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Essay & Diskurs

Ernst nehmen, nicht Rücksicht nehmen

Ob aus Bequemlichkeit, falsch verstandener Toleranz oder politischem Kalkül: Auf die vermeintlich berechtigten Sorgen sogenannter Corona-Rebell*innen Rücksicht zu nehmen, ist so gefährlich wie falsch.

Ob aus Bequemlichkeit, falsch verstandener Toleranz oder politischem Kalkül: Auf die vermeintlich berechtigten Sorgen sogenannter Corona-Rebell*innen Rücksicht zu nehmen, ist so gefährlich wie falsch.

von Ralf Mitschke

Mit Deutschlandfahnen gegen die Corona-Diktatur: Hygiene-Demonstration in Berlin. Foto: Enno Lenze/flickrcc unter CC BY-NC 2.0

Die Motivation für diesen Text nährt sich aus dem Unwillen, sich mit den schön klingenden Plattitüden zufrieden zu geben, die leider in der Diskussion über den Umgang mit den sogenannten „Hygiene-Demonstrant*innen“ Argumente und eine schlüssige Beweisführung zunehmend ersetzt haben.

Mit Plattitüden meine ich den fast schon obligatorischen Verweis auf vermeintlich „berechtige Sorgen“ wenn nicht sogar die „berechtigte Kritik“ zumindest der angeblich „Gemäßigten“, die in der jüngeren Vergangenheit an Aktionen, Demonstrationen und Kundgebungen gegen die Maßnahmen zum Gesundheits- und Infektionsschutz teilgenommen haben. Immer wieder geht es darum, die Querdenker*innen und ihr Rede- und Demonstrationsrecht gefälligst ernst zu nehmen, weil ja nicht alle Nazis wären und man nicht alle in einen Topf werfen dürfe.

Schön. Aber worauf basieren diese erst einmal wunderbar demokratisch klingenden Phrasen eigentlich? Werfen sich die Autor*innen oder Sprecher*innen mutig für die Meinungsfreiheit in die Brust? Verteidigen sie den gesellschaftlichen Pluralismus gegen demokratiefeindliche Angriffe oder reden sie umgekehrt der Demokratiefeindlichkeit das Wort, wenn sie die Querdenker*innen verteidigen?

„Ich stelle ja nur Fragen“

Wer als Querdenker*in heute etwas auf sich hält, behauptet nicht, sondern stellt „einfach nur Fragen“. Diese vorsorgliche Immunisierung gegen Kritik („Warum greifst du mich an, ich frage doch bloß!“) ist ein ärgerlicher Nebenaspekt, der eine eigene Betrachtung lohnt, hier aber nicht weiter verfolgt werden soll. Halten wir fest: Corona-Rebell*innen und Konsorten fragen gern. Was aber, wenn man den Spieß umdreht und den Querdenker*innen auch nur Fragen stellt? Lassen Sie es uns versuchen.

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Worin bestehen denn die „berechtigten Anliegen“ der selbsternannten Freiheitskämpfer*innen? Welche der wahrlich nicht wenigen Probleme bei der konkreten Eindämmung der Covid-19-Pandemie werden von ihnen thematisiert?

Wie steht es zum Beispiel um die Schräglage bei den Corona-Hilfen? Wo sind die bunten Plakate, die kritisieren, dass deutsche Konzerne und deren Aktionär*innen problemlos Provisionen und Dividenden an Management und Shareholder auszahlen können und gleichzeitig von Subventionsleistungen wie Kurzarbeiter*innen-Geld, Staatshilfen und billigsten Krediten profitieren, die weltweit ihres gleichen suchen? Wann wurde von Querdenker*innen skandalisiert, dass dies – durch den Griff in die Rentenkasse, mit Steuern und Sozialabgaben – maßgeblich von Unter- und Mittelschichten finanziert wird, und damit genau von denjenigen, die von drohenden Einschnitten bei Sozialleistungen am stärksten betroffen wären? Wie, gar nicht? Ist Haushaltspolitik etwa zu profan?

Dann vielleicht so: Wo wurde danach gefragt, wieso es Selbständige so schwer haben, Hilfen in ausreichendem Maße zu bekommen, obwohl die zahllosen Freiberufler*innen und Kleinunternehmer*nnen sonst gern gesehene Zuarbeiter*innen für mittlere und große Unternehmen sind, die Leistungsspitzen überbrücken müssen oder sich die Sozialleistungen sparen wollen? Wäre diese Frage zu ökonomisch? Und wie arbeiten eigentlich Geistheiler*innen und Heilpraktiker*innen? Machen Sie sich keine Sorgen um ihre Altersvorsorge?

Weiter. Wieso wurde nicht der Widerspruch in den Vordergrund gerückt, dass sich Politik und Wirtschaft gerne mit der Förderung von Kulturschaffenden jeder Couleur schmücken, sich als Mäzene gerieren und kulturelle Dienstleistungen gerne nutzen, wenn es darum geht Inhalte und Produktmarketing aufzupeppen, aber kein Cent mehr für Kultur übrig ist, sobald der Markt mal stottert? Wo wird auf die Parallelen zu der Finanzkrise 2008 hingewiesen, die bereits große Verheerungen im Kulturbereich angerichtet hat, weil in diesem Prekarität die Regel ist und man am Tropf stetiger Aufträge und mal mehr, mal weniger gut gefüllter Fördertöpfe hängt? Ich war mir doch sicher, einige Kleinkünstler*innen auf den Demo-Bildern gesehen zu haben.

Und wo wir schon dabei sind: Wieso endete die angeblich von Kulturschaffenden getragene „Rebellion der Träumer“ in Berlin mit lauter Musik und Gegröle vor einer Intensivstation mit todkranken Menschen und nicht vor einem Bundesministerium oder einer der zahllosen Kulturstiftungen, mit denen Unternehmen und Millionär*innen gerne Steuern sparen? Nun gut, vielleicht verprellt man als heroische Widerständler*in ungern potentielle Geldgeber*innen, nur für den Fall, dass man bei der Volks-Revolution keinen guten Posten abbekommen sollte.

Querdenken als brennendes Desinteresse

Immerhin: Zumindest oberflächlich fündig werde ich bei dem durchaus kritisierbaren Fakt, dass die Landesregierungen dem Anschein nach nicht fähig sind, sich auf einen gemeinsamen Maßnahmenkatalog zur Eindämmung der Pandemie zu einigen. Was sich auf Hygienedemonstrationen als „berechtigte Sorge“ äußert, zielt aber selten auf das propagandistische Kalkül diverser Kanzlerkandidaten in spe oder die an Korruption grenzende Verbandelung von Spitzenpolitiker*innen etwa mit der Fleischindustrie. Oder wie kann man die stillschweigende Zustimmung von zuständigen Ämtern und Ministerien erklären, die es Fleischproduzent*innen erlaubte, nicht nur Arbeitsschutz und Menschenrechte zu ignorieren, sondern auch trotzig den Infektionsschutz in ihren hochbrisanten Produktionsstätten zu verweigern – bis es zu spät war? Das ist doch Stoff für eine Verschwörung!

Auch warum die Regierung von Sachsen-Anhalt als einziges Bundesland keine Bußgelder beim Verstoß gegen die Mund-Nase-Maskenpflicht erhebt, wurde gar nicht so tiefschürfend hinterfragt, wie man es von Querdenker*innen erwarten könnte. Mit auch nur minimaler Recherche ließ sich nämlich herausfinden, dass nicht etwa der tapfere Widerstand der Kenia-Koalition um Ministerpräsident Rainer Haseloff gegen den Einfluss jüdisch-bolschewistischer Echsenmenschen oder gar mangelnde Evidenz für die Wirksamkeit von Alltagsmasken der Grund für diese Entscheidung waren, sondern ein präventiver Kniefall vor der AfD, die bei der anstehenden Landtagswahl um Bedeutung, Themen und Macht ringt. Überhaupt könnte man für die ganze Sphäre politischer Entscheidungsfindung die Frage stellen, ob sich das politische Personal wirklich einer „Diktatur der Virolog*innen“ beugte, oder ob nicht banales politisches Kalkül es zu seinen jeweiligen Entscheidungen trieb. Aber vielleicht wäre das nicht nahe genug an den bohrenden Nöten der Bevölkerung?


Wieso aber wird dann nicht die seit langem vorangetriebene Aushöhlung sozialer und öffentlicher Einrichtungen kritisiert, die sich nicht zuletzt in einer völligen Unterbesetzung von Gesundheits- und Sozialämtern widerspiegelt? Wurscht, weil öffentliche Strukturen in einem „besetzten Land“ eh der Feind sind?

Viele, auch bohrende Fragen hätte man zum Zustand des Gesundheitssektors stellen können, der seit Jahren unter Einsparungen und einem immer größeren finanziellen Gewinndruck leidet. Aber auch hier wurde ich bis auf eher infantile Suggestivkonstruktionen zum Impfzwang, Bill Gates und ähnlichem Stoff nicht wirklich fündig. Wie schön und kritisch wäre die Frage gewesen, wie es den Ärzt*innen und Pfleger*innen heute geht, die unter Aufopferung ihrer selbst gegen die Corona-Pandemie gekämpft haben und ohne die heute vielleicht nicht demonstriert werden könnte! Man könnte die Angehörigen der über 60 Toten oder die zigtausend Infizierten aus dem medizinischen und pflegerischen Bereich einmal fragen, was sie von der Verweigerung der Mund-Nasen-Masken halten. Nein, machen wir nicht? Weil: Ohnehin alles nur Marionetten der Schulmedizin und von big pharma?

Und wo wir gerade von Opfern sprechen: Was ist mit den vorwiegend weiblichen Opfern von gewalttätigen Partner*innen, deren Zahl während der pandemiebedingten Ausgangsbeschränkungen anscheinend deutlich anstieg? Obwohl diese Gewalt durchaus gerne in Stellung gebracht wird gegen die „Corona-Diktatur“, fehlte mir bis hierhin dann doch die kritische, querdenkende Nachfrage, weshalb es eine Gesellschaft unter allenfalls leisem Protest hinnimmt, dass es wohl Menschen gibt, die sich ab eines bestimmten Quantums gemeinsam verbrachter Zeit schicksalhaft dazu genötigt fühlen, ihre Lebenspartner*innen und Schützlinge grün und blau zu schlagen. Wieso wurde nicht angeprangert, dass man diese Personen zum Schutz anderer und meinetwegen unter staatlicher Aufsicht in zigtausende leerstehende Hotelzimmer hätte ausquartieren können, anstatt einfach nur auf den Mangel an Frauenhäusern zu verweisen? Die in vielen Fraktionen der Querdenker*innen vertretenen Männerrechtler, deren Ehre doch erschüttert sein sollte, hielten sich jedenfalls bedeckt.

Auch habe ich trotz der steten, aber meist recht schwammig formulierten Sorge um „die Kinder“ einen Verweis darauf vermisst, dass die Zustände in der Kinder- und Jugendhilfe schon vor Corona alles andere als gut und viele Kinder und Jugendlichen ihren disfunktionalen Familien ausgeliefert waren. Nichts daran hat sich während der Pandemie verbessert. Insbesondere von den zahlreichen aus Süddeutschland beteiligten „Lebensschützer*innen“, für die sonst keine Eizelle zu heilig und keine gleichgeschlechtliche Ehe zu kindesgefährdend ist, hätte ich mir da schon ein paar pointierte Nachfragen gewünscht.

Über Ungleichheit spricht man nicht

Und wann wurde eigentlich kritisch hinterfragt, weshalb in einer Gesellschaft, in der doch „Chancengerechtigkeit“ herrschen und eine „soziale Marktwirtschaft“ walten sollen, arme Menschen mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit an Covid-19 erkranken und sterben, als dies das gut situierte Bürgertum tut, aus dem sich die Corona-Rebell*innen in großer Zahl rekrutieren? Oder ist das gar nicht so wichtig, weil Arme schon vor der Covid-19-Pandemie eine deutlich niedrigere Lebenserwartung hatten als die Bewohner*innen des Stuttgarter Fettgürtels?

Apropos Ungleichheit: Ich konnte nicht herausfinden, weshalb Personen, die lieber einmal zuviel als zuwenig betonen, wie eins sie doch mit der gesamten Erde seien, kein Wort darüber verlieren, dass die Bevölkerungen der ärmsten Staaten mit der Pandemie praktisch allein gelassen werden, obwohl das Virus sich doch nur dank eines globalen Wirtschaftssystems dort verbreitet, von dem vor allem die reichsten Staaten profitieren. Insbesondere die sonst so gehegten und vom Virus bedrohten „Naturvölker“, etwa in Lateinamerika, waren den „Eine-Welt“-Hippies nicht viele Fragen wert.

Auch der recht, sagen wir ambivalente Umgang mit Corona-Infizierten und sogenannten Hotspots wäre die ein oder andere Nachfrage wert gewesen. Zwar wurde auf verschwörungsgläubigen Medien mit fast schon voyeuristischer Lust über die harten Quarantänemaßnahmen gegen prekär-migrantische Häuserblocks berichtet, das Schicksal dieser Menschen oder deren schlimmen Lebensumstände vorher waren aber scheinbar uninteressant. Vielmehr sorgte man sich darum, ob Vergleichbares nicht auch „uns allen“ passieren könnte. Sonst wäre es nicht so schlimm, oder?

Andere Länder, gleiche Sitten: Anhänger*innen der rechtsradikalen Partei ĽSNS demonstrieren in der Slowakei gegen die „Corona-Diktatur“.

Ja, diese Aufzählung war ermüdend und wurde sicher nicht zum ersten Mal gemacht. Aber sie soll eines deutlich machen: Die Forderung, die „berechtigten Sorgen“ des vermeintlich „vernünftigen“ Teils dieses sogenannten Widerstandes bitte, bitte ernst zu nehmen, ist so hohl wie die Erde im wahnhaften Weltbild einiger Querdenker*innen. Schauen wir auf die unzähligen Websites, in Videos und natürlich auch auf die Demo-Plakte. Hören wir ihnen doch zu, wenn sie sich zu ihren Redebeiträgen aufschwingen, die (apropos Meinungsdiktatur) frei zugänglich und gut dokumentiert sind. Wo sind dann die berechtigten Sorgen? Wann geht es um irgendetwas anderes als zusammenphantasierte Verschwörungsmythen und autoritären Menschenhass in Regenbogenfarben?

Wenn wir das, was uns die Querdenker*innen mitteilen, wirklich ernst nähmen, könnten wir sehen, dass sich ihr Unmut einzig und allein dagegen richtet, zum Schutz der sozialen Sicherheit und zum Wohle der Gesundheit und des Lebens Anderer auch nur die kleinste, vermeintliche Unannehmlichkeit auf sich zu nehmen – während man gleichzeitig für sich selbst uneingeschränkt Rücksicht, Verständnis und Unterstützung einfordert.

Wo waren all diese heroischen Rebell*innen eigentlich bei den unzähligen, teilweise verzweifelten Aufrufen und Aktionen von Gewerkschaften und Klima-Aktivist*innen, von Pflegenden, Mediziner*innen und vielen anderen mehr, die etwas gegen die oben aufgeführten Missstände tun wollten? Wie schon 2015 ist hier keine differenzierte, soziale Bewegung auf der Straße, die essentieller Teil einer Demokratie wäre. Im Gegenteil stellt sie den Antagonismus zur Demokratie dar, der schnell seine antidemokratische Fratze zeigt, wenn man nicht die politischen Vorstellungen der Bolsonaros, Duertes, Orbáns, Putins oder Trumps dieser Welt teilt.

Ich alles, du nichts

Kaum etwas treibt die Corona-Rebell*innen so sehr um, wie die tiefe Überzeugung, in ihrer Meinungsäußerung unterdrückt zu werden. Die Unterdrückung reicht in der Tat so weit, dass ihnen nichts bleibt als unzählige Demonstrationen, Blog-Artikel, Buchveröffentlichungen, Interviews und Netzvideos mit hunderttausenden Klicks. Selbst anfangs verbotene Veranstaltungen werden gerichtlich erlaubt und dürfen trotz massiver Auflagenverstöße durchgeführt werden. Aber vielleicht habe ich den Punkt einfach nicht verstanden. Um die angebliche Ungleichbehandlung zu verdeutlichen, wird gerne der Vergleich mit den Aktivist*innen für Klimaschutz oder ein menschenwürdiges Asylrecht bemüht. Wie absurd.

Die einen nämlich haben sich nach einer kritischen Auseinandersetzung mit Fakten entschlossen, sich für ihre Umwelt und ihre Mitmenschen einzusetzen, auch wenn die Probleme abstrakt sind, leicht zu ignorieren wären und deren Lösung durchweg mit einem persönlichen Verlust an Komfort verbunden ist. Bei den Querdenker*innen dagegen gibt es nur affektiertes Bellen gegen alles, was sich nicht den eigenen Wunschwelten andient. Sie sind idiotes im Sinne der griechisch-antiken Philosophie, die nichts außer ihre eigene, geistige Scholle interessiert. Nur leider bleiben sie nicht auf dieser, sondern wollen der Welt ihr beschränktes Wesen aufzwingen. Und falls Menschen sich jetzt schon wieder beleidigt fühlen – was offensichtlich mehr wiegt als Intensivstation und Tod: „Idiot*innen“ müssen nicht ungebildet sein, im Gegenteil. Man lese dazu den „Jargon der Eigentlichkeit“ von Theodor W. Adorno.

Und gerade weil die Querdenker*innen mündige Menschen im rechtlichen Sinne sind, jede Möglichkeit zur Reflexion ihrer Handlungen haben und eben keine verwirrten Bürgerlein darstellen, die man wieder paternalistisch auf den richtigen Weg schubsen könnte, müssen auch der Gehalt ihrer Aussagen, ihre Handlungen und die Wahl ihre Allianzen ernst genommen werden. Nur eben anders, als sie das gerne hätten.

Auf der jüngsten Corona-Demonstration in Berlin. Foto: Enno Lenze/flickrcc unter CC-BY-NC 2.0

Man muss ihre Entscheidung ernst nehmen, sich lieber mit expliziten Nazis zusammen zu tun, als ab und zu ein kleines Stück Stoff zum Schutz ihrer Mitmenschen (und sich selbst) zu tragen. Man muss ernst nehmen, dass ihre favorisierten Politiker*innen Menschen vom Schlage eines Putins und eines Trumps sind, sie sich aber gleichzeitig über eine vermeintlich autoritäre Regierung beschweren. Man muss ernst nehmen, dass sie eine globale Gesundheitskrise, die weltweit bereits mehr als eine Million Menschenleben forderte (Stand: 08.10.2020) und zahlreiche Genesene mit lebenslangen Folgeschäden zurücklässt, nur deshalb nicht ernst nehmen, weil sie sich persönlich offensichtlich nicht (mehr) in Gefahr wähnen. Und man muss ernst nehmen, dass die Hygiene-Demos erst in dem Moment ihre stattliche Größe angenommen haben, als die Infektionszahlen deutlich zurückgingen und die Bundesrepublik aufgrund der „Corona-Diktatur“ so glimpflich davon gekommen war, wie nur wenige andere vergleichbare Länder dieser Welt.

Wie kam jemand überhaupt darauf, dass dieses Sammelsurium aus Esoteriker*innen, Verschwörungsmythiker*innen, Schön-Wetter-Hippies, Rechtsextremen und Wohlstandsverwahrlosten eine irgendwie plurale Bewegung mit zumindest teilweise gesellschaftsrelevanten Anliegen ist? Weil manche Seitenscheitel und manche Dreadlocks tragen? Weil manche in Vorstadtvillen und andere auf arischen Reformbauernhöfen leben? Weil sie in Wort und teilweise Tat von Meisterdenker*innen wie Michael Wendler, Dieter Nuhr, Xavier Naidoo, Til Schweiger, Eva Herman und Sido unterstützt und angefeuert werden? Oder weil es einfach bequemer ist, sich nicht mit Leuten anzulegen, die man vielleicht noch als Abonnent*innen, Kund*innen oder Wähler*innen gewinnen kann, indem man sie mit dem Verweis auf ihre „berechtigten Sorgen“ proaktiv umschmeichelt? Nein. Mental könnten die Corona-Rebell*innen monolithischer nicht sein. Neben allgegenwärtigem, ideologischem Kitt wie dem impliziten und expliziten Antisemitismus, vereint sie alle vor allem eines: pathologische, narzisstische Asozialität.

Ernst nehmen, nicht Rücksicht nehmen

Und damit wären wir auch bei den Konsequenzen, die ein „Ernstnehmen“ im Sinne einer Rücksichtnahme oder auch nur wohlwollendes Tolerieren einer solcher Bewegung mit sich bringen: Auf Lesbos spielt sich gerade eine unglaubliche, menschliche Katastrophe ab, weil ein Flüchtlingslager ausgerichtet auf 2.600 Kurzzeit-Insass*innen mit 13.000 Menschen auf unbekannte Zeit vollgestopft wurde. Dass diese Menschen dort überhaupt so lange vegetieren, bedingt sich einzig und allein in der Rücksicht auf die Gemütslage „besorgter Bürger*innen“, die nichts anderes gegen die Aufnahme von Flüchtlingen hervorzubringen haben als das, was sie auch gegen die wahrlich moderaten deutschen Infektionsschutzmaßnahmen vorbringen: „Das mag ich nicht!“

Der Rücksicht auf diese antizivilisatorische Egomanie ist es geschuldet, dass die Europäische Union mit ihren 513 Millionen Einwohner*innen sich unwillig zeigt, nicht einmal 20.000 Menschen von einer Insel zu holen und dass sogar die lächerliche Aufnahme von ein paar hundert Jugendlichen überhaupt besprochen werden muss. Dass nun auch noch die Schuld für das gegenwärtigen Desaster tatsächlich den Verzweiflungsbrandstifter*innen gegeben wird, die wohl aufgrund der ersten Corona-Infektionen im Lager ihre Überlebenschancen ohnehin nicht mehr sonderlich hoch einschätzten, atmet zutiefst den Geist der Querdenker*innen. Man kann es auch anders sagen: Wer den Querdenker*innen hehre Motive unterstellt, setzt Leben aufs Spiel.

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