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Migration und Erfahrungen, eine ostdeutsche Perspektive

Sind die oft als Ostdeutsche bezeichneten Bürgerinnen und Bürger nicht auch irgendwie Migranten? Naika Foroutan meint „Ja“, Jana Hensel schrieb „grandios“, die gebürtige Friesin Frau B. kommentierte „einbeiniger Vergleich“.

Sind die oft als Ostdeutsche bezeichneten Bürgerinnen und Bürger unseres Landes nicht auch irgendwie Migranten? Naika Foroutan meinte „Ja“ in der taz, Jana Hensel schrieb „grandios“ bei ZEIT ONLINE, die gebürtige Friesin Frau B. kommentierte „einbeiniger Vergleich“ bei Facebook. Hier antworte ich Frau B.

Liebe Frau B.,

zunächst: wunderbar, sehr schön, Ihre Solidarität mit dem jungen Syrer, vielen Dank dafür!

Zum Thema: Es gibt zweifellos unterschiedliche Ausmaße an Erfahrungen, die sich unter dem Stichwort Migration subsumieren lassen. Dass es unterschiedliche Ausmaße gibt, bedeutet nicht, dass das geringere Maß keines wäre. Können wir uns darauf einigen? Andernfalls hieße das, ein in Polen gebürtiger Mensch, der in der Schule Deutsch gelernt hat, und der nach Deutschland oder die Niederlande migriert ist, hätte keine solche Erfahrungen, nur weil die Migrationserfahrungen des von Ihnen unterstützten Menschen aus Syrien zweifellos umfangreicher, vielfältiger und intensiver sind.

Gleiches sollte gelten in Bezug auf die im Gebiet der neuen Bundesländern geborenen Menschen, insbesondere die, die noch nicht von Kindesbeinen an in die vielen verschiedenen kulturellen Dimensionen unserer gemeinsamen BRD hineingewachsen sind, wie etwa ich oder unsere liebe gemeinsame Bekannte H. oder meine Schwiegermutter in spe, S., oder mein alter Klassenlehrer. H. und Frau S. hatten ja schon bestätigt, sich da in vielem wiederzufinden, was auf taz.de und bei ZEIT ONLINE geschrieben steht.

Ich glaube, ein wichtiger Punkt bei dem Thema ist, dass die persönlichen Empfindungen dabei eine größere Rolle spielen. Die subjektive Migrationserfahrung eines Syrers oder einer Syrerin würde ich ihm bzw. ihr nicht bestreiten und Sie sicherlich auch nicht. (Einwand eines fiktiven Dritten hier: „Lebt doch immer noch auf dem gleichen Planeten!“)

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Warum aber würden Sie als gebürtige Friesin einem oder einer gebürtigen „Ostdeutschen“ die möglichen Migrationserfahrungen bestreiten? Und nebenbei: Falls Sie für sich Migrationserfahrung in einer bestimmten Hinsicht verspüren, würde ich es mir überlegen, bevor ich das anzweifle. Subjektive Erfahrungen eines Migrationserlebnisses sollten meines Erachtens grundsätzlich erstmal respektiert und von anderen nur mit wirklich profunden Argumenten in Zweifel gezogen werden.

„Migration“ ist nur mit Länderwechsel?

Stichwort: Erhaltung des kompletten Umfeldes. Hier wäre die Frage zu diskutieren, was beispielsweise die vor ca. 20 Jahren erfolgte „Migration“ meiner Schwägerin mit 16 oder 17 Jahren oder die meines Bruders im gleichen Alter von Brandenburg bzw. Berlin nach Baden-Württemberg unterscheidet von dem Beispiel des oben erwähnten Menschen aus Polen. Der ausbildungs- bzw. berufsbedingte Wegzug für solch junge Menschen, die zuvor in einem in vielerlei Hinsicht anderen „System“ aufgewachsen sind, hatte sicherlich nicht die „Erhaltung des kompletten Umfeldes“ zur Folge. Zwischen Berlin und Freiburg i.Br. liegen rund 800 Kilometer. Zwischen Friesland und etwa der Hauptstadt von Frankreich in etwa genauso viele. Ist der dauerhafte Lebensortwechsel von Wilhelmshaven nach Paris Migration, der von Berlin nach Freiburg aber auf keinen Fall?

Derartige wie die oben angesprochenen räumlichen Veränderungen nebst den Auswirkungen für das „Umfeld“, familiär und anders, teilen Millionen vor 1985 in den heutigen neuen Bundesländern geborene Menschen. Ich würde sagen, es sind im Zuge der Umbrüche sehr, sehr viele Familienkreise auseinander gerissen [sic] worden, oder mindestens angerissen. Gerissen ist das angemessene Wort, weil es vielmals ziemlich schnell und durch externe Zwänge getrieben geschehen ist. Viele wären gern in ihrer Heimat geblieben. Aber es ging einfach nicht. Familie und Freunde, geliebte Menschen, plötzlich weit weg.

Subjektive Erfahrungen, Umfelderhaltung, Distanz – drei Aspekte haben wir hier bisher. Weitere können dazukommen.

Denn ohne Moos nix los: Mein Vater, Jurist mit DDR-Staatsexamen, musste sich in ein neues Rechtssystem einarbeiten, um weiter beruflich tätig sein zu können. Abitur in der DDR, Studium in der DDR, nochmal ein Studium in der BRD, nebenberuflich, nach „Feierabend“. Mit drei kleinen Kindern daheim. Zuvor bestehende Strukturen und beruflich wertvolle Netzwerke – verpufft. Und auch die Mutter dieser drei Kinder, also meine eigene, musste umschulen und einen neuen Beruf erlernen, so nebenher. Ich brauche hier nicht weitere Beispiele zu nennen, viele andere „Werktätige“, wie es früher hieß statt wie heute „Arbeitnehmer“, erinnern sich gut an ihre beruflichen Veränderungen. Kann das auch Teil eines umfassenderen Migrationserfahrung sein? Ich würde meinen, ja.

Noch ein weiterer: Sprache. Stelln Se sich ma vor, een junga Ost-Balina, der nochn blauet Pijonier-Halstuch irjendwo als kleenet Andenken anne Einschulung rumliejen hat, kommt nu mit grade ma 17 Jahre ins schöne Schwabenländle oder nach Baden. Oder ein ausgewachsener Sachse nach Südbayern. Oder der Pommer nach Köln. Da gibt es schon Unterschiede, gerade im Alltag, wo der Arbeitnehmer seinen westdeutschen Kollegen oder den Chef sicherlich nicht einfach auf das vorzüglichste Hochdeutsch verpflichten kann. Von anderen Gepflogenheiten und Bräuchen will ich gar nicht weiter reden.

Außerdem: Russisch war die erste Fremdsprache für viele vor der Wende, Englisch sollte es nach der Wende sein und am besten noch Französisch dazu, wir sind ja in der EU. Quasi von heute auf morgen. Aber viele gebürtige Ostdeutsche waren bei weitem nicht so gut des Englischen fähig wie ihre lieben Mitbürgerinnen und -bürger aus den „alten“ Bundesländern.

Kann es Teil einer Migrationserfahrung sein, sich plötzlich in einem Land mit ganz anderer erster Fremdsprache (und zweiter) wiederzufinden? Ich würde meinen, ja.

Kennen Sie einen guten Ossi-Witz?

Eine Kollegin in Nürnberg gibt mir noch ein Stichwort: Vorurteile. Es gibt einen Index, welcher Dialekt als attraktiv gilt, Sächsisch steht an letzter Stelle, wird immer nur zum Verwitzeln benutzt, erinnert sie. Und sie berichtet: „Mit 15 saß ich das erste Mal unter Jugendlichen aus den alten Bundesländern und wir sprachen über Ost-West-Vorurteile. Ich dachte immer: Die armen Wessis, die genießen bei uns so schlechtes Ansehen, gelten als arrogant und geldgetrieben. Ein Mädchen aus dem ‚Westen‘ sagte dann, als es um uns ‚Ossis‘ ging: Ja, die sind faul, arbeiten nicht, so‘n bisschen assig halt.“ Liebe Leserinnen und Leser, kennen Sie einen guten Ossi-Witz?

Subjektive Erfahrungen, Umfelderhaltung, Beruf, Distanz, Sprache und Vorurteile. Noch ein Aspekt?

Ich hatte eigentlich diese Ausführlichkeit heute nicht geplant, doch die Fragen zu diesem Thema gingen mir auch schon seit langem im Kopf herum, noch bevor Naika Foroutan sich dazu in der taz geäußert hat und das Thema danach bei ZEIT ONLINE lief.

Und klar, auch viele von uns tun sich schwer damit, sich als „Opfer“ einer Veränderung zu sehen. Am Stichwort Migration klebt ja leider diese Konnotation bzw. manchmal leider zurecht. Und zumal die Veränderungen bei uns „Ostdeutschen“ ja in bestimmter Hinsicht sogar gewollt waren. Und auch wenn viele Menschen erst mit der Zeit realisiert haben, wie das Komplettpaket, der Preis der Freiheit, wirklich aussieht und wie er sich manchmal anfühlt. Ja, das Leben ist kein Ponyhof.

Also noch ein Punkt: Demokratie und Politik. Natürlich wollten die Bürgerinnen und Bürger bei der friedlichen Revolution endlich eine echtere, wahrhaftigere, freiheitlichere Demokratie, wie sie in der Bundesrepublik existiert, statt des sowjetisch installierten SED-Regimes. Aufgewachsen und ausgebildet in der sozialistischen Quasi-Einparteien-Diktatur unter Ulbricht und Honecker fanden sich viele als Wählerinnen und Wähler in einem weitgehend etablierten System mit vorgesetzten Strukturen, in denen sie sich nun als freie Bürgerinnen und Bürger irgendwie einrichten mussten. Die Menschen in den „alten“ Bundesländern kannten 1990 ihre Rechte, rund 18 Millionen Bürgerinnen und Bürger in den neuen mussten diese erst kennenlernen. Umdenken und dazulernen mussten sicherlich jedenfalls viele in der neuen Demokratie und ihre Erfahrungen sammeln nach der mehrheitlich gewollten Verschiebung in ein neues politisches System, das die meisten lieber versuchen mochten als das enttäuschende alte. Es war so gewollt, aber mein Verständnis von „Migration“ schließt ja nicht aus, dass Elemente davon auch gewollt sind. Ich kann gut sehr verstehen, wenn Menschen nicht nur vor Krieg fliehen, sondern etwa säkular denkende Menschen aus den Theokratien der Welt zu uns aus eigenem inneren Antrieb migrieren.

Es ist wirklich ein Nachdenken wert

Stichwort Religion und ein letzter Punkt, bevor ich hier erstmal schließen muss: Gerade erst hat die Staatsministerin für Kultur Monika Grütters uns nichtgetauften (gemeint: konfessionsfreien) – nun, ich sage mal so – Untertanen mit Hilfe der größten deutschen Wochenzeitung „kulturelle Unbehaustheit“ zugeschrieben, und diese Form angeblicher Heimatlosigkeit zwar genau deshalb: weil sie nicht getauft sind und kein Mitglied ihrer Kirche. Und sie hat dafür plädiert, das Symbol ihrer Kirche im Kanzleramt aufzuhängen. Dazu hatte ich mich bereits an dieser Stelle und dieser Stelle geäußert, und noch ein Interview dazu gibt es auf dieser Seite.

Den Leserinnen und Lesern, die in den „alten“ Bundesländern gebürtig sind: Stellen Sie sich nochmal vor, Sie finden sich in einer Gesellschaft wieder, in der Staatsministerinnen getaufte Bürgerinnen und Bürger als „Frömmler“ bezeichnen, die in einer „kulturellen Ruine“ leben. Dieses Beispiel ist fiktiv.

Für die nichtgetauften und konfessionsfreien Leserinnen und Leser: Stellen Sie sich nun vor, Sie finden sich in einem Land wieder, wo von Ihren Steuergeldern mitfinanzierte geistliche Oberhäupter sonntags predigen, Menschen ohne den christlichen Osterglauben würden „im Letzten blindwütig zuschlagen“ und „über Leichen gehen“. Das ist tatsächlich passiert. Und ach ja, Frau Grütters ist übrigens noch in Amt und kulturstaatsministerlichen Würden.

Subjektive Erfahrungen, Umfelderhaltung, geografische Distanz, Beruf, Sprache, Vorurteile, Politik, Religion. Wo fangen Erfahrungen mit Veränderungen an, die zum Stichwort Migration passen, die sich darunter adäquat subsumieren lassen? Können auch wir Ossi-Bürgerinnen und -Bürger ab 35 Jahren und älter uns von meiner Kollegin Jana Hensel bei der ZEIT sagen lassen „willkommen im Club“ der Menschen mit Migrationserfahrungen? Nun, das muss jede und jeder für sich entscheiden.

Ein Nachdenken ist es jedenfalls wert. Gerade dann, wenn die Analyse von Naika Foroutan etwas auslöst, was zum Ergebnis hat, dass die Seelen und die Gemüter vieler unserer Mitbürgerinnen und -Bürger ein bisschen von dem geheilt werden, das die „kulturelle Migration“ im Zuge der Wende an leidvollen, belastenden, negativen Erfahrungen für sie gebracht hat. Dass mehr von ihnen ihren Frieden mit dem Status quo machen können, soweit man damit als konfessionsfreie/r „Ossi“ seinen Frieden schließen sollte. Und das Nachdenken ist es auch wert, weil sich bei einigen Mitmenschen dadurch vielleicht etwas die Formen an Hass und Irrsinn verringern, wie sie sich nun in der AfD manifestiert haben. Eines ist klar: Ob mit Migrationserfahrung oder ohne, wir sitzen irgendwie alle im gleichen Boot, das seine Kreise um die Sonne zieht und Planet Erde heißt.

Darum zunächst, vielen Dank, Frau B. und Frau Foroutan, für die Anstöße und einen schönen Tag!

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