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Wissenschaft und Forschung

Friedensforscher*innen warnen: Die Welt stolpert in neues Krisen-Zeitalter

Ein Bericht des Stockholmer Friedenforschungsinstituts SIPRI sieht eine gegenwärtig gefährliche Mischung aus Umwelt- und Sicherheitskrisen.

Ein neuer Bericht des Stockholmer Friedenforschungsinstituts SIPRI sieht eine gegenwärtig gefährliche Mischung aus Umwelt- und Sicherheitskrisen, die komplexe Risiken für den globalen Frieden mit sich bringen. Und er formuliert als Handlungsempfehlungen für die Politik fünf Grundsätze.

Glenn Beltz / Flickr / CC BY 2.0

Die Staats- und Regierungschefs der Welt bereiten sich nicht ausreichend auf eine neue Ära komplexer und oft unvorhersehbarer Risiken für den Frieden vor, da tiefgreifende Umwelt- und Sicherheitskrisen zusammenkommen und sich verschärfen. So lautet das Fazit eines neuen Berichts des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI mit dem Titel „Environment of Peace: Security in a New Era of Risk“ (Sicherheit in einer neuen Ära des Risikos). Er wurde vergangene Woche vor der Eröffnung des neunten Stockholmer Forums für Frieden und Entwicklung vorgestellt.

„Environment of Peace“ bietet eine umfassende Darstellung von Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Aspekten der Umweltkrise – einschließlich des Klimawandels, massenhaftem Artensterben und Ressourcenknappheit – und einer sich verdüsternden gegenwärtigen Sicherheitslage sowie anderen Phänomenen wie den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie. Außerdem formuliert er Handlungsempfehlungen und Grundsätze, an denen sich Regierungen und anderen Entscheidungsgremien orientieren sollten. Mehr als 30 Wissenschaftler*innen des SIPRI und anderer Institutionen haben zu dem Bericht beigetragen, der von einem Gremium internationaler Expert*innen für Umwelt und Sicherheit unter Leitung von Margot Wallström, der ehemaligen schwedischen Außenministerin und EU-Kommissarin für Umwelt, beraten wurde.

Zwillingskrisen, komplexe Risiken

Die Autor*innen zeichnen in dem Bericht anschaulich das Bild einer eskalierenden Sicherheitskrise. So wird beispielsweise festgestellt, dass sich die Zahl der bewaffneten Konflikte auf staatlicher Ebene zwischen 2010 und 2020 ungefähr verdoppelt hat (auf 56), ebenso wie die Zahl der Todesopfer in Konflikten. Auch die Zahl der Flüchtlinge und anderer Vertriebener verdoppelte sich auf 82,4 Millionen. Im Jahr 2020 stieg die Zahl der operativ nutzbaren nuklearen Sprengköpfe, nachdem sie jahrelang reduziert worden war, und 2021 überstiegen die Militärausgaben zum ersten Mal die Marke von zwei Billionen US-Dollar.

Was die Umweltkrise betrifft, so ist etwa ein Viertel aller Arten vom Aussterben bedroht, die Zahl der bestäubenden Insekten nimmt rapide ab und die Bodenqualität sinkt, während die Ausbeutung natürlicher Ressourcen wie Wälder und Fische in nicht nachhaltigem Umfang weitergeht. Der Klimawandel führt dazu, dass extreme Wetterereignisse wie Stürme und Hitzewellen häufiger und intensiver auftreten, die Erträge wichtiger Nahrungsmittelpflanzen sinken und das Risiko großflächiger Ernteausfälle steigt.

Der Bericht veranschaulicht einige der komplexen Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Krisen in der ganzen Welt, zum Beispiel:

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  •  In Somalia, wo anhaltende Dürre und andere Auswirkungen des Klimawandels in Verbindung mit Armut, mangelnder Vorbereitung und einer schwachen Regierung die Menschen in die Arme der Extremistengruppe al-Shabab getrieben haben.
  •  In der Sahelzone, wo die Dürre und die Ausweitung der Anbauflächen zur Ernährung der wachsenden Bevölkerung Bauern und nomadische Hirten in einen Wettbewerb um den Zugang zu Ressourcen wie Land und Wasser treiben, der häufig in Gewalt ausartet.
  •  In Mittelamerika, wo die Auswirkungen des Klimawandels auf die Ernten in Verbindung mit Gewalt und Korruption die Zahl der Menschen, die versuchen, über die gesicherte US-Grenze zu migrieren, erhöht haben.
  •  Im Nahen Osten und in Nordafrika, wo Anfang der 2010er Jahre die russische Getreideernte aufgrund einer durch den Klimawandel bedingten Hitzewelle ausfiel und die Auswirkungen der US-Biokraftstoffpolitik den Brotpreis in die Höhe trieben, sodass sich die Spannungen verschärften, die zum Arabischen Frühling mit einer Reihe von Aufständen im Nahen Osten und in Nordafrika führten.

„Diese Beispiele zeigen deutlich, dass es viel komplexer ist, als dass Umweltzerstörung zu Konflikten führt“, sagte Chibeze Ezekiel, Koordinator des Strategischen Jugendnetzwerks für Entwicklung in Ghana, einer der Expert*innen für Umwelt und Frieden. „Zu Beginn des Arabischen Frühlings 2011 haben die Auswirkungen des Klimawandels auf einem Kontinent und eine gut gemeinte Politik für erneuerbare Energien auf einem anderen Kontinent zusammen mit den bestehenden Unruhen auf einem dritten Kontinent die Gefahr von Konflikten erhöht – niemand hatte diese Kombination kommen sehen“, so Ezekiel.

Grundsätze für die Politik

Der Bericht formuliert fünf Grundsätze, die politischen Entscheidungsträgern bei der Bewältigung dieser Probleme helfen sollen:

  1. Schnell denken, vorausschauend denken, jetzt handeln. Die Schaffung eines friedensfördernden Umfelds erfordert eine weitsichtige Vision, aber auch rasches, kurzfristiges Handeln.
  2. Kooperieren, um zu überleben und zu gedeihen. Die neue Ära der Risiken erfordert eine neue Art der Zusammenarbeit, um gemeinsamen Bedrohungen zu begegnen.
  3. Erwarten Sie das Unerwartete – seien Sie bereit, sich anzupassen. Kontinuierliches Horizontscanning, weitsichtige Analysen und anpassungsfähige Maßnahmen sind erforderlich, um den sich unvorhersehbar verändernden Risiken einen Schritt voraus zu sein.
  4. Nur ein gerechter und friedlicher Übergang wird gelingen. Beim Übergang zu ökologisch nachhaltigen Gesellschaften müssen wir vermeiden, neue Risiken für den Frieden zu schaffen.
  5. Von allen, für alle. Entscheidungsprozesse von den Vereinten Nationen bis hin zu kommunalen Projekten sollten die am meisten betroffenen Menschen einbeziehen.

Zusammenarbeit ist unverzichtbar

Das letzte Jahrzehnt sei durch eine zunehmend angespannte geopolitische Lage gekennzeichnet, in der Streitigkeiten zwischen großen Staaten und Blöcken schwelten und manchmal ausbrachen und sich Populismus ausbreitete. Der Bericht argumentiert, dass die Zusammenarbeit für die Bewältigung der Umwelt- und Sicherheitskrisen sowie der daraus resultierenden Risiken unerlässlich ist.

„Keine Regierung kann das Wohlergehen ihrer Bürger angesichts der eskalierenden globalen Krisen ohne internationale Zusammenarbeit sichern“, sagte hierzu Helen Clark, die ehemalige Premierministerin Neuseelands und Mitglied des Beratungsgremiums zum Bericht. „Wir müssen dringend Wege finden, um bei der Bewältigung gemeinsamer umweltbezogener Sicherheitsbedrohungen zusammenzuarbeiten, selbst in der heutigen toxischen geopolitischen Landschaft. Angesichts globaler Bedrohungen ist Zusammenarbeit ein Eigeninteresse. Tatsächlich ist Kooperation der neue Realismus“, so Clark.

Pandemie zeigt Notwendigkeit, mit Unerwartetem zu rechnen

Die Covid-19-Pandemie habe zudem deutlich gemacht, welche Vorteile die Länder haben, wenn sie sich auf ein Ereignis vorbereiten, dessen verheerendes Potenzial klar ist, auch wenn der Zeitpunkt und die Art des Ereignisses vielleicht nicht so klar sind.

Durch die Anwendung der Erfahrungen mit dem SARS-Ausbruch von 2002 gelang es Südkorea beispielsweise, die Covid-19-Sterblichkeitsrate in den ersten beiden Jahren der Pandemie auf etwa 10 Prozent der Sterblichkeitsrate von Ländern mit vergleichbarer Bevölkerungszahl zu senken. Dies rettete nicht nur Leben, sondern ermöglichte es Südkorea auch, einen Großteil der destabilisierenden wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen zu vermeiden, die in anderen Ländern zu spüren waren, die sich trotz regelmäßiger Warnungen von Einrichtungen wie der Weltgesundheitsorganisation vor den Risiken einer Pandemie nicht vorbereitet hatten.

„Die Pandemie zeigt uns deutlich, welche Risiken wir eingehen, wenn wir uns nicht vorbereiten“, sagte Margot Wallström. „In dem Maße, wie sich die Umwelt- und Sicherheitskrisen verschärfen, müssen die Regierungen abschätzen, welche Risiken auf sie zukommen, die Fähigkeit entwickeln, sie zu bewältigen, und die Gesellschaften widerstandsfähiger machen. Die ärmsten Länder werden dazu internationale Unterstützung benötigen und die sollten sie auch erhalten.“

Der Bericht empfiehlt des Weiteren, Umweltstressoren in die Frühwarnsysteme für Konfliktrisiken einzubeziehen, und ruft eindringlich dazu auf, Verträge über die gemeinsame Nutzung von Ressourcen wie Fischerei, Wasser und Wälder zu aktualisieren, damit sie in dieser neuen Ära komplexer Risiken ihren Zweck erfüllen können.

Nur ein gerechter und friedlicher Übergang wird gelingen

Um den Klimawandel und die allgemeine Umweltkrise in den Griff zu bekommen, sollten die Regierungen auf der ganzen Welt einen umfassenden Wandel in Bereichen wie Energie und Landnutzung herbeiführen. Um die globale Erwärmung auf das im Pariser Abkommen festgelegte Ziel von 1,5 Grad Celsius zu begrenzen, müssten weltweit innerhalb von drei Jahrzehnten Netto-Null-Emissionen erreicht werden. Im Bereich der biologischen Vielfalt diskutieren die Regierungen Initiativen wie die 30×30-Initiative zum Schutz von 30 Prozent der Land- und Meeresfläche bis 2030.

Der Bericht „Environment of Peace“ unterstreicht auch, dass diese Übergänge gelingen müssen, da ein Scheitern immense Sicherheitsrisiken mit sich bringen würde. Veränderungen in dem erforderlichen Umfang und Tempo seien jedoch unweigerlich mit Risiken behaftet. Die Geschichte von Maßnahmen wie Biokraftstoffen und Wasserkraftwerken zeige, dass sie die Unsicherheit verschärfen können. Allein durch die Wasserkraftwerke wurden schätzungsweise 80 Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben.

„Wir müssen aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, damit wir sie nicht in viel größerem Maßstab wiederholen“, sagte Geoff Dabelko, einer der Hauptautoren des Berichts und Professor an der Voinovich School of Leadership and Public Service der Universität Ohio. „Naturschutz muss geschehen, aber er darf nicht erzwungen werden. Ein schneller kohlenstofffreier Übergang ist unerlässlich, aber er muss auf faire Weise erfolgen. Die Bewältigung der Umweltkrise muss Hand in Hand mit Gerechtigkeit, Gleichheit und Rechten gehen, um den Frieden zu stärken und nicht zu untergraben.“

Frieden finanzieren, nicht das Risiko

Derzeit geben die Regierungen schätzungsweise fünf bis sieben Billionen US-Dollar pro Jahr für Aktivitäten aus, die der natürlichen Umwelt schaden können, wie die Subventionierung fossiler Brennstoffe, zerstörerische Fischerei und Waldrodung. Die Regierungen haben versprochen, die Subventionen für fossile Brennstoffe abzubauen, aber sie haben es regelmäßig versäumt, dies zu tun.

„Wenn Regierungen den Frieden in dieser neuen Ära des Risikos sichern wollen, müssen sie ihre Finanzmittel von Aktivitäten abziehen, die den Frieden untergraben“, sagte hierzu Arunabha Ghosh, Experte für Umwelt und Frieden beim Council on Energy, Environment and Water (CEEW). „Die Finanzierung von Konfliktrisiken liegt in niemandes Interesse. Doch viele Regierungen finanzieren weiterhin die nicht notwendige und nicht zielgerichtete Entwicklung fossiler Brennstoffe und andere umweltzerstörende Aktivitäten, die weder den Interessen der Nachhaltigkeit dienen noch gefährdete Gemeinschaften schützen. Wir brauchen eine umfassende Umlenkung der Investitionen in Richtung Frieden, ökologische Stabilität und Widerstandsfähigkeit“.

„Environment of Peace“ nennt schließlich zahlreiche Beispiele für Initiativen, die gemeinsam Frieden und Umweltintegrität schaffen und die ausgeweitet und angepasst werden könnten. Die Studie zeigt, dass Lösungen nur dann wirksam sein können, wenn sie integrativ sind, d. h. wenn die oft marginalisierten Gesellschaftsgruppen (wie indigene Völker, Frauen und Jugendliche) in die Entscheidungsprozesse einbezogen und an den Vorteilen beteiligt werden.


„Unser neuer Bericht für politische Entscheidungsträger geht darüber hinaus, nur einfach zu zeigen, dass Umweltveränderungen die Risiken für Frieden und Sicherheit erhöhen können“, sagte SIPRI-Direktor und Autor von Environment of Peace Dan Smith zur Vorstellung vor einer Woche.

„Was unsere Forschung zeigt, ist die Komplexität und Breite dieser Beziehung und die vielen Formen, die sie annehmen kann. Und vor allem zeigen wir, was man dagegen tun kann, wie wir in einem neuen Zeitalter des Risikos für Frieden und Sicherheit sorgen können.“ Die Herausforderungen seien immens und der Zeitrahmen eng gesteckt, betonte der SIPRI-Direktor. „Selbst wenn die Regierungen mit akuten Situationen wie der Invasion in der Ukraine oder der Covid-19-Pandemie fertig werden, dürfen sie die tiefgreifenden Herausforderungen, die vor ihnen liegen, nicht aus den Augen verlieren.“

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