ANZEIGE
Social Media
Lorem ipsum
ANZEIGE

Coronakrisen-Tagebuch

Küsschen-Küsschen auf dem Prüfstand

Maske und Abstand machen derzeit Küsschen-Küsschen links und rechts und mittig beinahe unmöglich. Das kann auch manch gute Seiten haben.

Bild: 123RF Stock Photo / nicoletaionescu

Von Frank Stößel, Würzburg

Des einen Leid, des anderen Freud‘, sind Covid-9-bedingte Hygieneregeln wie die Desinfektion der Hände, Distanz halten und Gesichtsmaske tragen. Maske und Abstand machen derzeit Küsschen-Küsschen links und rechts und mittig beinahe unmöglich. Es sei denn, die trocken bis feuchte Art der Begrüßung geschieht unter Familienmitgliedern eines Haushaltes und am besten nicht in der Öffentlichkeit.

Die Angst, sich für Küsschen-Küsschen ausweisen zu müssen, um nicht zur Kasse gebeten zu werden, hemmt das in westlich geprägten Kulturen bekannte Begrüßungsritual in der Begegnung mit Verwandten und Freunden. Der nonverbale Austausch auf Nähe soll ja eigentlich Freude, Zuneigung und Frieden auf beiden Seiten erzeugen, ruft in der aktuellen Pandemiezeit zuweilen aber Furcht und Schrecken vor Ansteckung hervor. Wie müssen Menschen leiden, die sich frisch verliebt haben und den nächsten Schritt konsequent wagen wollen, aber nicht dürfen sollen?

Ein ähnliches Dilemma bearbeitete ich jüngst während eines morgendlichen Klartraumes, während dessen ich mich selbst beobachtete und das Geschehen lenkte, bevor ich mich im Bett aufsetzte, um sogleich meiner Frau davon zu erzählen: Ein verliebtes Paar wollte es mit allem Drum und Dran tun. Sich ihres frivol gesinnten Tuns bewusst werdend, näherten sich nur ihre ausgestreckten Zeigefinger, so dass der gewisse Funke nahezu berührungslos übersprang wie bei der Erschaffung Adams durch Gott im berühmten Bildnis Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle zu Rom. Dazu erklang die Melodie der Volksballade „Es waren zwei Königskinder“, die bekanntlich „nicht beisammen kommen konnten, weil die Wasser viel zu tief waren“. Diese rührselige Untermalung des Traumgeschehens empfand ich irgendwie passend und beruhigte mich in dem Bewusstsein, dass ich träumte, und alles sei gut.

In dieser Weise sich selbst vergewissernd, erwacht man gerne fröhlich aus einem Traum, der verliebten Singles aus getrennten Haushalten wie ein Albtraum vorkäme. „Denn Küsse bergen ein hohes Ansteckungsrisiko“, so Georg-Christian Zinn, Direktor des „Hygienezentrums Bioscientia“. Wer glaube, Sex ohne Küssen tue das nicht, sei auch nicht auf der sicheren Seite, da „jede Körperflüssigkeit das Virus überträgt“.

ANZEIGE

Als Opi mit 75 und in ehelicher Gemeinschaft seit 53 Jahren habe ich es eigentlich gut. Wir dürfen, müssen aber nicht. Ich erinnere mich gerne, Sie wissen schon woran, und denke voller Mitgefühl an die jungen Menschen um mich herum in Familie und Freundeskreis, die gerne wollen, aber nicht sollen dürfen. „Trotz sexueller Kontakteinschränkungen wird es in neun Monaten einen Corona-Babyboom geben“, hieß es in den Medien schon im April und auch: „Kondome können beim Sex ein angemessener Schutz vor Ansteckung in der Corona-Krise sein, kontaktlose Dating-Apps erleben einen Boom und die Verkaufszahlen von Sex-Toys steigen weltweit an.“

Nach meiner Traumschilderung gegenüber meiner Frau hatte ich bereits die Idee, das Geträumte in einem Text über das Küssen in Zeiten von Corona zu verarbeiten. Beim ersten Blick in unsere Regionalzeitung Main-Post war ich ein wenig enttäuscht, denn dort war mein Thema mit dem Aufmacher „Der Kuss kriegt die Krise“ bereits vorweggenommen mit der Frage „Wird man jemals wieder unbeschwert jemanden küssen, den man noch nicht allzu gut kennt?“ und der Meinung der Sexualtherapeutin Heike Melzer: „Beim Küssen öffnet sich nicht nur der Mund, sondern auch das Herz und die Seele.“ Da könnte einem ja angst und bange werden, wenn es darum ginge, beim Face-to-face-Dating heraus zu bekommen, ob man sich gegenseitig trauen, geschweige denn „Liebe machen“ kann. Doch die Therapeutin gibt sogleich Entwarnung, den Kuss würde es immer geben, man werde nur bewusster mit ihm umgehen.

Genau das bestätigte uns ein Freund beim infektionsgeschützten Spaziergang: „Corona ist schrecklich, keine Frage. Was ich aber gut daran finde, ist, dass ich Umarmungen und Küsschen-Küsschen von Menschen, die ich eigentlich nicht so sehr mag, nicht mehr hinnehmen muss. Genau das werde ich nach der Corona-Krise beibehalten.“ Dem konnte ich einiges abgewinnen. Was haben mich und ich schon Menschen umarmt und gebusselt, obwohl mir nicht danach war. Ich hatte es um des lieben Friedens willen hingenommen. Es wäre mir noch viel unangenehmer gewesen, erklären zu müssen, warum ich das neuerdings nicht mehr möchte. Mir fielen Begegnungen ein, bei welchen man sich gar nicht mehr in die Augen sah, sondern gleich in die Arme fiel, nur um das eingespielte Ritual herzlos hinter sich zu bringen.

Doch zu meinem Glück kamen mir meine Kinder und Enkel, meine Verwandten, Freundinnen und Freunde in den Sinn, die ich natürlich gerne umarmen und je nach Nähe auch abbusseln möchte. Aber nach der langen Abstinenz gewohnter Begegnungen werde ich zuerst ihre beiden Händen ergreifen, ihnen in die Augen schauen, mich dieses Anblicks erfreuen und erkennen, ob es auch mehr sein darf.

Unser
humanistisch!er Newsletter

Lassen Sie sich kostenfrei über neue Artikel auf dem Laufenden halten.
Jetzt abonnieren:
Anmelden
Kommentarbereich ausklappen

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Vielgelesen

Unser
humanistisch!er Newsletter

Lassen Sie sich kostenfrei über neue Artikel auf dem Laufenden halten.
Jetzt abonnieren:
Anmelden
close-link