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Coronakrisen-Tagebuch

Gedanken zur Materie der Maske

Es ist kulturgeschichtlich leicht zu erklären, dass uns die bevorstehende Maskenpflicht mit gemischten Gefühlen konfrontiert. Und falls Ihnen nächste Woche im Supermarkt eine entlaufene Kobra über den Weg läuft, bitte bei der Frau mit Diamant-Maske abgeben.

Bild: Pexels/cottonbro

Mein Kind will jetzt endlich seine Maske basteln. Eine Kobra-Maske soll es sein. Und für mich mit Glitzer, Diamanten und Leuchtsteinen. Ich hingegen schiebe den Gedanken seit Tagen vor mir her. Aber ab Montag herrscht deutschlandweit Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr und in Geschäften. Also wird es Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen. In den vergangenen Wochen konnte unsere Gesellschaft viel über Gesichtsmasken lernen. Wer vorher nur Masken aus Tonerde und Aprikosen-Extrakt kannte, verfügt jetzt über jede Menge (Halb-)Wissen zu FFP2- und FFP3-Masken, zu Mund-Nasenschutz, Aerosolen, Atemventilen und CE-Kennzeichen. Trotz all der neugewonnenen Kenntnisse: der Gedanke, für die nächste Zeit in bestimmten öffentlichen Bereichen des Lebens das Gesicht zur Hälfte bedecken zu müssen, bleibt einfach fremd. Dieses Empfinden hängt wohl auch mit der mitschwingenden Symbolik von Masken zusammen. Denn wir wissen jetzt zwar viel über den physischen Gegenstand, also die Maske an sich, die innere Masken-Skepsis jedoch, das Gefühl des Unbehagens beim Tragen einer Maske oder schon bei der Vorstellung davon beruht doch eher auf dem, was wir mit dem Aufsetzen und Tragen von Masken verbinden.

Schon der irische Schriftsteller und Literaturtheoretiker Oscar Wilde wusste Ende des 19. Jahrhunderts: „In einem vulgären Zeitalter wie unserem brauchen wir alle Masken.“ Wildes Faszination für das Phänomen der Maske ist jedoch nur vor dem Hintergrund sozialer und kultureller Wertvorstellungen und des Zeitgeists im Viktorianischen England zu begreifen. Denn sein Interesse galt nicht dem greifbaren Gegenstand, der beispielsweise im Bereich des Theaters oder Karnevals (womit auch wieder die COVID-19-Brücke geschlagen wäre) zum Einsatz kommt, sondern dem, was die Maske bildlich verkörpert: die soziale Rolle. Figuren, die er in seinen Dramen entwirft, handeln geprägt von Heuchelei und Doppelmoral. Laut Wilde entlarvt die Maske mehr als sie vertuscht und – wie er in seinem Essay „Pen, Pencil and Poison“ zum Ausdruck bringt – „erzählt uns mehr als ein Gesicht.“ Konkret warf Wilde seinen viktorianischen Zeitgenossen vor, sich hinter der Maske der Höflichkeit zu verstecken und echtes Gefühl zugunsten gesellschaftlicher Konvention zu opfern. Deshalb erscheinen die Figuren in seinen Gesellschaftskomödien auch wie Marionetten. Fremdbestimmte Charaktere, deren wahre Wesen hinter Masken versteckt bleiben.

So viel zur Masken-Metapher bei Wilde. Der Schweizer Autor Richard Weihe hat eine ganze Kulturgeschichte über Masken geschrieben und beschreibt deren Bedeutung vom antiken Maskentheater bis in die Gegenwart. In „Die Paradoxie der Maske“ erläutert er, dass die Maske erst eine Funktion hat, wenn sie einem Gesicht aufgesetzt wird. Denn die Maske ist das, was das Gesicht nicht ist. Er erklärt die Maske zum paradoxen Gegenstand, denn sie zeigt, indem sie verbirgt. Im Vergleich zu Gesichtern, so Weihe, symbolisieren Masken das Künstliche, wortwörtlich Aufgesetzte und deshalb auch Trügerische. Sie verschleiern das Gesicht und damit das, was wir als natürlich und lebendig wahrnehmen.

Mit diesem Ansatz lässt sich wohl auch das befremdliche Gefühl erklären bei der Vorstellung, dass wir uns öffentlich bald alle mit Maske begegnen. Weil das Authentische des Gesichts, das für gelungene Kommunikation und für die Einschätzung des Gegenübers so essenziell ist, verloren gehen wird. Oder zumindest nicht mehr sichtbar sein wird. Eine Maske ist mehr als eine Hülle. Sie ist Verhüllung, Verschleierung, sie fühlt sich an nach Täuschung. Auch Schopenhauer thematisierte die paradoxe Beziehung von Maske und Gesicht, anhand des Begriffs „Person“. Im Lateinischen bedeutet persona Maske und Rolle. Schon etymologisch ( – nein, nicht epidemiologisch, wie es das ein oder andere SARS-CoV-2-überdosierte Auge vielleicht lesen möchte – ) ist also eine Verschmelzung von Person und Maske zu erkennen. Das Verstecken hinter einer Maske und das Spielen einer Rolle kann demnach fast als eine Art anthropologische Grundkonstante gedeutet werden, als etwas, das uns allen innewohnt. Auch der griechische Begriff prosopon bedeutet sowohl Maske als auch Gesicht, ein weiterer Verweis auf den grundlegenden Widerspruch der Maske, wie er bereits in der Terminologie angelegt ist.

Es ist also gar nicht so abwegig und kulturgeschichtlich leicht zu erklären, dass uns die bevorstehende Maskenpflicht mit gemischten Gefühlen konfrontiert. Aber damit mein Kind endlich basteln kann und weil es wenig zu begeistern ist für Wildes Sozialkritik oder Schopenhauers philosophische Thesen, werde ich meine Skepsis gegenüber Masken schnell noch einmal überdenken. Und falls Ihnen nächste Woche im Supermarkt eine entlaufene Kobra über den Weg läuft, bitte bei der Frau mit Diamant-Maske abgeben. Denn vornehm geht die Welt zugrunde.

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