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Spirou oder: Das Porträt eines jungen Pagen als Humanist

Spirou ist eine der bekanntesten Figuren der Comicwelt, er ist Page, Abenteurer und vor allem auch: Humanist. In einer herausragenden Tetralogie erzählt Zeichner Émile Bravo, wie Spirou dazu werden konnte.

Seit mehr als achtzig Jahren erleben der belgische Rotschopf Spirou und seine Freund*innen begeisternde Abenteuer. Mit einer überraschend ernsthaften Geschichte entführt uns der französische Zeichner Émile Bravo in die Zeit von Spirous Jugend – und schildert, wie inmitten der Wirren des zweiten Weltkriegs ein unscheinbarer Page zum humanistischen Helden wird.

© Carlsen Verlag

Es ist mehr als 80 Jahre her, da schuf der französische Zeichner Rob-Vel (eigentlich Robert Velter) eine der bekanntesten Figuren der Comicgeschichte: Spirou. Man mag nun darüber streiten, wie viel Autobiographisches in diese Figur floss, sicher aber ist, dass – so wie der Schiffsjunge Toto, den Rob-Vel 1937 erfand – Spirou einem Beruf nachgeht, den auch Rob-Vel selbst ausübte: Er ist Page. Rob-Vel begann seine berufliche Laufbahn im Londoner Ritz-Carlton, Spirous Karriere startet im fiktiven Brüsseler Hotel Moustic.

Mit dem Fortlauf der Serie geraten diese Anfänge etwas aus dem Blick. Als der junge belgische Zeichner André Franquin 1946 Spirou übernimmt, entwickelt sich dieser von einem schmächtigen, dafür aber gewitzten Kofferträger zu einem nicht weniger gewitzten Abenteurer, den es – Seit‘ an Seit‘ mit seinem Eichhörnchen Pips, dem irgendwie anarchischen Marsupilami und seinen Freunden Fantasio und Graf von Rummelsdorf – in alle Ecken der Welt verschlägt, der durch die Zeit reist und den Mond besucht. Obwohl er dabei stets die rote Uniform trägt: Page ist Spirou bei diesen Abenteuern längst nicht mehr.

Der Abenteurer als junger Tor

Zu ihren Anfängen kehrt die Serie erst nach der Jahrtausendwende zurück. 2010 erscheint in seiner deutschen Übersetzung der Spezial-Band „Operation Fledermaus“ des Autorenduos Yann und Olivier Schwartz. Hier ist er wieder, der Page Spirou, wie wir ihn aus seinen Anfangsjahren kennen, und doch erhält die Geschichte eine sehr düstere Volte: Der Page setzt sein Leben aufs Spiel für den Widerstand gegen die deutschen Besatzer, die rote Farbe seiner Uniform weicht einem militärischen Grün.

Noch ein Jahr vor Yann und Schwartz wiederum veröffentlicht der französische Zeichner Émile Bravo sein „Porträt eines Helden als junger Tor“. Wohl nie war die Serie ernster als hier, im Brüssel des Jahres 1939, wo ein naiver Page von den Ereignissen der Geschichte mitgerissen wird. Herzensgut erscheint Spirou, doch auch fast schon schmerzlich unbekümmert, manchmal fast: doof. Ein Tor eben. Vom Humor, der die Serie sonst ausmacht, ist wenig übrig. Die Farben sind blass und grau wie die Zukunft der Figuren, die der Comic zeigt. Schon zeichnen sich die Schrecken des Zweiten Weltkrieges am Horizont ab; mit einem schweren jugendlichen Trauma erklärt Bravo, warum Spirou sein rotes Pagenkostüm nie ablegen wird.

Im Geiste dieses Bandes und gleichsam als seine Fortsetzung entwickelte Bravo schließlich seine auf vier Bände angelegte Geschichte „Spirou oder: die Hoffnung“. Zwei Teile sind bis dato erschienen (die beiden übrigen folgen 2020 und 2021), sie drehen sich in einem ungewohnt realistischen Szenario um all die Schrecken und Probleme, die der Nationalsozialismus über Europa brachte: Krieg, Repression und Verfolgung, Lebensmittelknappheit, Arbeitslosigkeit und Armut.

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Bravo zeichnet Belgien als zerissenes Land: Viele hassen die deutschen „Fritze“, aber da sind eben auch die selbsternannten flämischen Herrenmenschen, die sich der SS andienen, all die Antisemiten und Kollaborateure, zu denen – zur Überraschung vermutlich vieler treuer Leser*innen – anfangs auch Spirous bester Freund Fantasio zu zählen scheint. Wo sich die Figuren mehr schlecht als recht durchschlagen, wo sie sich vor Polizei und Militärs verstecken, wo sie hungern, wo sie sich verbünden und einander verraten, da ist die Geschichte von Spirou eben nicht länger ein lustig-unterhaltsames Abenteuer – es ist ein Kampf ums Überleben. Und so schließt der zweite Teil, überschrieben mit „Weiter auf dem Weg des Grauens“, mit einem fast grausamen Cliffhanger, der die Leser*innen mit der bangen Frage zurücklässt, wie um alles in der Welt Spirou da wohl wieder herauskommen mag.

Der junge Tor als Humanist

2018 wählten die Vereinten Nationen Spirou zur Symbolfigur für das Jubiläum der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Sie taten das nicht ohne Grund. Laurent Sauveur vom Hohen UN-Kommissariat für Menschenrechte erkannte in Spirou damals einen „Träger humanistischer Werte“ und „eine Figur, die Gleichgültigkeit“ bekämpft. Émile Bravo interessierte nun, wie Spirou dazu werden konnte. Der taz sagte er: „Zu dem konnte er sich nur während des Krieges entwickeln. Mein Ziel war es also zu erzählen, wie ein Kind während der Besatzungszeit unter den deutschen Nazis überleben und zu seinem persönlichen Humanismus finden kann.“

Bravos Spirou hat keinen klaren Plan, er ist kein theoretisch geschulter Geist. Eher handelt er intuitiv humanistisch, einfach indem er sich weigert, den mörderischen Exzess um sich herum mitzutragen. „Er wird nicht zum militanten Widerstandskämpfer,“ betont Bravo, „verübt kein Attentat.“ Und trotzdem wird in dieser Coming-of-Age-Geschichte der besonderen Art aus dem Waisenjungen, dem Pagen, dem Tor ein humanistischer Held. Weil er sich menschlich verhält. „Das möchte ich Kindern vermitteln.“

Wie aber Bravo das tut, das ist wirklich bemerkenswert. Das Szenario ist bis in die kleinsten Details stimmig. Im klaren Stil eines Hergé erzählt Bravo eine mitreißende Geschichte, die in ihrer Ernsthaftigkeit zwar mit manchen Traditionen Spirous bricht, der Serie nachträglich aber gerade ein Fundament verleiht. Nicht ohne Grund wird in Frankreich und Belgien die Reihe deshalb als Sensation gehandelt, und auch die deutschen Reaktionen fallen einhellig positiv aus. Der Rezensent der Süddeutschen Zeitung etwa liest aus Bravos Tetralogie einen „von Pathos freien Humanismus“ heraus, der ihn an die Antikriegsfilme Jean Renoirs und Roberto Rossellinis erinnert: „Hier entsteht ein Werk, das in die Geschichte des europäischen Comics eingehen wird,“ fand er. Er hat recht damit.

Zwei Bände von Émile Bravos Vierteiler „Spirou oder: die Hoffnung“ sind bisher erschienen, die übrigen beiden Teile sollen 2020 und 2021 veröffentlicht werden. Jeder der beiden Bände mit seinen jeweils 96 Seiten kostet 14 €.


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