mit der Einführung im Jahr 1920 erhöhte sich die Zahl der abgegebenen Stimmen im Vergleich zur Wahl vor Jahre zuvor um 77 Prozent bzw. rund sieben Millionen Wählerinnenstimmen auf rund 16,14 Millionen.
Nur
1 Mal in den letzten 30 Jahren
hat ein Präsidentschaftskandidat der Republikaner das sog. „popular vote“ gewonnen, d. h. die Mehrheit der tatsächlich abgegebenen Stimmen.
Hintergrund: Die US-Wahlberechtigten stimmen nicht über eine Präsidentschaftskandidat*in, sondern über ein Gremium von Wahlleuten ab, das „Electoral college“, welches anschließend den/die Präsident*in wählt.
Rund
80 Mio.
Stimmen hat der demokratische Präsidentschaftskandidat Joe Biden bei den Wahlen im November erhalten.
Joe Biden hat damit rein zahlenmäßig so viele Stimmen erhalten wie kein US-Präsident vor ihm. Die Zahl der abgegebenen Stimmen verändert sich aufgrund des Wachstums der wahlberechtigten Bevölkerung sowie der Höhe der Wahlbeteiligung.
9,74 Mio.
Wähler*innenstimmen genügten vor 100 Jahren, um dem Republikaner Warren Harding die erforderliche Mehrheit im Electoral college zu sichern.
48 Jahre später sorgten 13,8 Mio. Stimmen für den Einzug des Republikaners Richard Nixon ins Weiße Haus, trotz seines Unterliegens beim „popular vote“, wo er sogar nur 43,42 Prozent aller abgegebenen Stimmen erhielt.
1. US-Vizepräsidentin
in der Geschichte der Vereinigten Staaten wird: Kamala Harris (56).
Ihr gelang mit Joe Biden im November der Wahlsieg. Damit gibt es in Anlehnung an die Tradition der „First ladies“ in den USA es auch erstmals einen „second gentleman“, den Anwalt Douglass Emhoff.
2 Mitglieder des US-Repräsentantenhauses
identifizieren sich als Humanisten, Jared Huffmann (Kalifornien) und Jamie Raskin (Maryland).
Insgesamt acht offen bekennende Humanist*innen, Atheist*innen und Agnostiker*innen waren zu den Wahlen angetreten. In der Legislative der US-Bundesstaaten üben derzeit mehr als fünf Dutzend weitere Abgeordnete, die sich offen als nicht-religiös und/oder humanistisch identifizieren, ein Mandat aus.
