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Interview

Antisemitismus: „Wir erleben einen digitalen Neuaufbruch des Verschwörungsglaubens“

Superhelden, Superschurken, Verschwörung – viele populäre Mythen sind von antisemitischen Denkmustern durchzogen. Es geht um “Verschwörungstheorien”, bzw. das, worum es geht, sind gerade keine Theorien, sondern ein bestimmter Typus von Mythen.

„Die Frage ist, wie schlimm es noch wird und wann wir beginnen, gegenzusteuern“, sagt der Antisemitismus-Beauftragte und Religionswissenschaftler Michael Blume. Foto: © picture alliance/Marijan Murat/dpa

Superhelden, Superschurken, Verschwörung – viele populäre Mythen sind von antisemitischen Denkmustern durchzogen. Es geht um „Verschwörungstheorien“, bzw. das, worum es geht, sind gerade keine Theorien, sondern ein bestimmter Typus von Mythen. Das erklärt Michael Blume, Religionswissenschaftler und Antisemitismus-Beauftragter des Landes Baden-Württemberg, im Interview zu seinem neuen Buch „Warum der Antisemitismus uns alle bedroht“.

Die Fragen stellte Christoph Wagenseil.

Du zitierst an einer Stelle George Orwell: „Was beinahe alles ungültig macht, was über den Antisemitismus geschrieben wird, ist die Annahme im Geiste des Schriftstellers, dass er selbst immun dagegen sei. ‚Da ich weiß, dass der Antisemitismus irrational ist‘, schließt er, ‚ergibt sich daraus, dass ich ihn nicht teile'“.

Zukünftige Antisemitismusforschende müssten jedoch laut Orwell von der bequemen Frage ‚Warum spricht dieser offensichtlich irrationale Glaube andere Leute an?‘ zur schwereren Frage ‚Warum spricht der Antisemitismus mich an?‘ vorstoßen.“ (S. 73) Von welchem Problem in Bezug auf Antisemitismus spricht Orwell da?

Michael Blume: Heute würden wir sagen, dass Orwell die Bedeutung der Religionspsychologie voraussieht: Sowohl positive Mythen wie auch Verschwörungsmythen sprechen Menschen weltweit an – und es ist also absurd und sogar gefährlich, so zu tun, als gäbe es das nur bei anderen. Wer über Vorurteile forscht, sollte auch zur kritischen Reflexion der eigenen Vorurteile in der Lage sein und wer die Abgründe des Antisemitismus erkunden will, sollte sich nicht selbst für erhaben halten.

Die gebundene Ausgabe mit 208 Seiten kostet 19 €.

Letztlich sind wir aber auch hier bei dem Problem, dass die meisten Menschen noch gar nicht wissen, dass „Sem“ ein mythologischer Vorfahr ist wie sein Urenkel Abraham. Immer noch herrscht leider die Auffassung vor, „Semiten“ seien eine „Rasse“ aus Juden und Arabern. Und prompt heißt es dann zum Beispiel, Semiten könnten also doch gar keine Antisemiten sein. Tatsächlich haben wir es aber beim Semitismus wie beim Antisemitismus mit Medien- und Mythensystemen zu tun, die längst global Gesellschaften, Kulturen und Religionen durchdringen. Und George Orwell hatte absolut Recht mit dem Hinweis darauf, dass wir diese Mythen, ihre Faszinationen und Wirkungen religionspsychologisch und selbstreflektiv erforschen sollten. Die Religionswissenschaft hat dafür genau das richtige Handwerkszeug und könnte und sollte dabei eine aktive Rolle spielen!

Du sprichst von antisemitischen Mythen als eine Art „Canyon“, den ein „jahrtausendealte[r] dunkle[r] Strom“ gegraben habe (S. 64), und verortest ihren Anfang in den Erzählungen von Josef und dem ägyptischen Pharao sowie der des Esther-Buches. Wie ist das zu verstehen?

Mythen beglaubigen sich ja durch Tradition. So „wissen“ wir, dass Menschen Menschenrechte haben, obwohl wir sie in keinem Labor finden würden und auch nicht ihre genaue Zahl angeben könnten. Aber wir haben von vertrauenswürdigen Menschen gehört und gelesen, vielleicht auch ein paar überzeugende Geschichten mitbekommen, wonach alle Menschen Menschenrechte haben. Und die meisten von uns stimmen dem zu.

Aber leider nicht nur positive Mythen, sondern auch Verschwörungsmythen funktionieren so. Wer eine Weltverschwörung der Brasilianer oder eine Fälschung der „Protokolle der Weisen von Peking“ verkündet, wird zu Recht ausgelacht und ignoriert werden. Wer aber die gleichen Behauptungen mit Bezug auf Juden und Freimaurer, heute: Zionisten und Illuminaten, macht, findet Gehör. Nicht, weil es die jüdisch-illuminatische Weltverschwörung jemals gegeben hätte. Sondern weil es, wie schon Adorno und Horkheimer richtig erkannten, den Antisemitismus als „Gerücht über die Juden“ schon seit vielen Generationen gibt.

Als zum Beispiel die in den 90er Jahren im Internet entstandene Chemtrail-Szene darüber beriet, wer denn nun die geheimnisvolle Macht sei, die alle Fluggesellschaften, Regierungen und Behörden dazu bringen könnte, heimlich Gifte auszusprühen, landeten sie also nicht bei der Weltverschwörung der Australier, sondern im Antisemitismus. Wenn neue Verschwörungsmythen aufquellen – die meist digital neuformatierte Versionen älterer Verschwörungsmythen sind –, dann werden sie eher früher als später in den antisemitischen Hauptstrom einfließen. Diese Beobachtung hat übrigens die Israelitische Religionsgemeinschaft Württembergs aus deren eigenen Erfahrungen so überzeugt, dass sie sie als Zitat in einer Widmung auswählte.

Du schließt u. a. aus den Ergebnissen der Leipziger Mitte-Studien, dass „zumindest bisher nicht die Mehrheit der Gesellschaft, sondern extremistische, populistische und insbesondere muslimische Netzwerke“ Antisemitismus äußern, allerdings wurde da nach dem „Einfluss der Juden“ gefragt (S. 40f.). Eine andere mögliche Interpretation der rückläufigen Zustimmung zu diesem Item könnte doch sein, dass zwar primärer Antisemitismus zurückgehe, aber struktureller und sekundärer Antisemitismus zunehme, er sich stärker verdeckt äußern könnte?

Ja, darauf deuten auch regional starke Schwankungen der Befragungsergebnisse hin. Andererseits gilt der wissenschaftliche Grundsatz, dass jede These auch überprüfbar und widerlegbar sein muss. Ich hielte es demnach für wissenschaftlich unredlich, bei nachlassenden Zustimmungswerten zu antisemitischen Aussagen einfach zu behaupten: Dann lügen die Leute eben und sind erst Recht Antisemiten. Überzeugender scheinen mir Erklärungsansätze der Latenz zu sein: Wir alle tragen auch rassistische und antisemitische Mythen und Vorstellungen in uns. Unter normalen Umständen vertreten wir diese nicht, zumindest nicht öffentlich. Aber in Umbruch- und Krisensituationen oder auch in geschlossenen Foren im Internet können sie abgerufen und verstärkt werden.

Antisemitischer Anschlag in Poway Die jüdische Gemeinde in der US-amerikanischen Stadt Poway (Kalifornien) wurde gestern während der Feier zum Abschluss des Pessachfests in einer Synagoge von einem bewaffneten Angriff eines einzelnen Täters erschüttert, bei der ein Mensch getötet und weitere verletzt wurden. Der mutmaßliche Täter John Earnest (19) hatte zuvor offenbar ebenfalls eine Art „Manifest“ veröffentlicht. „In einer ersten, notwendig vorläufigen Analyse muss ich […] feststellen, dass auch der Text dieses ‚offenen Briefes‘ leider haargenau zu den Beobachtungen und Befürchtungen zur digitalen Radikalisierung von Verschwörungsmythen passt“, kommentierte Michael Blume das Hassverbrechen.

Auf ein Beispiel aus meinem Buch dafür werde ich oft angesprochen. Sehr viele Menschen finden, dass „Goldfinger“ der faszinierendste Superschurke im James-Bond-Universum ist. Sie sind dann ehrlich erstaunt, wenn ich ihnen aufzeige, dass Ian Fleming in seinem Buch Auric Goldfinger nicht nur als schwerreichen, verschwörerischen Juden präsentierte, sondern sogar nach einem ihm bekannten, jüdischen Architekten – Ernö Goldfinger – benannt hatte. Wie so viele Drehbuchschreiber hatte Fleming ein sehr starkes Gefühl für Mythen, die ankommen – und leider wenig Skrupel, das auch auszuspielen.

Und selbstverständlich heißt ein späterer, von Nachfolgern Flemings benannter Bond-Bösewicht und Medienmogul Elliot Carver, wobei „Elliot“ eine Variante von Elias darstellt. Ein Hamburger Unternehmer namens Kevin Schmidt oder Horst Müller wäre einfach viel weniger „glaubwürdig“ gewesen!

Auf rechtsextremen und islamistischen Seiten wird übrigens der angeblich „eigentliche“ Name des IS-Kalifen Al-Baghdadi als Simon Elliot angegeben, bei dem es sich um einen jüdischen CIA-Agenten handele. Klar, dass dann auch der CIA hinter den Anschlägen des 11. September 2001 stecke und also eigentlich die ganze Weltgeschichte durch eine jüdisch-amerikanische Superverschwörung gelenkt werde.

Die meisten von uns – mich eingeschlossen – lieben Verschwörungsgeschichten: James Bond, Star Wars, Matrix, Designated Survivor. Doch gerade auch die digitalen Medien haben es leichter denn je gemacht, Verschwörungsmythen auch für wirklich zu halten. Entsprechend hat ja auch der Buchdruck Hexenwahn, Antisemitismus und Konfessionskriege befeuert, die elektronischen Medien Radio und Film Rassismus, Nationalismus und wiederum Antisemitismus eskaliert. Der Aufbau des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland ab 1945 war eine direkte Reaktion auf den Zusammenbruch des Weimarer Mediensystems. Nun erleben wir einen digitalen Neuaufbruch des Verschwörungsglaubens. Die Frage ist, wie schlimm es noch wird und wann wir beginnen, gegenzusteuern.

„[A]us den Zyklen der Erde ausgebrochen“ (S. 168) habe ich mir unterstrichen. Du entwirfst einen theoretischen Rahmen, in dem es um Zeitverständnisse, Dualismus und Medien geht. Wogegen wäre demnach der Antisemit?

Mit dem semitischen Medium der von vorne nach hinten zu lesenden, sich Wort für Wort vollendenden Alphabetschrift verbreitet sich die Vorstellung einer linearen Zeit. Alle semitischen Religionen entwickeln eine lineare Zeitzählung seit der Schöpfung, Christi Geburt, der Hidschra usw., die durch schwere Prüfungen auf einen Fortschritt, meist sogar auf eine messianische Endzeit hinausläuft. In diesem Kontext entsteht ja auch die Unterscheidung zwischen der vergänglichen Weltzeit – dem Saeculum – und der göttlichen Ewigkeit. Der Antisemitismus beharrt dagegen auf der älteren, zyklischen Zeitvorstellung: Auf jeden Aufstieg folgt ein Niedergang. Entsprechend glauben Antisemiten tatsächlich, sie – wir alle – stünden an einem gefährlichen Abgrund und könnten nur durch die Vernichtung der Verschwörer und die Rückkehr zu einem mythologischen Uranfang „die gute, alte Zeit“ wenigstens wieder für eine Weile herstellen.

So glaubte auch Hitler nicht, dass sein „Tausendjähriges Reich“ ewig sein würde. Stattdessen ließ er sich im Rahmen der sogenannten „Ruinenwerttheorie“ von Albert Speer Zeichnungen vorlegen, die seine noch gar nicht erbauten Gebäude als Ruinen darstellten. Mit Rom musste Germania mithalten. Auch in „Mein Kampf“ betonte Hitler, dass die „Rasse“ das einzig Ewige sei. Dieser Begriff wurde in Europa aus dem arabischen raz für Kopf und Herkunft abgeleitet und legt jeden Menschen ewig auf seine Herkunft, sein „Blut“ fest.

Wo Semiten an Fortschritt und zum Beispiel die Erforschung von Mond und Sternen glauben können, vermuten Antisemiten also immer wieder nur Verschwörung und Niedergang. So misstrauen sie Wissenschaftlerinnen und Ärzten und behaupten, der Name der US-Raumfahrtbehörde NASA bedeute auf Hebräisch: Täuschen. Und wer will, kann von hier aus dann nicht nur die US-Mondlandung leugnen, sondern auch gleich die antisemitische Verschwörung wieder ins Dämonische erweitern und von außerirdischen Reptiloiden erzählen. Eine entsprechend ausgearbeitete, antisemitische Alien-Verschwörungsmythologie finden wir bereits im frühen Internet, so bei der 1997 nach einem Gruppensuizid erloschenen „Heaven’s Gate“-Gemeinde.

Du setzt dagegen semitische Mythen. Dennoch – ein wenig von den Grundgedanken der Frankfurter Schule finde ich auch bei Dir: eine einfache historische Dialektik in der Form, dass der Mensch ein geschichtlicher Mensch ist, oder dass die Erfindung des Alphabets alles grundlegend verändert habe, dass Fortschritte wie die Dampfmaschine (S. 150f.) auch „neue Ausbeutungsverhältnisse, massive Umweltschäden“ usf. erzeugten. Warum empfiehlst du Mythen und nicht eine neue „Kritische Theorie“, also Wissenschaft?

Ich denke, das tue ich. Denn ich möchte ja gerade, dass auch wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler reflektieren, wo die Grenzen von Wissenschaft sind. Selbstverständlich enthalten auch unsere Vorstellungen von Vernunft, Menschenrechten, Fortschritt und sogar dem Sinn von Wissenschaft selbst mythologische Elemente. Niemand von uns kann auch nur empirisch beweisen, dass das Streben nach Erkenntnis einem höheren Sinn dient und es zum Beispiel rechtfertigt, dass andere Menschen unsere Arbeiten mitfinanzieren. Auch die Frage nach der Pflicht oder auch nur Berechtigung, neues, bewusstes Leben hervorzubringen – die Anthropodizee – konnten bislang nur religiöse Traditionen ausreichend normativ beantworten. Die Argumente des Antinatalismus finde auch ich innerweltlich völlig logisch und schlüssig.

Mir wäre ja schon sehr viel wohler, wenn wir in Wissenschaft und Öffentlichkeit deutlicher zwischen Theorien und Mythen unterscheiden würden. So halte ich den Begriff der „antisemitischen Verschwörungstheorie“ für sachlich falsch und grob verharmlosend, da er letztlich mythologisch-gnostische Aussagen über eine vermeintliche Superverschwörung als vermeintlich seriöse, wissenschaftliche Theorien präsentiert. Umgekehrt wünsche ich mir auch einen deutlich kritischeren Blick auf die biologistischen und antisemitischen Mythen, die gerade auch Aufklärer von Voltaire über Feuerbach bis Dawkins verkündet haben. Bei allem Respekt vor langen, internen Debatten auf Yggdrasil [Religionswissenschaftliche Diskussions-Mailingliste, d. Red.], an denen ich früher ja auch teilnahm: Ich erlebe eine starke, öffentliche und auch politische Nachfrage nach reflektierter und verständlich präsentierter Religionswissenschaft und würde mir da mehr auch öffentliche Aktivität á la REMID wünschen. Religionswissenschaft wird schon bei der Klärung von Sprache und der Einschätzung von Mythen und Medien gesellschaftlich dringend gebraucht.

Christoph Wagenseil ist Vorsitzender im Vorstand des Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienstes (REMID). Das Interview ist zuerst erschienen im REMID-Blog am 16. April 2019.

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