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Rezensionen

Zwar nur Schaum auf der Welle, aber hoffentlich klüger als Bakterien

Rezension zu David Attenborough: Ein Leben auf unserem Planeten. Die Zukunftsvision des berühmtesten Naturfilmers der Welt.

Rezension zu David Attenborough: Ein Leben auf unserem Planeten. Die Zukunftsvision des berühmtesten Naturfilmers der Welt.

Georg Büchner schrieb 1834 seiner Freundin, er fühle sich nach seiner Beschäftigung mit der französischen Revolution „wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte“ in der „der Einzelne nur Schaum auf der Welle“ sei. Ähnlich geht es all denen, die sich mit dem Zustand des Raumschiffes Erde im Anthropozän befassen.

Der britische Tierfilmer David Attenborough z. B. schaut aus dem Fenster der Appollo 8 auf den blauen Planeten und fragt sich „Wie viel mehr kann unser Planet noch aushalten?“ (S. 125). Und wie nur, so muss er sich gefragt haben, erzähle ich, wie es dem Planeten geht? Er entscheidet sich für ein interessantes Format: „Mein Buch ist ein Zeugnis der ‚Großen Beschleunigung’ aus der Ich-Perspektive“, erklärt er sein Anliegen (S. 122). Die Welle der humanen Selbstausrottung aus Perspektive eines menschlichen Schaumgasbläschens beschreiben? Ob das gut geht?

Einstiegs fand ich das Konzept nicht unbedingt überzeugend, denn Attenborough hat nie ein „normales“ Leben geführt und der Blick auf seine Biographie hat wenig von diesen „Ach, das kenne ich auch“-Momenten, die man bei der Lektüre von Biographien sonst gerne hat. Attenborough ist ein von frühester Jugend an gut vernetzter, mit viel Glück und Chuzpe ausgestatteter Mensch, mit dem sich Normalsterbliche kaum vergleichen können. Aber er hat in Zeiten gelebt, in die ganze politische Programme sich „again“ zurückwünschen, weil man behauptet, damals sei alles „great“ gewesen.

Wie sehr diese Zeiten aber vorbei sind, macht Attenborough schon zu Beginn eines jeden Kapitels fest. So sinkt der Anteil verbliebener Wildnis an der Erdoberfläche zu seinen Lebenszeiten von 66% (1937) auf 35% (2020) während die Weltbevölkerung in der gleichen Zeit von 2,3 Milliarden auf 7,8 Milliarden Individuen und der Kohlenstoff in der Atmosphäre von 280ppm2 auf 415 ppm2 angestiegen ist. Alles in einer Lebenszeit.

Wie aber können wir uns nun diese Welle vorstellen, auf der wir alle nur Schaum sind und die Attenborough „die große Beschleunigung“ nennt? Besonders der Begriff des exponentiellen Wachstums spielt hier eine Rolle, den wir im Zusammenhang mit der Corona-Epidemie ja schon besser kennen gelernt haben. Attenborough zeigt die dramatische Wirkung dieses Prinzips am Beispiel einer Bakterienpopulation in einer Petrischale auf.

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Wenn Bakterien in dieser Schale ideale Wachstumsbedingungen vorfinden, wachsen sie exponentiell als gelte das Motto „jede Bakterie für sich“ (S. 123). Ein solches Verhalten kann aber natürlich nicht gut ausgehen. „Wenn die Bakterien sich derart vermehrt haben, dass der Platz verbraucht ist, beginnt im gleichen Moment jede einzelne Zelle damit, jede andere Zelle zu benachteiligen.“ Am Ende ist die Petrischale „ein ganz anderer Ort“ geworden, dessen „Umwelt zerstört, heiß, sauer und giftig ist“ (S. 124).

Wer in der Geschichte der Bakterien in der Petrischale eine Parabel auf den Menschen im Raumschiff Erde erkennt, hat vollkommen Recht. Denn auch wir stehen in der exponentiellen Phase, die in eine Selbstvernichtung münden kann. Sie muss allerdings nicht in dieser Selbstvernichtung enden, weil Menschen (hoffentlich) klüger als Bakterien sind.

Menschen können ihre Lebensgrundlagen, ja sogar ihre Wertsysteme an neue Bedingungen anpassen. So berichtet Attenborough von Massai, denen es nicht mehr am Besitz eigener (landzerstörenden) Viehherden liegt, sondern die ihre Aufgabe darin sehen, Wildtierbestände zu schützen (S. 205f.). Auch die Fixierung auf ein reines Wirtschaftswachstum kann überwunden werden, wie Attenborough am Beispiel Neuseelands darlegt, wo ein neuer Wirtschaftsindex seit 2019 die tatsächlichen Bedarfe der Gesellschaft – „Profit, Menschen, Planet“ (S. 153) – beschreibt.

Wer sich an einem plastikübersäten Strand oder in einer vollgeparkten Innenstadt umschaut mag denken, dass wir – ähnlich wie die Bakterien – niemals aus der selbstzerstörerischen „Jeder für sich selbst!“-Phase herauskommen werden. Aber Attenborough zeigt, dass wir nicht nur Schaum auf der Welle unserer Zeit sind, sondern dass wir uns als vernunftbegabte Wesen unserem Schicksal entgegenstellen können. Allerdings nicht allein.

Attenboroughs Buch sind deswegen viele Leser*innen zu wünschen, damit es am Ende nicht eines Tages auf der Erde aussieht, wie in einer von Bakterien zerwohnten Petrischale: heiß, sauer und giftig.

David Attenboroguh
Ein Leben auf unserem Planeten – Die Zukunftsvision des berühmtesten Naturfilmers der Welt
Karl Blessing Verlag, München 2020
304 Seiten, gebunden
24 Euro (Kindle-Version 17,99 Euro)
ISBN 978-3896676917


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