Panorama
Die neue Normalität
Und warum sich Politik und Gesetzgebung ihr endlich annähern könnten. Rückschau und Ausblick nach den Bundestagswahlen.
Und warum sich Politik und Gesetzgebung ihr endlich annähern könnten. Rückschau und Ausblick nach den Bundestagswahlen.
Das war es also. Eine politische Ära hat mit den Bundestagswahlen 2021 offiziell ihr Ende erreicht. „Als ich Bundeskanzlerin wurde, gab es das iPhone noch nicht“, sagte die promovierte Physikerin und erste „SMS-Kanzlerin“ der Republik, Angela Merkel, während ihrer letzten Regierungsbefragung in Berlin. Was gerade für viele Erstwähler* innen besonders leicht greifbar auf den Punkt brachte, wie lange sie an der Spitze der politischen Macht in Deutschland gestanden hat. Sie können sich an keine Zeit ihres jungen, erwachsenen Lebens erinnern, in der es keine Kanzlerin und keine iPhones gab. Angela Merkel und Smartphones, das gehört für viele seit langem zur altbekannten Normalität.
Was auf diese politische Ära folgt, kann sich in den letzten Wochen des zu Ende gehenden Jahres nicht mit nennenswerter Verlässlichkeit prognostizieren lassen. Zwar lieferte das Wahlergebnis vom September einige Andeutungen, doch bis zu ersten sinnvollen Antworten auf eine solche Frage wird es mindestens weitere Monate, wenn nicht Jahre, brauchen. Während dieser Text entsteht, laufen Verhandlungen zu einer sogenannten Ampelkoalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Das genügt nicht für mehr als für Spekulationen – und einige Hoffnungen. Vielleicht liefert also ein Blick zurück, in das Jahr der Vereidigung von Angela Merkel zur Bundeskanzlerin, weitere Hinweise beim Versuch auszuloten, wo sich gesellschaftlich und politisch wichtige Koordinaten verschoben haben und wie dies von Bedeutung werden könnte.
„Urständ“ vor 16 Jahren
Denn als insbesondere die Vertreter* innen der C-Parteien die weltanschauliche Landschaft im Jahr 2005 nach christlicher Zeitrechnung betrachteten, schien diese noch ziemlich in Ordnung – gemessen an den Maßstäben der alten Bundesrepublik. Ein Deutscher war grad Papst geworden – „Wir sind Papst!“, schlagzeilte die BILD. Der katholische Weltjugendtag in Köln feierte einen Besucher*innen- Rekord. Und ein Satz, der hierzu im politischen Betrieb wie auch in den gesellschaftlichen Diskussionen regelmäßig zu hören war, lautete: Rund zwei Drittel der Deutschen gehören einer christlichen Kirche an.
Neben dem deutschen Papst wortführend aus kirchlichen Kreisen gegenüber der Öffentlichkeit und Politik war damals das berüchtigte M-Trio: Die Bischöfe Joachim Meisner (Köln), Gerhard Ludwig Müller (Regensburg) und Walter Mixa (Augsburg), letzter zugleich katholischer Militärbischof der Bundeswehr. Damaliger Konsens unter den Kirchenfürsten: Eine Gesellschaft von Menschen ohne Religion kann keine Werte und keine Moral haben – was immer wieder nicht nur von Kanzeln, sondern ebenso in Talkshows und anderswo gepredigt wurde. „Bischof Mixa sieht Massenmord als Folge des Atheismus“, meldete der SPIEGEL noch Jahre später anlässlich besonders krasser Äußerungen zum Osterfest 2009. „Hintergrund von Mixas Angriffen gegen Nichtgläubige ist der gesellschaftliche Trend weg von der Kirche“, erklärte der SPIEGEL damals, wenige Monate vor Angela Merkels zweiter Amtszeit. Einige weitere Monate später wurde dann die massenhafte sexualisierte Gewalt in insbesondere der katholischen Kirche und deren systematische Vertuschung bekannt.
Manche*r hatte gedacht, spätestens dies würde Folgen für das Verhältnis zwischen dem deutschen Staat und den Kirchen haben. Und auch die Zahl derjenigen, die sich keiner Kirche oder anderen Religionsgemeinschaft verbunden fühlten, stieg. Doch immer noch hielten CDU/CSU unter Ägide der Pfarrers- bzw. Lateinlehrerinnentochter Angela Merkel die regierende Mehrheit im Bund und in vielen Bundesländern. Auch an den höheren Gerichtshöfen der Bundesrepublik war der institutionelle Nachhall der alten Bundesrepublik unüberhörbar. Alles blieb also wie zuvor.
Zurück ins Heute: Seit dem Jahreswechsel werden die Evangelische Kirche in Deutschland und die römischkatholische Kirche erstmals seit den Anfängen deutscher Demokratie nicht mehr eine Mehrheit der Bevölkerung als Mitglieder zählen können. Wurden Ende 2020 noch 51 Prozent der Bevölkerung als Mitglieder vermeldet, wird im Jahr 2022 der Anteil von 50 Prozent aller Wahrscheinlichkeit nach unterschritten. Und es spricht nichts dafür, dass dieser Trend in den nächsten Jahren endet.
Keiner der großen Kirchen oder einer anderen Religionsgemeinschaft anzugehören ist somit, wenn nicht schon heute, so doch ziemlich bald: die neue Normalität.
Schreibt man die Veränderungen der weltanschaulichen Landschaft auf Basis der letzten zehn bis 15 Jahre fort, wird es in etwa vier bis fünf Jahren soweit sein, dass die bisher in der Regel als „konfessionslos“ bezeichneten Menschen in der gesamtdeutschen Bevölkerung die absolute Mehrheit bilden.
„Der Glaube trägt“
Manche*r wird nun denken, dass spätestens dies auch Folgen für das Verhältnis zwischen dem deutschen Staat und den Kirchen – bzw. denjenigen, die eben keiner Kirche oder anderen Religionsgemeinschaft angehören – haben wird, soweit es um bundespolitische Angelegenheiten geht. Denn klar ist: Aus humanistischer Sicht sind Bundespolitik und Gesetze ziemlich schlecht vorbereitet auf die neue bundesdeutsche Normalität, die sich gerade ohne großes Getöse dazu einstellt. Ob bei Fragen der Gleichstellung nichtreligiöser Bürger*innen und der Gleichbehandlung anderer Weltanschauungen als der christlichen, oder bei ethischen Fragen wie etwa dem Schwangerschaftsabbruch und der Selbstbestimmung am Lebensende: Nach 16 Jahren unionsgeführter Regierungspolitik können sich CDU/CSU ins eigene Zeugnis schreiben, jegliche Vorstöße zu Reformen erfolgreich verhindert zu haben – gelegentlich durchaus auch dank Unterstützung der sozialdemokratischen Koalitionspartnerin.
Doch wer glaubt, die neue Normalität bei der weltanschaulichen Vielfalt der Wähler*innenschaft wird nun schon bald für die nötigen Veränderungen bundespolitischer Gesetzgebung sorgen, macht es sich wohl etwas zu einfach. Dazu genügt ein Blick in die neuen Bundesländer, in deren Zuständigkeit zahlreiche politische Themen stehen, bei denen Glaube und Nichtglauben der Einwohner*innen ebenfalls eine Rolle spielen: Bildung (Religionsunterricht und Alternativen dazu, theologische Lehrstühle und Alternativen dazu), pauschale Millionenzuwendungen aus den Landesetats, die Regelung zur Erhebung des Mitgliedschaftsbeitrags (Kirchensteuer), gesetzliche Feiertage und anderes mehr. Neue und alte Bundesländer liegen trotz erheblicher weltanschaulicher Unterschiede da oft nicht prinzipiell auseinander. Christ*innen in den neuen Bundesländern müssen sich in einem Vergleich mit ihren Glaubensgeschwistern im Gebiet der alten Bundesrepublik sicherlich nicht als Bürger*innen zweiter Klasse fühlen.
Es scheint also möglich, dass auch einer weiter sinkenden Bindungskraft der Kirchen oder anderen Religionsgemeinschaften nicht automatisch ein verändertes Verhalten der Gesetzgebung gegenüber dem Teil der Bevölkerung folgt, der keine konfessionelle Zuordnung hat. Auch nicht demjenigen Teil davon, der mit Verweis auf die eigenen weltanschaulichen Vorstellungen und humanistischen Werte gleiche Selbstbestimmungs- oder Beteiligungsrechte einfordert. Doch wen wundert es, denn wie heißt es so oft in kirchlichen Kreisen: „Der Glaube trägt.“ Und das eben oft auch bis in die höchsten Ämter. Ministerpräsident*innen oder Minister*innen in den neuen Ländern, die keinen Taufschein und eindeutiges Bekenntnis zum Glauben stets bei sich trugen, musste man auch dort bisher eher suchen.
Sozialdemokratische Tradition hofft auf Wiederbelebung
Und diese Tatsache macht die Lage in den ersten Wochen nach den Bundestagswahlen etwas spannender als zuvor. Denn es gab erst drei demokratische deutsche Regierungschefs, die nicht der evangelischen oder römischkatholischen Konfessionsgemeinschaft angehörten: Friedrich Ebert, Gustav Bauer, Herrmann Müller.
Gelingt nun dem SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz, eine Ampelkoalition mit Bündnis 90/Die Grünen und FDP zu bilden, könnte er gleichsam im Vorbeigehen diese sozialdemokratische Tradition der Weimarer Republik wiederbeleben: als Bundeskanzler mit dem biografischen Vermerk „konfessionlos“, wie auch seine Webseite beim Deutschen Bundestags unverblümt erklärt. Für die Bundesrepublik Deutschland sähe man so ebenfalls, es gibt eine neue Normalität.
Im Bundeskabinett an Scholz‘ Seite: FDP-Parteichef Christian Lindner, in einer Ampelkoalition voraussichtlich Finanzminister, und ebenfalls „konfessionslos“. Mit 18 Jahren ist er aus der katholischen Kirche ausgetreten. „Das Christentum ist nicht die Hauptquelle unserer Werteordnung“, sagte er Anfang 2019 im Interview mit der ZEIT-Beilage „Christ & Welt“. „Dazu gehören auch: der Gedanke der Aufklärung, die Französische Revolution, das römische Recht, das antike Verständnis von Wissenschaft und Demokratie. Wer sagt, unsere Leitkultur ist christliches Weihnachtslied, Sauerkraut und Wagner-Oper, der blendet andere Quellenunserer Kultur aus und schließt Menschen aus. Mich zum Beispiel“, so Lindner weiter. Zum damals vieldiskutierten Kreuz-Erlass des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder meinte er: „Für mich ist jede Form der Symbolpolitik mit religiösen Zeichen gefährlich.“
Komplettieren könnten das infernalische Quartett – jedenfalls aus einer römisch-katholisch-bischöflichen Sicht der früheren Kanzlerinnenjahre – für das Bundeskabinett schließlich die Grünen-Spitzen Robert Habeck und Annalena Baerbock. Habeck: ebenfalls konfessionslos und nicht religiös, wie er in früheren Interviews erklärte. Baerbock: „Ich bin nicht gläubig“, sagte sie im Dezember 2020 der BILD AM SONNTAG, „aber trotzdem in der Kirche, weil mir die Idee des Miteinanders extrem wichtig ist“. Allerdings in einer evangelischen Kirche, womit ihr aus Sicht konservativer katholischer Kreise vermutlich dieselbe Hölle gebührt wie Scholz, Habeck und Lindner.
Soweit also kurz zu diesen prominenten Köpfen in der Bundespolitik dieser Tage. Ob ihre drei Parteien in den kommenden Wochen tatsächlich eine Koalition formen können, die sie an die Schalthebel der Macht befördert, wird sich zeigen. Ebenso ungewiss ist, ob sich diese mögliche Regierung den weltanschauungspolitischen Baustellen, die ihr von 16 Jahren Kanzlerinnenschaft hinterlassen wurden, in ausreichendem Maße zuwendet. Zwei Gründe sind dafür zu sehen.
Zum einen widmeten die Wahlprogramme der drei Parteien den entsprechenden Themenfeldern nicht sonderlich viel Raum. Die FDP setzte knappe Schwerpunkte, in dem sie sich für ein modernisiertes Religionsverfassungsrecht, die Ablösung historischer Staatsleistungen an die Kirchen, das Ende kirchlicher Privilegien im Arbeitsrecht und gegen Einschränkungen an stillen Feiertagen (letzteres allerdings Ländersache) aussprach – und für ein liberales Sterbehilfegesetz. Bündnis 90/Die Grünen versprachen, den Dialog mit allen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu suchen und stets den säkularen Staat und sein Neutralitätsprinzip zu achten: „Auch Konfessionsfreie haben einen Anspruch auf umfassende Berücksichtigung ihrer Belange und auf gleichberechtigte Teilhabe. Die gewachsene Beziehung zwischen Staat und den christlichen Kirchen wollen wir erhalten und wo nötig der gesellschaftlichen Realität anpassen“, dafür sollen zum Beispiel das kirchliche Arbeitsrecht reformiert und Ausnahmeklauseln im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz aufgehoben werden, die kirchliche Arbeitgeber*innen privilegieren. Zudem wolle man sich für eine „unabhängige wissenschaftliche Einrichtung zur Erforschung der religiösen und weltanschaulichen Landschaft“ einsetzen, hieß es dort.
Wer sagt es Olaf Scholz und der übrigen Parteispitze?
Das SPD-Programm fiel indes teilweise sogar hinter jenes früherer Jahre zurück, was die Beachtung von Weltanschauungen und Weltanschauungsgemeinschaften ohne religiösen Hintergrund betrifft. Ein Grund: Beachtliche Teile der zu Zeiten der Weimarer Republik weltanschauungspolitisch sehr progressiven Partei hadern heute stark mit der neuen Normalität. So sagte der religionspolitische Sprecher der SPDBundestagfraktion, Lars Castelluci, vor den Bundestagswahlen gegenüber dem Kölner Domradio in bestem bischöflichem Diktum: „Religion gehört zum Menschen.“ Kein Ausrutscher, denn Castellucci war zuvor immer wieder als einseitiger Lobbyist der Kirchen aufgetreten und es kann nicht als gesichert gelten, dass der Bundestagsabgeordnete, von Beruf übrigens Professor für nachhaltiges Management, für die Partei in dieser Position auch die nachhaltigste Lösung zu weltanschauungspolitischen Fragen bietet. Nur sollte das mal jemand einem möglichen künftigen Kanzler Scholz und der übrigen Parteispitze sagen.
„Alle religiösen und nicht-religiösen Lebenskonzepte haben ein gleiches Recht“
Eine Sache ist aber gewiss: Folgt tatsächlich eine Ampelkoalition auf die Kanzlerinnen-Ära, können humanistische Stimmen aus der Gesellschaft auf mehr Gehör und Offenheit bei den regierenden Fraktionen hoffen als in den 16 Jahren zuvor.
Und dass es mit Blick auf die nichtkirchlich gebundenen, nicht-religiösen Bürger*innen heute sogar aus der katholischen Kirche deutlich anders klingen kann als beim einstigen Trio Meisner, Müller und Mixa, machte ein im Wahljahr 2021 in kirchlichen Medien als „Orientierungshilfe“ bezeichnetes Arbeitspapier der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) deutlich. In der KSZ-Kurzanalyse zu den Grundpositionen der im Bundestag vertretenen Parteien zur Bundestagswahl 2021 hieß es zusammenfassend: „Alle religiösen und nichtreligiösen Lebenskonzepte haben ein gleiches Recht. Aus sozialethischer Sicht spricht demnach nichts gegen eine Weiterentwicklung des derzeitigen Staatskirchenrechts zu einem Religionsverfassungsrecht im Sinne einer Gleichstellung und Gleichbehandlung aller Religionsgemeinschaften und Weltanschauungen.“
Schöne Worte, doch Papier ist geduldig und am Ende entscheiden die Prioritäten in den Fraktionen und die Mehrheiten in Parlamenten. Ob, wie und wann die neue Normalität mit der politischen und gesetzlichen Wirklichkeit in einen Einklang kommt, bleibt spannend zu sehen – es einfach abwarten sollte man aber besser nicht.