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Kirchenrechtler sieht religionspolitische Ordnung vor gravierendem Wandel
Hans Michael Heinig meint in der FAZ, einer der Faktoren sei, dass für Fehlleistungen einzelner Kirchen alle Religionsgemeinschaften in Mithaftung genommen werden. Die Vorahnungen und Prognosen darf man trotzdem mit einer gesunden Dosis Skepsis zur Kenntnis nehmen.
Hans Michael Heinig meint in der FAZ, einer der Faktoren sei, dass für Fehlleistungen einzelner Kirchen alle Religionsgemeinschaften in Mithaftung genommen werden. Die Vorahnungen und Prognosen darf man trotzdem mit einer gesunden Dosis Skepsis zur Kenntnis nehmen.
Der an der Universität Göttingen lehrende Lehrstuhlinhaber für Öffentliches Recht und Kirchenrecht Hans Michael Heinig schreibt in seinem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, auf breiter Front werde „das Verhältnis von öffentlicher und privater Religion, von Individuum und Gemeinschaft, von Freiheit und Gleichheit, von Tradition und Traditionsabbruch in der religionspolitischen Ordnung“ neu verhandelt. Das zeige sich an bisherigen Diskussionen über Staatsleistungen oder den Religionsunterricht.
Aktuell scheine die religionspolitische Ordnung sich „in einem Zwischenreich des ‚nicht mehr‘ und ‚noch nicht‘ gefangen“, jedoch zeichneten sich Veränderungen bisher nur schemenhaft ab. Heinig sieht als lange bekannte Tatsache „wirkmächtige Tiefenströmungen, die unter der glatten Oberfläche eines seit siebzig Jahren unveränderten Verfassungstexts ihre Kraft entfalten: Die Organisations- und Finanzkraft der beiden großen Kirchen schwindet infolge eines stetigen Verlustes an Mitgliedern.“ Dies werde nicht nur durch die Pandemie beschleunigt, sondern auch durch „eine kirchliche Haltung, die sich der Aneignung kultureller Modernisierungsprozesse gänzlich verweigert“. Beispielsweise nennt er hier den durch die römisch-katholische Kirche praktizierten Ausschluss der Frauen vom Weihesakrament oder das Verbot einer Segnung gleichgeschlechtlicher Paare. Dazu komme gravierende kirchliches Missmanagement wie im Fall des Umgangs der Erzdiözese Köln mit der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs. „Für solche Fehlleistungen werden alle Religionsgemeinschaften in Mithaftung genommen“, schreibt Heinig.
Der Trend zur Entkirchlichung werde sich in Deutschland nach seiner Einschätzung „gleich einer Naturgewalt in den kommenden Jahrzehnten fortsetzen.“ Dies werde aber nicht dazu führen, dass eine „kohärente, säkularistische Weltanschauung nun kulturelle Dominanz erlangt“, ist Heinig überzeugt. Zudem sei „das Bewusstsein gewachsen, dass Religionen und antireligiöse Weltanschauungen auch destruktiv wirken können, indem sie soziale und identitätspolitische Konflikte verhärten und kulturelle Verwerfungen vertiefen.“
Der heutige Laizismus verstricke sich nach seiner Ansicht in Selbstwidersprüche. „Wenig an ihm ist ‚neutral‘, seine gesellschaftliche Integrationskraft schon in Frankreich begrenzt“, so Heinig. Daher sei in Deutschland „eher über eine Fortschreibung der bisherigen Ordnungsmuster unter veränderten Vorzeichen als über einen radikalen Systembruch“ nachzudenken. Als aktuell im Bundestag wieder verhandeltes Thema verweist er auf den Gesetzentwurf von Grünen, FDP und Linken zur Ablösung der sogenannten historischen Staatsleistungen. Dieser Antrag sei ein „ernsthafter Entwurf“ und folgerichtig mit Blick auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben.
Insbesondere die in den letzten Jahrzehnten stark gewachsenen kirchlichen Sozialträger sieht er vor einem gravierenden Dilemma, da diese ihre Stellen immer seltener mit kirchlich gebundenen Beschäftigten besetzen können werden, womit religiös geprägten Einrichtungen einem verstärkten Selbstsäkularisierungsdruck ausgesetzt würden. „Zugleich hat der Sozialstaat eine Gewährleistungsverantwortung, dass Menschen ohne religiöse Affiliation adäquate Angebot in der frühkindlichen Bildung oder in der Pflege finden“, stellt er fest. Auch den Religionsunterricht sieht er vor „gewaltigen Herausforderungen“.
Den in Deutschland lebenden Muslim*innen falle es wie den „weltanschaulichen Säkularisten“ jedoch erkennbar schwer, große Mitgliedsorganisationen aufzubauen. Allerdings sollte die Politik bei der Bewertung der Relevanz der von diesen Organisationen erhobenen Forderungen „auf das Erfordernis einer hinreichen Selbstorganisation der Gläubigen nicht leichthändig verzichten“, so Heinig.
Und schließlich stellt er jedenfalls fest: „Es liegt nahe, dass eine mitgliederärmere Kirche an politischem Einfluss verlieren wird. Die Zahl der kirchenverbundenen Mandatsträger geht zurück, die politische Mobilisierungskraft kirchlicher Milieus ebenso. Die aktuelle Debatte um den assistierten Suizid ist Vorbote einer solchen Entwicklung“, so Heinig.
Ob dessen Vorahnungen und Prognosen bei weiter fortschreitendem Rückgang der Kirchenbindung tatsächlich so gravierende Auswirkungen haben werden, darf freilich auch auf säkularer und humanistischer Seite mit einem gesunden Maß Skepsis beurteilt werden: Der Blick auf die weltanschauungs- bzw. religionspolitischen (Macht)-Verhältnisse in den Bundesländern, in denen Konfessionsfreie seit langem die Mehrheit der Bevölkerung stellen, zeigt ziemlich deutlich: Fortschritte und Veränderungen folgen nicht in jedem Fall einem Naturgesetz. Und viele weltanschauungspolitisch und auch alltagspraktisch relevante Themen liegen in der Hand der Bundesländer. Kirchliche Trägerverbände wie Caritas und Diakonie sind auch dort gut bis sehr gut aufgestellt. Und nicht nur für den Zugang in gehobene Ämter der Parteien scheint ein gültiger Taufschein bis heute als Voraussetzung, gerade auch für Funktionen wie die eines Ministerpräsident*innen wirkt ein solcher bis heute unverzichtbar. Den jüngsten besitzt seit 2010 die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern Manuela Schwesig.
Wer auf Veränderungen im Sinne eines freiheitlichen und gerechteren Miteinanders hofft, dürfte auch bei weiterer Schrumpfung der Kirchen kaum gute Gründe finden, die Hände in den Schoß zu legen.
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