Aus aller Welt
Bekommt Chile eine humanistische Verfassung?
Wissenschaftler*innen haben den Entwurf für eine neue Verfassung Chiles als „neuen globalen Standard“ begrüßt. Ein Blick ans andere Ende der Welt.
Kürzlich hat eine Gruppe von renommierten Wissenschaftler*innen den Entwurf für eine neue Verfassung Chiles als „neuen globalen Standard“ begrüßt. Die Welt könne viel von dem „visionären Produkt“ lernen, heißt es dort. Das lässt aufhorchen – was sind Gründe für so viel Lob? Ein Blick ans andere Ende der Welt.
Am 4. September werden die Bürger*innen Chiles über eine neue Verfassung abstimmen. Der am gleichen Tag zwei Monate zuvor veröffentlichte Entwurf habe seitdem eine nie zuvor dagewesene Aufmerksamkeit erfahren:
„Er könnte zu einem der meistgelesenen Texte in Chile der jüngsten Zeit werden“, sagt Ximena Báez, Präsidentin der Nationalen Vereinigung von Postgraduierten-Forschenden, in einem Bericht der Zeitschrift „Nature“.
Eine 155-köpfige verfassungsgebende, geschlechtlich paritätisch besetzte Versammlung hatte den Entwurf im Mai nach einem langwierigen Prozess verabschiedet, der durch eine Volksabstimmung im Jahr 2020 nach schweren sozialen Unruhen im Vorjahr eingeleitet worden war. Eine große Mehrheit der Chilen*innen stimmte dafür, die Verfassung aus der Ära der früheren, von der damaligen US-Regierung unterstützten, Pinochet-Militärdiktatur zu ersetzen.
Vorangetrieben wurde dies auch durch den neuen Präsidenten Chiles, Gabriel Boric, mit einem Alter von 36 Jahren der bisher jüngste Amtsinhaber in der Geschichte des Landes. In einem früheren Bericht der „Nature“ wurde er gelobt, da er Wissenschaftler*innen in seinen Wahlkampf einbezogen und einigen wichtige Stellen in der Regierung übertragen hat. Boric will auch die öffentlichen und privaten Investitionen in die Wissenschaft massiv erhöhen.
„Dies ist eine ökologische und gleichberechtigte Verfassung mit sozialen Rechten als Kernstück“, sagte María Elisa Quinteros, Präsidentin der Verfassungsgebenden Versammlung kürzlich in einem Bericht des britischen „Guardian“ zum Entwurf. Neben vielen Rechten und Freiheiten, die er verankert, will er eine kostenlose Hochschulbildung und die Gleichstellung der Geschlechter in der Regierung gewährleisten und den Staat zur Verantwortung für die Verhütung, Anpassung an und die Eindämmung des Klimawandels verpflichten.
Die neue Verfassung würde der indigenen Bevölkerung Chiles zum ersten Mal eine offizielle Anerkennung gewähren und sie enthält u. a. Bestimmungen für die Rückgabe von historisch indigenem Land und Entschädigungen.
Sie soll des Weiteren eine wesentliche Grundlage sein, um die gravierenden Folgen einer jahrzehntelangen neoliberal geprägten Privatisierungspolitik im Sinne einer demokratisch-sozialen Marktwirtschaft mit rechtstaatlichen Prinzipien zu beheben. Erstmals soll sie außerdem es den Grundstein für ein nationales öffentliches Gesundheitssystem legen.
Eine Gruppe international renommierter Ökonom*innen und Sozialwissenschaftler*innen hatte daher vor kurzem einen offenen Brief veröffentlicht, in dem sie den neuen chilenischen Verfassungsentwurf als „transformatives Dokument“ begrüßen, das als „neuer globaler Standard“ für die Bekämpfung der Klimakrise und der allgegenwärtigen Ungleichheit dienen könnte.
Zu den Unterzeichner*innen des Briefs zählen u. a. der französische Ökonom Thomas Piketty, die italienisch-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Mariana Mazzucato und der australische Rechtswissenschaftler und langjährige UN-Sonderberichterstatter Philip Alston.
Die Stellungnahme lobt den Verfassungsentwurf als „visionäres Produkt“, von dem der Rest der Welt viel lernen könne. Es heißt, dieser setze einen neuen globalen Standard in seinen Antworten auf die Krisen des Klimawandels, der wirtschaftlichen Unsicherheit und der nachhaltigen Entwicklung. „Zum ersten Mal erkennt eine Verfassung Sorgearbeit, soziale Reproduktion und die Gesundheit von Frauen als grundlegend für die Perspektiven der Wirtschaft an“, so die Autor*innen.
Auch andere informierte Beobachter*innen loben den Entwurf als bemerkenswert und historisch, weil er die Verpflichtung der Regierung anerkennt, die Klimakrise zu bekämpfen, kostenfrei öffentliche Bildung bereitzustellen und indigene Völker und weitere gefährdete Gruppen schützen würde.
Neoliberale Medien wie „The Economist“ haben den Verfassungsentwurf hingegen als „linke Wunschliste“ kritisiert, der eine Bedrohung für das „Geschäftsklima des Landes“ darstellen würde.
Da Chile ein vergleichsweise kleiner Staat ist, was die Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft anbelangt, mögen die politischen Prozesse in dem südamerikanischen Land hierzulande für viele Beobachter*innen nicht allzu interessant wirken. Doch gerade mit Blick auf die kleinere Teilgruppe der Demokratien unter den Staaten weltweit könnte solch ein seltener, grundlegender Prozess wie dieser einige Aufmerksamkeit wert sein. Der Verfassungsentwurf, der demnächst zur Abstimmung steht, lohnt jedenfalls einen Blick, nicht nur in Hinblick auf das globale Klima, Bildungsthemen und wirtschaftliche Aspekte.
Dort heißt es beispielsweise in
Artikel 4
Die Menschen werden frei geboren und bleiben frei, sind voneinander abhängig und gleich an Würde und Rechten.
Artikel 6
Der Staat fördert eine Gesellschaft, in der Frauen, Männer, Diverse und geschlechtliche Dissident*innen unter Bedingungen substanzieller Gleichheit teilhaben, in der Erkenntnis, dass ihre wirksame Vertretung ein Grundsatz und eine Mindestvoraussetzung für die volle und substanzielle Ausübung von Demokratie und Staatsbürgerschaft ist.
Alle Kollegialorgane des Staates, autonome Verfassungsorgane, leitende und ausführende Organe der Verwaltung sowie die Vorstände öffentlicher und halböffentlicher Unternehmen müssen paritätisch besetzt sein, so dass mindestens fünfzig Prozent ihrer Mitglieder Frauen sind.
Die Staatsgewalten und -organe ergreifen die erforderlichen Maßnahmen zur Anpassung und Förderung von Gesetzen, Institutionen, Regelwerken und der Erbringung von Dienstleistungen, um die Gleichstellung und Parität der Geschlechter zu erreichen. Sie berücksichtigen die Geschlechterperspektive bei ihrer institutionellen Gestaltung und ihrer Aufgaben.
Artikel 8
Individuen und Völker sind von der Natur abhängig und bilden ein untrennbares Ganzes. Der Staat anerkennt und fördert das „buen vivir“ als ein harmonisch ausgewogenes Verhältnis zwischen Mensch, Natur und gesellschaftlicher Organisation.
Artikel 9
Der Staat ist säkular. Die Religionsfreiheit und die Freiheit des spirituellen Glaubens werden in Chile geachtet und garantiert. Keine Religion oder Weltanschauung ist die offizielle, unbeschadet ihrer Anerkennung und freien Ausübung, die nur durch die Bestimmungen dieser Verfassung und der Gesetze begrenzt wird.
Artikel 35
Das öffentliche Bildungswesen bildet die strategische Achse des nationalen Bildungssystems; sein Ausbau und seine Stärkung ist eine vorrangige Aufgabe der Staat, für den er ein öffentliches, säkulares und freies Bildungssystem aufbaut, verwaltet und finanziert, das sich aus staatlichen Einrichtungen und Institutionen auf allen Ebenen und Bildungsmodalitäten zusammensetzt.
Artikel 61
Jeder Mensch hat sexuelle und reproduktive Rechte. Dazu gehört unter anderem das Recht, freie, autonome und informierte Entscheidungen über den eigenen Körper, die Ausübung der Sexualität, die Fortpflanzung, das Vergnügen und die Empfängnisverhütung zu treffen.
Artikel 67
Jeder Mensch hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich zu einer Religion oder Weltanschauung zu bekennen und diese zu wechseln, sowie die freie Ausübung dieser Religion oder Weltanschauung in der Öffentlichkeit oder privat, durch Gottesdienst, Einhaltung von Riten, spirituelle Praktiken und Unterricht.
Dazu gehört auch die Befugnis, Tempel, Gebäude und Kultstätten zu errichten, heilige und spirituell bedeutsame Orte zu erhalten, zu schützen und zu betreten sowie Gegenstände von kultischer oder heiliger Bedeutung zu retten und zu bewahren.
Der Staat erkennt die Spiritualität als ein wesentliches Element des menschlichen Wesens an.
Religiöse und spirituelle Gruppen können als juristische Personen organisiert sein, dürfen keine Gewinne erzielen und müssen ihr Vermögen in transparenter Weise und im Einklang mit dem Gesetz verwalten, wobei die in dieser Verfassung festgelegten Rechte, Pflichten und Grundsätze zu beachten sind.
Artikel 68
Jeder hat das Recht auf einen würdigen Tod
Die Verfassung garantiert das Recht der Menschen, frei und in Kenntnis der Sachlage über ihre Versorgung und Behandlung am Lebensende zu entscheiden.
Deutlich wird: Der chilenische Verfassungskonvent hat sich auf einen Entwurf geeinigt, der zu vielen Themenbereichen einen grundlegenden rechtlichen Rahmen vorgeben könnte, der durch ein klares Profil gemäß humanistischer Grundsätze und Wertvorstellungen gekennzeichnet ist. Und schließlich ist – den entsprechenden Artikeln folgend – auch die Präambel des Verfassungstexts für die früher traditionell stark katholisch geprägte Gesellschaft dem deutschen Grundgesetz in dieser Hinsicht deutlich voraus: Sie verzichtet vollständig darauf, sich auf religiöse Glaubensvorstellungen zu stützen. Schlicht und demokratisch heißt es dort kurz: „Wir, das chilenische Volk, das sich aus verschiedenen Nationen zusammensetzt, haben uns diese Verfassung aus freien Stücken gegeben, die in einem partizipativen, paritätischen und demokratischen Prozess vereinbart wurde.“
Letztlich spiegelt sich darin der deutliche Wandel der weltanschaulichen Landschaft in Chile wider: Denn der Anteil der konfessionell ungebundenen Chilen*innen ist in den letzten 20 Jahren deutlich gewachsen, auf über ein Viertel der Bevölkerung. Während sich zugleich immer weniger Einwohner*innen als katholisch bezeichnen: Beim Zensus 2017 waren es noch 58 Prozent, doch schon in früheren Untersuchungen hatte nur noch rund ein Drittel der Chilen*innen erklärt, ihren Glauben auch zu praktizieren. Die jüngste Untersuchung kam 2018 zu dem Ergebnis, dass sich nur noch 45 Prozent der Einwohner*innen als katholisch bezeichnen.
Wesentliches Problem für den mehr als 400 Artikel umfassenden Entwurf, die diese Verfassung im Übrigen zu einer der längsten der Welt machen würden: Die Aussichten zur anstehenden Volksabstimmung im September sind nicht besonders rosig. Jüngste Umfragen deuten darauf hin, dass der anfängliche Enthusiasmus in der Bevölkerung für die Verfassungsreform zu einem guten Teil verflogen ist.
In den letzten vor der Abstimmung zulässigen Umfragen meinten 46 Prozent, dass sie den Entwurf ablehnen werden, während 38 Prozent dafür stimmen würden. Falls die neue Verfassung nicht die erforderliche Mehrheit bei den mehr als 15 Millionen abstimmungsberechtigten Chilen*innen erhalten würde, bliebe die während der Pinochet-Diktatur (1973-1990) unter großem Druck und nicht demokratischen Maßstäben entsprechend in Kraft getretene Verfassung gültig. Fast ein Fünftel der Stimmberechtigten soll laut Berichten aber noch unentschieden sein.
Und trotz der fortgeschrittenen gesellschaftlichen Säkularisierung kann sich entlang von Glaubensüberzeugungen bei ethischen und moralischen Fragen immer noch gesellschaftliche Sprengkraft entfalten.
Einer der größeren Knackpunkte scheint für die insgesamt weiterhin mehrheitlich christliche Bevölkerung Artikel 61 des Verfassungsentwurfs zu sein, der die sexuellen und reproduktiven Rechte betrifft. „France24“ berichtet, dass viele Gläubige in dem Land eine weitergehende Liberalisierung ablehnen. Bis 2017 war hier der Abbruch ungewollter Schwangerschaften vollständig verboten und ist seitdem nur nach einer Vergewaltigung, bei Lebensgefahr für die Frau oder bei fehlender Lebensfähigkeit des Fötus erlaubt.
Im Bericht der „Nature“ kommt außerdem die Rechtswissenschaftlerin Soledad Bertelsen von der Universität Los Andes in Santiago zu Wort. Sie ist besorgt darüber, dass in dem vorgeschlagenen Entwurf die Rechte am geistigen Eigentum, die in der derzeitigen Verfassung garantiert sind, nicht erwähnt werden. Dies sei „ein eindeutiger Rückschritt“, sagt sie, und meinte, dass Unternehmen deswegen beschließen könnten, ihre Investitionen aus Chile abzuziehen. Dennoch setzen viele Wissenschaftler*innen in Chile darauf, dass die vorgeschlagene Verfassung das Land in ein neues Zeitalter führen wird, heißt es.
Und nicht zuletzt: Überschattet wurde der Prozess von „Faktoren außerhalb der Verfassungsdebatte. Chile ist mit einer außergewöhnlich hohen Inflation konfrontiert, die sowohl von internationalen als auch von lokalen Kräften angetrieben wird, was das Leben für schwache Chilen*innen, die bereits unter der Pandemie leiden, schwierig macht. Auch die Sicherheitsbedenken haben zugenommen, da die Zahl der Morde in der ersten Hälfte des Jahres 2022 um fast 30 Prozent gestiegen ist“, so Pía Mundaca, Direktorin der chilenischen Denkfabrik Espacio Público und frühere Mitarbeiterin des Ministeriums für Einwanderung und Migration, in einer Analyse für das Magazin „Americas Quarterly“.
„Es ist paradox, dass sich die Gelegenheit für einen umfassenden regulatorischen und institutionellen Wandel gerade dann bietet, wenn das Gefühl der materiellen und physischen Unsicherheit zunimmt – ein Trend, dessen unmittelbarer Vorläufer nicht nur die Pandemie, sondern auch die Proteste 2019 selbst sind“, so Mundaca weiter.
In rund zwei Wochen wird feststehen, ob die chilenische Bevölkerung diesen Schritt in die Zukunft tatsächlich will. In Mundacas Analyse heißt es weiter, es gebe derzeit weder eine Mehrheit für den jetzigen Entwurf noch eine für die Beibehaltung der alten Verfassung. „Wie es nach dem 4. September weitergeht, ist unklar, aber ein Sieg der Ablehnungskampagne wäre ein herber Rückschlag für die Regierung – und die Diskussion darüber, wie eine neue Verfassung am besten zustande kommt, würde weitergehen. Im Falle eines Sieges der Zustimmungskampagne wird die größte Herausforderung darin bestehen, dafür zu sorgen, dass alle wichtigen politischen Kräfte des Landes in den Prozess der Umsetzung des neuen Textes einbezogen werden“, so Mundaca.
Doch auch ein weiterer Anlauf für eine Verfassungsreform würde inhaltlich wahrscheinlich nicht weit hinter den jetzigen Stand zurückfallen, der in Kernfragen richtungsweisende Festlegungen für die chilenische Gesellschaft enthält, die eben keine kontroversen Punkte in den aktuellen Debatten darstellen. Und ein Teil der Menschen in Chile, die historisch und unter der bisherigen Verfassung benachteiligt waren, sieht bereits im heutigen Stand schon einen großen Erfolg: „Unabhängig davon, ob die Verfassung abgelehnt oder angenommen wird, glaube ich, dass die indigenen Völker Chiles bereits gewonnen haben“, sagte hierzu Rosa Catrileo, die die Mapuche als größte indigene Gruppe des Landes vertritt, laut „Guardian“. „Wir haben unsere Forderungen auf nationaler Ebene sichtbar gemacht, damit wir nie wieder von der Diskussion ausgeschlossen werden“, so Catrileo.
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