Panorama
Imagine no religion?
Der britische Humanist Andrew Copson hat über Säkularismus ein sehr gutes, sehr kurzes Buch für die Reihe „Very Short Introductions“ des Verlags Oxford University Press geschrieben.
Rezension zu Andrew Copsons „Secularism. A Very Short Introduction”
Andrew Copson ist Berufshumanist. Er ist Geschäftsführer der britischen Vereinigung säkularer Humanist*innen, Humanists UK, und Präsident der Humanists International. Er hat ein sehr gutes, sehr kurzes Buch über Säkularismus geschrieben, das in der Reihe „Very Short Introductions“ beim Verlag Oxford University Press erschienen ist. Die in dieser Reihe versammelten Texte sind selten länger als 150 Seiten und haben den Ehrgeiz, auf den Punkt zu bringen, was sonst mit vielen Worten umrissen werden müsste. (Zum Vergleich: Die Enzyklika „Deus caritas est“ von 2003, die „einige wesentliche Punkte über die Liebe, die Gott dem Menschen in geheimnisvoller Weise und völlig vorleistungsfrei anbietet, zu klären“ möchte, ist allein 50 Seiten lang.)
Ein solches kurzes Buch zu schreiben erfordert viel Mut zur Klarheit, die Copson mitbringt. Das zeigt sich gleich zu Beginn seiner Ausführungen: Heutzutage, so schreibt er, begegne man dem Säkularismus häufig entweder als Popanz, den seine religiösen Kritiker*innen vor sich hertrügen, oder als argumentativer Stock, der z. B. in Intergrationsdebatten geschwungen werde. Beidem müsse widersprochen werden. Und so zeigt Copson auf, welche Verantwortung jene übernehmen, die sich für eine säkulare Gesellschaft aussprechen.
Die Arbeitsdefiniton, mit der der Text das Thema erst einmal zu packen kriegt, stammt vom französischen Religionssoziologen Jean Baubérot. Der versteht Säkularismus als Dreischritt von
- Trennung von staatlichen und religiösen Institutionen,
- Glaubens- und Gedankenfreiheit sowie
- Nichtdiskriminierung aufgrund religiöser Zugehörigkeit.
Während die Antike oft „pragmatisch pluralistisch“ an das Phänomen der Religionen herangegangen sei (S. 7), sei es der „Usurpation des Rechts“ durch das Christentum ab der Spätantike zu verdanken, dass wir uns heute über Säkularismus Gedanken machen müssten (S. 8).
Trennung von Staat und Religion
Dabei zeigt sich, dass diese Trennung in der Wirklichkeit sehr unterschiedliche Ausprägungen haben kann. Die beiden großen Linien, die sich bei der Trennung von Religion und Staat aufzeigten, seien z. B. die französische „Laicité“ (S. 18 f.) und die US-amerikanischen „Freedom of Religion“ (S. 23 f.). Während erstere sich nämlich aus einem Ringen mit der römisch-katholischen Kirche um Definitionshoheiten in rechtlichen, pädagogischen etc. Angelegenheiten herausdefiniert habe, sei letztere das Ergebnis einer Vielzahl von Bekenntnissen gewesen, denen gleichermaßen der exklusive Zutritt auf staatliche Machtmittel verwehrt werden musste, um den öffentlichen Frieden sicher zu stellen.
Das Ergebnis ist allerdings überall das Gleiche: Selbst in den Staaten, die gar sich nicht zu einer Form des Säkularismus bekannten, sei, so Copson, doch die Trennung der Rechts- von der Religionssphäre mittlerweile üblich (S. 29). Deswegen sei es mittlerweile auch nicht immer leicht, vom Anspruch, säkular organisiert zu sein, auf die Wirklichkeit zurückzuschließen (S. 93 ff.). Das türkische „Laiklik“-System z. B., das sich stark am französischen Vorbild orientiert, ist bereits lange vor Machtantritt der AKP durch etwa die Einführung eines obligatorischen Islam-Unterrichts 1961 ausgehölt (S. 31 ff.) worden.
Indien wiederum kenne eine lange und auch durch Phasen muslimischer Herrschaft fortwirkende Tradition des religiösen „Diversity-Managements“ (S. 39). Für die Gründer des modernen indischen Staates war nicht allein deswegen der Gedanke leitend, „Menschen unterschiedlichen Glaubens voreinander zu schützen“ (S. 44). Ähnlich wie in den USA konnte und wollte man auch in Indien nicht zulassen, dass eines der hier gelebten Bekenntnisse Zugriff auf staatliche Machtmittel bekäme.
Glaubens- und Gedankenfreiheit
Dass es ein Recht auf ungestörte Religionsfreiheit gibt, leitet sich Copson zufolge von einem spezifisch säkularen Verständnis von „menschlicher Würde“ ab und stehe mit dem Verständnis individueller Freiheit in enger Verbindung (S. 47 f.). Das müsse nicht zwangsläufig in Konkurrenz mit religiösen Wertvorstellungen geraten, wie Copson an einigen Beispielen zeigt. So sind in vielen Religionen Argumentationsmodelle bekannt, denen zufolge eine individuelle Freiheit der Religionsausübung religiös begründet werden können. Einige Muslim*innen z. B. berufen sich auf die Koransure, der zufolge es „keinen Zwang in der Religion“ gebe.
Losgelöst von religiösen Überlegungen lassen sich auch das Argument der Fairness (S. 50), des allgemeinen Friedens (S. 54) und der Demokratie und Moderne (S. 55 f.) ins Feld führen, um eine individuelle Glaubensfreiheit allgemein zu begründen.
Nichtdiskriminierung aufgrund religiöser Zugehörigkeit
Die oben stehenden Argumente überzeugen nicht jede*n. Insbesondere Staaten, die sich theokratisch legitimieren, sind häufig der Ansicht, dass ihre Religion Antworten auf alle Lebensbereiche – insbesondere in der Politik – bereithalte und deswegen ungestört von säkularen Überlegungen zum Einsatz kommen müsse (S. 59 ff.). Vielleicht für den einen oder die andere erstaunlich, zählt Copson auch die Staaten zu den religiös diskriminierenden, die die Religionen insgesamt abschaffen wollen. Die atheistischen Staaten des Ostblocks müsse man letztlich „als die Spiegelbilder einer Theokratie“ betrachten, weil auch sie sich als religiös intolerant erwiesen hätten (S. 68).
Aber auch Staaten, die eine offizielle Staatsreligion haben (wie Copson sie in seiner Heimat in Form der Church of England kennt), bergen ein gewisses Diskriminierungspotential in sich. Denn, so argumentiert Copson, die anderen Religionen können in solchen Ländern stets nur den Status eines tolerierten Gastes erreichen – nie aber volle Integration (S. 66). Auch die abgemilderte Form des „romantischen Konservatismus“, der behauptet, kulturelle „Wurzeln“ in religiösen Traditionen ausfindig machen zu können, fällt für Copson unter die potentiell diskriminierenden Politikstile (S. 71).
Für deutsche Leser*innen dürfte die Kritik an der niederländischen „Versäulungspolitik“ interessant sein (niederl.: verzuiling), weil sie in vielem der Situation in Deutschland ähnelt. In den Niederlanden werden Glaubensgemeinschaften getrennt voneinander staatlich unterstützt. Das Problem besteht hier darin, dass religiöse Strukturen „fossilieren“ und zur Festlegung individueller Identitäten missbraucht werden (S. 77). (In Nordrhein-Westfalen wird Religionsunterricht in folgenden Bekenntnissen angeboten: evangelisch, katholisch, syrisch-orthodox, orthodox, jüdisch, islamisch, alevitisch und testweise mennonitisch. Der Begriff „Versäulung“ erklärt m. E. sehr gut, wo hier das Problem liegt: In der Vermittlung religiöser Wahrheitsanspräche werden weder alle real existierenden weltanschaulichen Identitäten widerspiegelt, noch wird das System den Kindern dahingehend gerecht, dass sie neben ihrer religiösen auch gänzlich andere Identitäten haben.)
Einige Kritiker des Säkularismus werfen diesem vor, seine westliche Herkunft nur unzureichend verschleiern zu können und schon deswegen gar nicht das halten zu können, was er verspreche. Stattdessen sei er ein schlecht getarntes judeo-christliches Projekt, das anderen Religionen schaden solle (S. 75). Dieses Argument weist Copson mit Verweis auf säkulare Traditionen in vielen verschiedenen Kulturkontexten (z. B. im Buddhismus) zurück.
Streit um Säkularismus / Streit im Säkularismus
Auf das Kapitel „concepts of secularism“ gehe ich jetzt nicht ein, weil ich persönlich es nicht so spannend finde. Copson führt selbst aus, dass die an der hier beschriebenen Debatte beteiligten Denker*innen genauso wenig Konsens erarbeiten könnten, wie ihre Vorgänger*innen zur Zeit der Aufklärung (S. 88), womit m. E. vieles über die widerstreitenden Ansätze gesagt ist.
Spannend ist m. E. die von Copson aufgerufene Frage, wie mit neuen Formen religiöser Konflikte umzugehen ist, so zum Beispiel, wenn sich eine religiöse Gruppe in ihren Glaubensgefühlen verletzt sieht. Eine säkulare Haltung könnte sein, den öffentlichen Frieden nicht zu gefährden und deswegen – säkular argumentiert – Blasphemieverbote zu fordern (S. 100). Oder die Meinungsfreiheit wird demonstrativ gestärkt, indem z. B. erst recht auf religiöse Gefühle keine Rücksicht genommen wird. Auch die Frage des staatlich geschickten Umgangs mit öffentlich gezeigten religiösen Symbolen stellt den Säkularismus vor neue Aufgaben (S. 106 ff.), denn weder der Verweis auf staatliche Neutralität noch der auf individuelle Glaubensfreiheit liefert hier zufriedenstellende Antworten (S. 111).
Der Ausblick, den Copson am Ende seines kleinen Werkes wagt, ist düster. In der Türkei arbeite die regierende AKP mit Eifer daran, den islamischen Charakter des Staates weiter zu untermauern, die in Indien regierende BJP habe sich vorgenommen, die indische Kultur von nicht-indischen religiösen Einflüssen „zu reinigen“ und Steve Bannon, der zu lange politischer Einflüsterer Donald Trumps war, ruft „den Westen“ dazu auf, sich auf seine judeo-christlichen Wurzeln zu besinnen (S. 118 ff.). Dennoch gibt Copson die Hoffnung nicht auf, dass sich Diversität, Fairness und weltanschauliche Gleichheit denken lassen und eine Trennung der religiösen von der staatlichen Sphäre aufrecht erhalten werden kann. Wenn das nicht gelänge, so Copson, werde die Zukunft eine bittere sein.
Christopher Hitchens schreibt in „God Is Not Great“, dass Religion nicht aussterben wird, solange wir „die Angst vor dem Tod, der Finsternis, dem Unbekannten und voreinander nicht überwunden haben.“ Eine Welt ohne Religion ist folglich nicht wirklich denkbar. Aber eine Welt ohne Säkularismus mag man sich nicht ausmalen.
Andrew Copson
Secularism: A Very Short Introduction
Oxford University Press, Oxford 2019
139 S., Taschenbuch
8,99 €
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