Kommentar
„Ich glaube an die Kraft der Aufklärung“
Das war eine Sternstunde im Bundestag: In ihrer bisher wohl emotionalsten Rede hat Bundeskanzlerin Angela Merkel kurz und knapp wie nur selten verdeutlicht, warum sie zur Hauptgegnerin der reaktionären Kräfte in Deutschland geworden ist. Ein Kommentar.
Das war eine Sternstunde im Bundestag: In ihrer bisher wohl emotionalsten Rede hat Bundeskanzlerin Angela Merkel kurz und knapp wie nur selten verdeutlicht, warum sie zur Hauptgegnerin der reaktionären Kräfte in Deutschland geworden ist. Ein Kommentar.
Sätze, die in die Geschichtsbücher gehören, kommen in politischen Debatten durchaus vor. Alltäglich sind sie trotzdem nicht. Gestern war wieder so ein Tag. 41 Worte, in zwei Sätzen, für ein eindeutiges Bekenntnis. Mit dem die deutsche Bundeskanzlerin sich wieder einmal als Ausnahmepersönlichkeit bewiesen hat. Und die durch ihre fünfzehnjährige Dienstzeit als Regierungschefin nicht ernsthaft bestreitbar historisch geworden ist. Als Ikone gegenüber demokratiezersetzenden Machtmännern wie Donald Trump, Viktor Orban, Bernd Höcke.
Nach weit über einer Million registrierter Sars-CoV2-Infektionen in Deutschland, mehr als 20.000 Todesfällen und ständig neuen Höchstständen bei den Fallzahlen zeichnete Angela Merkel während der Generaldebatte erneut die klare Trennlinie zu den reaktionären und faktenverdrehenden Kräften in Deutschland und dem Rest der Welt.
In der vielleicht emotionalsten, flehenden Rede stellte sie anlässlich von Einwürfen der AfD, die die Tatsache der Coronavirus-Infektion durch Mensch-zu-Mensch-Kontakte bestreiten wollten, nicht nur unmissverständlich klar, dass die Leugnung wissenschaftlicher Fakten aus ihrer Sicht ein Tabu ist. Sie vollzog zugleich eine Einordnung des kulturellen Wertes der Wissenschaften und der wissenschaftlich informierten Bildung für die Zivilisierung und Entwicklung unseres Kontinents während der letzten Jahrhunderte. Die deutsche Bundeskanzlerin sagte:
„Ich glaube an die Kraft der Aufklärung. Dass Europa heute dort steht, wo es steht, hat es der Aufklärung zu verdanken und dem Glauben daran, dass es wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, die real sind und an die man sich besser halten sollte.“
Die #AfD bestreitet während der Rede von #Merkel, dass Infektionen durch Kontakte zwischen Menschen entstehen. Merkel zieht danach eine präzise Trennlinie zur AfD: Es geht um Aufklärung vs Wissenschaftsleugnung. #Generaldebatte #Bundestag pic.twitter.com/IZm6zSJuAx
— Johannes Hillje (@JHillje) 9. Dezember 2020
Ich frage mich: Hat Angela Merkel ein neues ceterum censeo geschaffen? Gar ein humanistisches ceterum censeo, das – würde es zum Abschluss aller politischen Debattenbeiträge wiederholt – für mich zweifellos die Kraft hätte, das politische Denken und Handeln positiv zu verändern.
„Ich glaube an die Kraft der Aufklärung. Dass Europa heute dort steht, wo es steht, hat es der Aufklärung zu verdanken und dem Glauben daran, dass es wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, die real sind und an die man sich besser halten sollte.“ So die Bundeskanzlerin Angela Merkel am 9. Dezember 2020 in Berlin.
Kenner*innen der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule mögen jetzt zwar die Augenbrauen hochziehen, doch keineswegs soll hier gemeint sein, dass die Aufklärung, ein Begriff des westlichen Kulturkreises, selbst keiner kritischen Überprüfung und Bewertung bedarf. Auch die „Aufklärung“ hat keine ganz reine Weste, und ihre Schattenseiten und dunklen Momente aufzuarbeiten, gehört zum Wesen eines kritischen, sozusagen aufgeklärten und modernen, Verständnisses von Aufklärung, dem die Ambivalenz menschlicher Fähigkeiten bewusst ist.
Ob die Worte der Bundeskanzlerin zum mir willkommenen, neuen ceterum censeo werden, oder ob sie, wie ich mir wünsche, in Geschichtsbüchern (oder wenigstens Wikipedia) verewigt werden, kann jetzt freilich noch nicht sicher gesagt werden. Ein anderer vor fünf Jahren geäußerter Satz ist es jedenfalls schon, und dieser hatte zweierlei ausgelöst: Zum einen hatte er nicht weniger als die gestrigen Worte verdeutlicht, dass in der unbestreitbar rational denkenden und besonnenen deutschen Regierungschefin eine ansehnliche Menge humanistischen Denkens zu finden ist. Zum anderen hat er sie zum obersten Feindbild anti-humanistischer Kreise gemacht. Angela Merkel sagte damals angesichts des wachsenden Stroms von Flüchtenden aus Syrien und anderen Krisenstaaten: „Wir schaffen das!“
Der Satz ist oft zitiert worden, doch ebenso wie zu ihrem humanistischen ceterum censeo in spe, äußerte sie vor fünf Jahren noch einige weitere Worte: „Ich sage ganz einfach: Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das! Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden.“
Die humanitäre Haltung war auch hier unmissverständlich deutlich geworden, doch Kenner*innen des humanistischen Philosophen Karl Poppers fiel es leicht, auch den letzten Satz zu interpretieren: Alles Leben ist Problemlösen. Vielleicht lohnt es sich, diesen Satz einem humanistischen ceterum censeo noch voranzustellen.
Es könnte sein, dass der Höhepunkt der Coronavirus-Pandemie im nächsten Jahr überwunden wird und die Verbreitung des Virus dank Vakzinen, zu dem der Molekularbiologe und Autor Martin Moder übrigens ein sehenswertes Erklärvideo veröffentlicht hat, so weit zurückgedrängt werden kann, dass ein „normales“ öffentliches und privates Leben wieder möglich wird.
Eines ist aber sicher. Es wird das letzte Jahr mit einer Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ob ihr eine Person im Amt folgt, die zu gebotener Stunde stets eine humanistischere Haltung an den Tag legen wird als es die ostdeutsche Physikerin, Pfarrers- und Lateinlehrerinnentochter von Weltrang zuletzt gestern getan hat, muss derzeit leider bezweifelt werden.
Ich schließe darum so: Alles Leben ist Problemlösen. Ich glaube an die Kraft der Aufklärung. Dass Europa heute dort steht, wo es steht, hat es der Aufklärung zu verdanken und dem Glauben daran, dass es wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, die real sind und an die man sich besser halten sollte. Wir schaffen das!