Panorama
Pizza, pronto! Was Pizza mit Weltpolitik zu tun hat
Wussten Sie, dass Wladimir Putin wohl recht häufig an Pizza denken muss, genauer: an ein Pizzastück? Mit diesem kulinarischen Exkurs führt Tim Marshall ein in die Welt der Geopolitik.
Wussten Sie, dass Wladimir Putin wohl recht häufig an Pizza denken muss, genauer: an ein Pizzastück? Damit führt Tim Marshall in sein überaus erhellendes Kapitel zu Russland ein. In „Die Macht der Geographie. Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt“ sind es genau diese Momente, in denen der Autor so gut geopolitische Zusammenhänge erklärt, dass man wünschte, das Buch würde nicht schon nach 300 Seiten enden.
Also, was hat es mit diesem Pizzastück auf sich? Marshall meint damit die nordeuropäische Tiefebene an der nordwestlichen Flanke Russlands. Sie macht das Riesenreich verwundbar, und tatsächlich wurde es von dort aus schon mehrfach angegriffen, was sich tief im russischen Gedächtnis eingegraben hat. Allerdings verfügt Russland gleichermaßen über „strategische Tiefe“, was sowohl Napoleons Grande Armée als auch den deutschen Invasoren zum Verhängnis wurde, als sie sich aufmachten, nach Moskau zu marschieren: Irgendwann reißen die Nachschublinien ab. Mit dieser Auffassung von außenpolitischer Bedrohung erklärt sich dann auch, weshalb Putin den Zerfall der Sowjetunion „als größte geopolitische Katastrophe“ bezeichnet.
Dabei sind es meist mehrere Faktoren, die Geopolitik ausmachen, wie etwa im Falle der Ukraine und der Krim nicht unerheblich war, dass Russland (zum Leid von Militär und Handel) keine eisfreien Häfen hatte. Jetzt aber schon: Mit Sewastopol besteht nicht nur ein ganzjährig schiffbarer Hafen, sondern genauso gut ein – wenn auch vorläufig nur theoretischer – Zugang zum Mittelmeer.
Welche mächtige Rolle Minderheiten spielen können beziehungsweise wie sie instrumentalisiert werden, wird – man denke an die Separatist*innen im Donezbecken – am Beispiel der Ukraine aber auch in Bezug zu China klar. Denn mittlerweile leben viele chinesische Staatsbürger*innen im schwach besiedelten Sibirien. Marshall stellt die Vermutung an, dass China dort nicht nur größeren Einfluss auf, sondern möglicherweise sogar die Kontrolle über einige Gebiete erlangen könnte. Denn Russland schafft es nicht, den schwach besiedelten Osten des Landes ausreichend mit Energie und Transportwegen zu versorgen.
Wo Geografie dem Menschen Grenzen setzt
In unserer Zeit haben wir häufig den Eindruck, Technologie überbrücke mühelos Zeit und Raum. Doch scheitert Technologie, und mit ihr oft genug die Politik, noch immer an Bergen und Wüsten, an Klima, Demografie, Kultur und Zugang zu natürlichen Ressourcen. Jede neue Generation von Politiker*innen steht erneut wie der sprichwörtliche Ochs vorm Berg, dem Hindukusch oder dem unüberwindbaren Himalaya (der nebenbei bemerkt dafür sorgte, dass Indien und China sich nicht ernster ins Gehege kamen). Marshall bestreitet dennoch nicht, dass der Mensch an vielen anderen Stellen Spielräume, Ideen, Einstellungen und die nötige technische Ausstattung hat, um die Erde nach seinem Bild zu formen.
Dennoch stößt Geopolitik, die „als komplex zu bezeichnen noch untertrieben wäre“ (Florian Gossy im Stern), an ihre Grenzen. Wo der Mensch eingreifen konnte, erwiesen sich seine Entscheidungen nicht immer als Glücksgriffe, denken wir zum Beispiel an die Sykes-Picot-Linie im Nahen Osten. Ohne Rücksicht auf topografische oder kulturelle Gegebenheiten teilten die Kolonialmäche Frankreich und Großbritannien ehemals osmanisches Herrschaftsgebiet untereinander auf, mit auch heute noch massiven Problemen.
Tim Marshall: „Die Macht der Geographie. Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt“. Aus dem Englischen von Birgit Brandau. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2016, 301 Seiten, 12,90 Euro.
In zehn Kapiteln umrundet Tim Marshall einmal den Globus (wobei er bedauert, einige Gebiete im Buch nicht bearbeitet zu haben) und erklärt, welche geographischen Gegebenheiten Russland, China, die USA, Europa, Afrika, Lateinamerika, den Nahen Osten, Indien und Pakistan, Japan und Korea, die Arktis und Grönland bestimmen. Er beantwortet dabei zugänglich und flüssig komplexe Fragen: Fruchtbare Böden, schiffbare Flüsse und zwei Ozeane ermöglichten den schnellen Aufstieg der USA. Südkorea lebt in dauernder Angst, weil Seoul leicht von nordkoreanischen Raketen erreicht werden kann. Großbritannien führte einen erbitterten, jahrelangen Krieg mit Argentinien um die Falklandinseln, weil dort große Ölvorkommen lagern.
In ähnlichem Stil geht es weiter, und obwohl er doch ein Sachbuch geschrieben hat, gelingt es Tim Marshall tatsächlich, Spannung aufzubauen – herausgekommen ist gewissermaßen ein Krimi der Geopolitik. Der Autor arbeitet sehr gut heraus, wie die Topografie in der Geschichte der Menschheit „mal geschickt genutzt, dann wieder schicksalhaft ignoriert wurde“ (Oliver Gehrs, Fluter). Insbesondere politisch und geografisch interessierte Leser*innen werden das Buch nicht mehr weglegen wollen.