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Wissenschaft und Forschung

„Richard Mead war ‚der Drosten‘ des 18. Jahrhunderts“

Vor 300 Jahren schon einmal: Seuchen und Verschwörungstheorien – Ein wenig bekannter historischer Fall zeige „verblüffende Parallelen zu heute“, sagt der Historiker André Krischer und meint: „Richard Mead war ‚der Drosten‘ des 18. Jahrhunderts“, so Krischer.

Vor 300 Jahren schon einmal: Seuchen und Verschwörungstheorien – Ein wenig bekannter historischer Fall zeige „verblüffende Parallelen zu heute“, sagt der Historiker André Krischer und meint: „Richard Mead war ‚der Drosten‘ des 18. Jahrhunderts“, so Krischer.

Druckgraphik von der Pest in Marseille, die die Bedrohung durch die Seuche auch international bekannt machte, Stich von Jacques Rigaud nach einer Vorlage von Michel Serre, 1720. Bild: Wikimedia Commons

„Es war kaum zu fassen: Die Pandemie rückte bedrohlich näher, und die Opferzahlen aus Frankreich klangen erschreckend. Die Regierung hatte deswegen, beraten von ihren Experten, umfangreiche Quarantäne-Maßnahmen beschlossen. Man war sogar bereit, massive wirtschaftliche Einbußen in Kauf zu nehmen und den Handel fast zum Erliegen zu bringen, wenn sich auf diese Weise Infektionen verhindern ließen. Und trotz all dieser für die Regierung und ihre Experten so rational erscheinenden Maßnahmen gab es Leute, die darüber unglaubliche Geschichten erzählten: Infizierte sollten entweder in ihren Häusern festgesetzt oder aber zwangsweise in Quarantänezentren überstellt werden. Familiäre Bindungen sollten keine Rolle spielen, wenn es darum gehe, Gesunde und Kranke voneinander zu trennen. Notfalls sollte das Militär im Inneren eingesetzt werden und jede Bewegungsfreiheit unterbinden. Es sei daher doch klar, worum es hier gehe: Die Errichtung einer Willkürherrschaft“, schildert der Historiker André Krischer die Lage im Königreich Großbritannien am Anfang des 18. Jahrhunderts.

Verschwörungstheoretiker*innen, die nicht an die Pandemie glauben: Das gab es vor genau 300 Jahren schon einmal. „Als 1720 in Marseille die Pest ausbrach, ergriff England umfassende Quarantänemaßnahmen und provozierte damit hitzige Debatten mit verschwörungstheoretischen Zügen. Der noch wenig bekannte historische Fall zeigt verblüffende Parallelen zum heutigen Deutschland“, schreibt der Historiker André Krischer vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster in einem Beitrag „Willkürherrschaft und Strafe Gottes: Wie eine Epidemie schon einmal zu Verschwörungstheorien und religiösen Bestrafungsphantasien führte“.

„Wo heute auf ‚Corona-Demos‘ gegen eine ‚Neue Weltordnung‘ unter Führung von Bill Gates gewettert wird, kursierten damals Gerüchte über dunkle Machenschaften der Regierung. Es hieß, sie werde Freiheiten beschneiden, Militär im Land einsetzen und Familien voneinander trennen“, so Kirschner weiter. Kritiker*innen hielten jede Prävention für unnötig. „Manch einer meinte gar, die Seuche könne den Briten überhaupt nichts anhaben.“ Dass Seuchenprävention Verschwörungstheoretiker*innen auf den Plan ruft, wiederholt sich laut Krischer in der Geschichte: „Paranoide Angst vor dem Errichten einer Diktatur, Sorge vor wirtschaftlichem Einbruch und ein Naturwissenschaftler im Zentrum der Kritik – die englische Debatte aus dem 18. Jahrhundert ähnelt auch in dieser Hinsicht unserer Gegenwart.“

Dass sich die Gemüter im 18. Jahrhundert gerade in England erhitzten, sei kein Zufall, wie der Historiker ausführt. „London hatte schon 1720 eine sehr selbstbewusste Öffentlichkeit mit Kaffeehäusern und einer einzigartig vielfältigen Presse- und Medienlandschaft, die von keiner Zensur mehr reglementiert wurde.“

Zudem hätten Verschwörungstheorien in England, das damals unter dem Platzen der größten Spekulationsblase der Frühmoderne litt, eine lange Tradition: „Man dachte ständig in verschwörungstheoretischen Kategorien: Entweder fürchtete man sich vor der Unterwanderung durch ‚Papisten‘, also Katholiken, oder man unterstellte den jeweils Herrschenden, ein Arbitrary Government, eine Willkürherrschaft, errichten zu wollen.“ Auch auf religiöser Seite bestritt man die Maßnahmen der Regierung, so Krischer. Die Pest sei eine Strafe Gottes, besonders für London, diesen Sündenpfuhl der Ungläubigen, hieß es von den Kanzeln. Gegen die Seuche helfe nur Fasten, Beten, Buße und die gefasste Vorbereitung auf den Tod.

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Richard Mead – „der Drosten“ des 18. Jahrhunderts

Zur Zielscheibe der Debatte wurde 1720 – ähnlich wie heute der Virologe Christian Drosten – ein Arzt, Richard Mead (1673-1754), so Krischer. Diesem misstrauten viele Zeitgenoss*innen aufgrund seiner strikten Empfehlungen zum Eindämmen der Pest, auch wegen seiner Nähe zur Politik und, anders als im heutigen Fall, seiner Religion, denn Mead war Quäker und nicht Anglikaner. „1720 wurde über den Sinn von Quarantäne gestritten, weil es noch viele Mediziner gab, die die Pest nicht für ansteckend hielten. 2020 schloss man Schulen und Kitas, während noch darüber gestritten wurde, ob Kinder überhaupt relevante Überträger des Corona-Virus seien.“

Offenbar lasse sich umso leichter ein „Skandal“ aus etwas machen, „wenn wissenschaftlich unsichere Expertisen politische Relevanz erlangen und zugleich mit Personen identifiziert werden können, mit dem Virologen Christian Drosten 2020 und dem Epidemiologen Richard Mead 1720/21“, so der Historiker. Allerdings sei der „Resonanzraum“ für „Lügen und Falschnachrichten“ sowie Verschwörungstheorien in der Bevölkerung in beiden Fällen rasch wieder kleiner geworden. „Epidemien sind Stresstests für Gesellschaften und können bestimmte diskursive Muster verstärken.“

Ausführlich arbeitet Krischer den historischen Fall und strukturelle Ähnlichkeiten zur Gegenwart in dem Beitrag „Willkürherrschaft und Strafe Gottes“ im „Epidemien“-Dossier auf der Website des Exzellenzclusters auf. Er schildert sie anhand vielfältiger Quellen und Begebenheiten, etwa einer Flugschrift des Bischofs von London, Edmund Gibson (1669-1748), der grassierende „Lügen und Falschnachrichten“ unter seinen Zeitgenossen verurteilte. In einem weiteren Beitrag schreibt Krischer gemeinsam mit den Fachkollegen Prof. Dr. Wolfram Drews und Dr. Marcel Bubert über die lange Tradition von „Verschwörungstheorien als Elitenkritik“.

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