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Demokratien unter Belagerung
Drei Vorschläge, sinnvoll mit der neuen Krise in den internationalen Beziehungen umzugehen.
Drei Vorschläge, sinnvoll mit der neuen Krise in den internationalen Beziehungen umzugehen.
Schon Ende Februar war klar: Der Schaden, den Wladimir Putin mit seinem Angriffskrieg auf die Ukraine verursacht, geht weit über die Verwüstungen hinaus, die seine Truppen im Land anrichten. Vier Wochen später deuteten Meldungen zwischen den vielen Schlagzeilen zum neuen Krieg an, warum. Der März 2022 war der sonnigste seit Beginn der Aufzeichnungen, große Teile Deutschlands von Bodendürre betroffen. Den für europäische und andere Staaten weltweit erheblichen Ernteausfällen in der Ukraine könnten sich weitere hinzugesellen, so die begründete Sorge. Expert*innen betonten zwar, dass dies erstmal nur eine Wetterlage sei, deren Ursache nicht sicher im menschengemachten Klimawandel zu sehen sei. Doch der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands wird auf Monate hin viele andere drängende Themen überlagern – nicht nur das Riesenthema des menschengemachten Klimawandels. Der eben gerade nicht fragt, ob wir eventuell Zeit dafür hätten.
Kaum scheint also der Höhepunkt der einen Krise – die Pandemie – hinter uns zu liegen, steht die nächste bereits im Haus: Krieg in Europa. Und diese verdrängt abermals eine noch größere, die des Klimawandels. Während wir nun seit Wochen die Berichte über die Gräuel, die jeder Krieg bringt, lesen oder hören, stellt sich mir die Frage: Welche Möglichkeiten bieten sich, sinnvoll mit dieser neuen Krise in den internationalen Beziehungen und dem ersten Krieg in Europa seit 30 Jahren umzugehen? Ich sehe in aller Kürze drei.
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Fragen wir uns: Wie sind humanistische Haltungen zu Krieg und Frieden?
Hierzu erklärt die Oslo-Deklaration der Humanists International einleitend: „Viele Humanist*innen, von den Carvaka-Lehrern des alten Indiens bis zu Bertrand Russell und von den Epikureern im alten Europa bis zu Jawaharlal Nehru, haben hart für Frieden gearbeitet. Weil das individuelle menschliche Leben einen unersetzlichen Wert hat, alle Probleme, mit denen die Menschheit konfrontiert ist, im Hier und Jetzt gelöst werden müssen, und wir uns für die aktive Nutzung der menschlichen Vernunft und des Mitgefühls bei der Bewältigung dieser Probleme einsetzen, glauben wir: Alle Kriege werden von Menschen geführt und können dadurch beendet werden, dass Menschen zusammenarbeiten. Gewalttätige Konflikte sind enorm destruktiv, zerstören Leben, verschwenden Ressourcen und belasten die Umwelt. Manchmal ist dies vielleicht der einzige Weg, um größeren Schaden zu verhindern, aber es sollte immer das allerletzte Mittel sein, und wir sollten daran arbeiten, Kriege zu beenden.“1https://docs.humanistisch.net/oslo-deklaration/
Auch grundsätzlich friedfertige und pazifistische Haltungen sollten aus humanistischer Sicht also Grenzen kennen. Sehr prägnant auf den Punkt gebracht hat dies der Philosoph und Aktionskünstler Philipp Ruch. Er beruft sich auf sein Konzept des „aggressiven Humanismus“ und sagte: „Ich halte den rigorosen Pazifismus von Menschen, zumindest wenn sie Krieg nicht erlebt haben, für eine Form von Verantwortungslosigkeit oder Feigheit. Zwei Wochen vor dem Genozid von Srebrenica rief die Grüne Marieluise Beck im Bundestag dazu auf, die Zivilbevölkerung militärisch zu verteidigen. Dabei sprach sie einen Satz, dessen Weisheit die meisten Pazifisten nie verstanden haben: ‚Auschwitz wurde von Soldaten befreit‘.“ Und zu praktischen Details: „Der Humanismus soll sich nicht als Masse freundlich durch irgendwelche Straßen schleppen, sondern Pässe fälschen, Beamte bestechen und Büros besetzen. Der Kampf um die Menschenrechte geht im 21. Jahrhundert in eine neue Runde“, so Ruch.
Aktuelle Studien untermauern so eine Prognose. Nur noch 45 Prozent der Weltbevölkerung lebten 2020 in einer Demokratie, so der Bericht des Analyseunternehmens der renommierten Wochenzeitung The Economist. Ein Jahr zuvor waren es noch knapp 50 Prozent gewesen. Auch der Bericht des US-amerikanischen Instituts Freedom House stellte für das Jahr 2020 eine Verschlechterung fest, wie es sie seit 15 Jahren nicht mehr gegeben hat.
Zugleich hat der neue Krieg in Europa weitere grundsätzliche Fragen aufgeworfen. Denn klar ist, dass Putin längst nicht die gesamte Bevölkerung Russlands hinter sich hat. Was könnten freiheitliche Demokratien in Europa also tun, um diesen Konflikt und kriegerische Ambitionen per se zu entschärfen? Hier liegt eine Lösung auf der Hand: Wer zu einem Angriffskrieg gezwungen wird, sollte in freiheitlich, humanistisch geprägten Demokratien politisches Asyl erhalten. Viele junge Männer seien als Soldat*innen in der russischen Armee zwangsverpflichtet, ohne dass sie die Ziele von Putins Regime teilen oder unterstützen wollen, sagte hierzu im März der Vorstand der Humanistischen Vereinigung und Präsident der Europäischen Humanistischen Föderation, Michael Bauer. „Es steht uns gerade in Deutschland gut an, diese jungen Menschen nicht allein zu lassen. Einer verbrecherischen Armee den Rücken zu kehren und sich dem Morden zu verweigern, ist ein Zeichen großen Mutes und verdient unsere Hochachtung“, so Bauer weiter.
Trotz des völkerrechtswidrigen Angriffs der Russischen Föderation auf die Ukraine und dem unerträglichen Leiden ihrer Menschen verbieten sich also Schwarz-Weiß-Malerei und nationalistische Verallgemeinerungen. Denn bei weitem nicht alle Russ*innen sind Anhänger*innen Putins oder des von ihm geführten Krieges.
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Werfen wir einen Blick in das Seelenleben Russlands
Allerspätestens seit dem Vorgehen der russischen Regierung gegen den Oppositionspolitiker Alexei Nawalny ist klar, dass der postsowjetische Nachfolgestaat keine Demokratie (mehr) ist – und schon gar keine „lupenreine“. Schon seit Jahren macht Putin sein illiberales und autoritäres Staatsverständnis durch das konsequente Vorgehen gegen zahlreiche Oppositionsbewegungen und die Ausschaltung sämtlicher kritischer Stimmen überdeutlich. Doch nicht nur in demokratischer Sicht unterscheidet sich Russland erheblich von den Verhältnissen, wie wir sie im mittleren und westlichen Europa kennen. Auch weltanschaulich klaffen tiefe Gräben.
Denn ohne jahrzehntelang aufgebauten Rückhalt von Seiten der russisch-orthodoxen Kirche wäre Putins Krieg gegen Europa wohl nicht möglich geworden. Im Zusammenspiel mit staatlichen Medien stellt sie die Zustimmung zum Krieg bzw. die Zurückhaltung beim Protest gegen ihn sicher. Die russische Regierung stützt sich ökonomisch zweifellos auf die europäische Abhängigkeit von Energielieferungen aus Russland. Im gleichen Maß stützt sie sich ideologisch auf den Rückhalt der russisch-orthodoxen Kirche. Sie hat mit staatlicher Unterstützung in den letzten Jahrzehnten erheblich an Einfluss gewonnen. Tausende Kirchengebäude wurden nach dem Zerfall der Sowjetunion wiederöffnet, hunderte in bedeutenden Metropolen wie Moskau neu erbaut. Die Kirche selbst zählt inzwischen fast alle der 140 Millionen Einwohner*innen umfassenden russischen Bevölkerung als ihre Mitglieder, auch wenn das gar nicht stimmt. Der Moskauer Patriarch Kyrill I., Oberhaupt der Kirche, bezeichnete in einer Predigt am 6. März dieses Jahres die Gegner*innen Russlands als „Kräfte des Bösen“ und rechtfertigte den russischen Angriff auf die Ukraine damit, dass Putin das Land vor Gay-Pride-Paraden schützen wolle. Übrigens: Die russisch-orthodoxe Kirche in Bayern, deren Oberhaupt Kyrill I. ebenfalls ist, erhält vom Freistaat Bayern in diesem Jahr rund 38.000 Euro zur Förderung ihrer Gemeindearbeit.
„Die Re-Klerikalisierung ist ein politisches Werkzeug. Die Regierung hat es sehr schnell verstanden: Je größer der religiöse Einfluss in der Gesellschaft ist, umso einfacher ist es, diese Gesellschaft zu lenken. Vor allem in den Provinzteilen Russlands, wo es massiven Drogen- und Alkoholmissbrauch gibt, versucht man die Rolle der Kirche dominant werden zu lassen. Das funktioniert dann durch viele Projekte, wie z. B. den Bau von weiteren hunderten orthodoxen Kirchen und der Gründung von religiösen Vereinen, die Drogenabhängigen ihre Hilfe anbieten. Diese Projekte haben wirklich eine unglaubliche Wirkung. Die Kirche ist sehr regierungsnah und das gewonnene Vertrauen durch die Kirche garantiert neue Wähler*innenstimmen für die heutige Regierung“, berichtete die Russlanddeutsche und Mathematikerin Veronika Kuchta, die heute in Australien lebt, schon vor Jahren über ihre Beobachtungen seit Putins Amtsantritt. „Die Menschen in Russland haben leider nie gelernt, was es heißt, frei zu sein. Jahrzehntelange kommunistische Geschichte begleitet von vielen Repressionen hat die Menschen so sehr eingeschüchtert, dass auch die 90er Jahre das Verhalten und die Gewohnheiten der Menschen nicht richtig ändern konnten. Sie hatten wichtigere Sachen zu erledigen, als sich um ihre Weltanschauung zu kümmern. Die Menschen wussten nicht, was sie mit der neu erworbenen Freiheit anstellen sollten“, so Kuchta weiter. „Die Regierung hat schnell zwei Werkzeuge eingeführt, antiwestliche Propaganda und die Kirche mit den traditionellen Werten, um die Menschen zu beschwichtigen.“
Auch Vertreter*innen säkularer Organisationen in Russland bestätigten heute Kuchtas Einschätzung. Mit Verweis auf die harten Strafen für kritische Äußerungen gegen die Regierungspolitik bat der Präsident der Humanistischen Vereinigung Russlands, Yaroslav Golovin, um Verständnis, sich nicht öffentlich äußern zu wollen. Alexander Golomolzin, seit 2012 Leiter der säkularen „Stiftung für geistige Gesundheit“, sagte im Interview noch vor dem Krieg gegen die Ukraine: „Meiner Meinung nach ist es notwendig, den Lebensstandard und die Bildung zu heben. Säubern Sie den Schullehrplan von Religion. Der Religionsunterricht verwischt das Weltbild der Kinder. Aber das Problem liegt nicht allein im Religionsunterricht. Sie haben den gesamten Schullehrplan neugestaltet. In all diesen Fächern werden nach Möglichkeit religiöse Themen integriert: Russisch, Literatur, Musik, Bildende Kunst. In irgendeinem Lehrbuch der Biologie habe ich gesehen, dass die Evolutionstheorie neben Kreationismus und Panspermie eine der Hypothesen für die Entstehung des Menschen ist.“
Im März bat auch er nun um Verständnis, sich nicht öffentlich äußern zu wollen. Und das falle ihm nicht leicht. Am liebsten würde er das Land verlassen, sagt er, doch das war schon vor dem Krieg nicht möglich, solange er nicht als politische verfolgte Person in Gefahr um Leib und Leben sei. „Das Schwierigste ist jetzt, zu schweigen, weil man Angst um die Zukunft seiner Kinder hat. Wenn ich früher viel geredet habe, um eine bessere Zukunft für sie zu erreichen, muss ich jetzt schweigen“, schreibt Golomolzin.
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Frieden stiften, solidarisch sein, kritisch bleiben
Bundeskanzler Olaf Scholz hat nun als Reaktion auf Russlands Krieg in Europa einen 100-Milliarden-Etat zur Aufrüstung der Bundeswehr angekündigt. Militär und Rüstungsindustrie gehören – abermals das Stichwort Klimawandel – allerdings nicht nur zu den größten Emittenten von klimaschädlichen Gasen und Verursachern von Umweltschäden. Sie sind häufig auch riesige, verschwenderische Apparate, bei denen kritisch gefragt werden muss: Konnten und können die bestehenden Etats nicht effizienter eingesetzt werden, um eine Streitmacht mit qualifiziertem Personal und funktionierender Ausrüstung zu garantieren? 100 Milliarden könnten wir auch anderswo gut brauchen.
Die Journalistin und stellvertretende Vorsitzende des Willy-Brandt-Kreises Daniela Dahn vollzog zudem Ende März in einem lesenswerten Essay mit dem Titel „Frieden muss gestiftet werden“2https://heise.de/-6654673 beim Online-Magazin Telepolis nach, wie die Ukraine „nach und nach mit Waffenlieferungen und Nato-Manövern auf ukrainischem Territorium zu einem Defakto-Nato-Mitglied gemacht“ worden sei. „Der Blick auf diese Vorgeschichte bestärkt die Annahme, dass der Krieg bei achtsamerer Politik zu verhindern gewesen wäre. Heute destabilisiert Russlands erbarmungslose Kriegsführung ganz Europa und mit der unverantwortlichen Atom-Drohung womöglich gar den sowieso löchrigen Weltfrieden“, stellte Dahn fest. „Humanistische Anliegen dürfen gerade jetzt nicht dem Gefühl der Vergeblichkeit geopfert werden. Das Ende von Gewissheiten ist nicht das Ende von Orientierung an Normen“, so Dahn. Es gelten das Völkerrecht und die UN-Charta, „und zwar für alle“, betonte sie abschließend.
Der Plan der Bundesregierung, den Bezug von Energieträgern aus Russland herunterzufahren, ist sicherlich sinnvoll – doch wohl nur dann, wenn nicht Energieträger aus Staaten, deren Friedfertigkeit und menschenrechtliche Bilanz ebenso zweifelhaft ist wie die Russlands, den Ersatz stellen. Vielleicht sollten wir in den freiheitlichen, friedfertigen Demokratien uns also wirklich warm anziehen, um kriegerische Ambitionen per se zu entschärfen und so zu helfen, Frieden zu stiften. Nicht nur, um im privaten Rahmen steigende Energiepreise zu kompensieren, sondern auch um direkt dazu beizutragen, dass die sogenannten Rentierstaaten, deren Wirtschaft besonders stark auf dem Export fossiler Energieträger beruht, eine Grundlage für ihre oft menschenrechtlich und demokratisch teilweise bis stark defizitären Konstitutionen zu entziehen. An Russland sehen wir nun exemplarisch und fast vor der Haustür, welche Faktoren dazu führen können, Demokratien und demokratisch gesinnte Menschen der gewalttätigen Belagerung durch autokratische Regime auszusetzen. Und die eigentlich dringenden Probleme – Stichwort Klimawandel – rücken dadurch abermals in den Hintergrund.
Die humanistische Solidarität gilt nun allen Ukrainer*innen, die durch den Angriff Russlands sich in einem zerstörten Land wiederfinden, die geflüchtet und heimatlos sind. Und unsere Trauer gilt denen, die ihr Leben verloren haben, und dies eben nicht nur als unwiederbringliche, menschliche Individuen. Sondern als Mütter, Väter, Kinder, Familienangehörige, Freund*innen. Mit Hoffnungen, Träumen und Liebe zu anderen in ihren Herzen, die nun in den letzten Wochen abrupt und auf schreckliche Weisen zum Stillstand gebracht wurden.
Humanistische Solidarität verdienen aber auch diejenigen, die in Russland unter dem Antihumanisten Putin in Sorge um ihre Freiheit oder ihr Leben sich derzeit gezwungen sehen zu schweigen. Sie sitzen fest in einem Umfeld einer regimetreuen Bevölkerung, die an die Lügen der staatlichen Propaganda glaubt, und eines postsowjetisch orthodox-religiös durchwirkten Bildungs- und Kultursystems. Oder schlimmer: Als Oppositionelle inhaftiert oder bestraft mit der Verbannung in eines der berüchtigten russischen Straflager. Sie können nicht darauf zählen, dass sich ohne äußere Hilfe hieran bald etwas ändert – im Gegenteil: Während dieser Text fertiggestellt wurde, befand sich ein Gesetzentwurf mit dem Titel „Grundlagen der Staatspolitik – Über die Billigung der Grundlagen der Staatspolitik zur Erhaltung und Stärkung der traditionellen russischen geistigen und moralischen Werte“3https://regulation.gov.ru/projects#npa=123967 im Verfahren auf dem Weg zur Unterzeichnung durch den russischen Präsidenten. Im Abschnitt „Zu den Zielen der staatlichen Politik im Bereich der traditionellen Werte“ hieß es unter anderem: „Unterstützung der Beteiligung religiöser Organisationen traditioneller Konfessionen an Aktivitäten zur Bewahrung traditioneller Werte.“ Wenig Tage später war auch diese Website der russischen Regierung von Europa aus nicht mehr zu erreichen.
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