Aus aller Welt
Humanismus und seine Möglichkeiten in Afrika
Hier berichtet der promovierte Religionswissenschaftler und Menschenrechtsaktivist Leo Igwe, welche Erfahrungen und Überzeugungen ihn zu seinem ausdauernden Einsatz für eine bessere Welt antreiben.
Der an der Universität Bayreuth promovierte Religionswissenschaftler und Menschenrechtsaktivist Leo Igwe ist eine der führenden Persönlichkeiten bei der Verbreitung humanistischer und aufklärerischer Gedanken auf dem afrikanischen Kontinent. Hier berichtet er nun, welche Erfahrungen und Überzeugungen ihn zu seinem ausdauernden Einsatz für eine bessere Welt antreiben.
Von Leo Igwe. Übersetzung: Mariko Junge
Ich möchte Ihnen meine Beweggründe erklären, warum ich Humanist bin und warum ich die letzten zwei Jahrzehnte meines Lebens der Arbeit und dem Kampf verschrieben habe, den Humanismus in Afrika voranzubringen. Humanismus ist eine Art und Weise des Denkens und Lebens, die davon ausgeht, dass wir Menschen in der Lage sind, die Welt zu verändern, ethische und bedeutungsvolle Leben zu leben, ohne uns auf einen Gott oder ein Dogma zu stützen. Humanismus ist nicht theistisch und bietet eine Alternative zu Religion. Er ist der Religion nicht entgegengesetzt.
Ich selbst wurde nicht in eine humanistische Familie hineingeboren. Humanist zu werden war für mich eine spannende Reise. Ich stamme aus einer religiösen katholischen Familie aus dem Südosten Nigerias. Meine Eltern waren Anhänger der traditionellen Religion vor Ort, doch wie die meisten Menschen ihrer Generation änderte sich das während ihrer Jugend. Mein Vater erzählte, dass er zum Christentum konvertierte, weil dies die einzige Chance auf formale Bildung war. Und so wurde ich religiös erzogen.
Meine Eltern stellten sicher, dass wir regelmäßig beteten. Besonders schlimm fand ich den Rosenkranz, denn der war so furchtbar lang und monoton! Als ich in der Grundschule war, wurde ich Ministrant und assistierte den Priestern der lokalen Kirche. Den Großteil meiner frühen Bildung erfuhr ich in katholischen Seminaren. Tatsächlich kam ich während meiner Ausbildung im Seminar zum ersten Mal mit der Idee des Humanismus in Kontakt. Die humanistische Einstellung stimmte mit meinen eigenen Vorstellungen davon überein, wie ich leben wollte. Die Betonung unserer Fähigkeit und Möglichkeit, durch unser menschliches Bemühen und unsere Initiative zu wachsen, fand ich befreiend und bestärkend.
Noch wichtiger – ich dachte, dass Afrika vom Humanismus profitieren könne. Er könnte hilfreich sein, die traditionellen Praktiken sowie religiösen und abergläubischen Überzeugungen zu bekämpfen, die zu viele Leben in dieser Region zerstören. Und ich dachte, Humanismus könne helfen, die Diskriminierung der Osu zu bekämpfen.
Neben den Igbos im Südosten Nigerias gelten die Osu als minderwertige menschliche Wesen. Die Menschen glauben, die Osu stammten von denen ab, die vor vielen Generationen den Göttern geopfert wurden. Als sozial unreine Menschen dürfen Osu niemanden heiraten, der einer höheren Schicht angehört, Diala genannt oder auch Söhne der Erde. Aufgrund dieses Glaubens werden zum Beispiel Heiratspläne plötzlich abgebrochen. Eine Frau, die in den Vereinigten Staaten lebt, erzählte mir, dass sie ihren Ex-Mann dort kennenlernte und heiratete. Doch seine Familie zwang ihn, sich scheiden zu lassen nachdem sie herausfanden, dass sie eine Osu war. Ein Mann aus Imo wiederum erzählte mir, dass seine Freundin schwanger wurde – doch als deren Eltern herausfanden, dass er ein Osu war, verkauften sie das Kind nach der Geburt.
Humanismus statt „Hexen“-Verfolgung
Humanistische Ideen könnten außerdem helfen, rituelle Morde zu eliminieren. Als ich ein Kind war, gab es diese Vorstellung, Menschen könnten reich und erfolgreich werden durch rituelle Opferung von Menschen. Mir wurde sogar Angst eingetrichtert vor Leuten, die die Igbos „Ndimgbuisi“ nennen, was so viel heißt wie „die, die menschliche Köpfe abschneiden“. Leider gibt es auch heute noch rituelle Morde und die Angst vor Ndimgbuisi besteht sowohl in ländlichen als auch urbanen Gegenden.
Vor einigen Jahren besuchte ich meine Heimatstadt im Südosten Nigeria und man erzählte mir, dass ein High-School-Schüler seinen Onkel enthauptet hatte. Der Junge war wohl für ein Geldritual bei einem lokalen Medizinmann und der Mann verlangte, dass er den Kopf eines Familienmitglieds brächte. Der junge Mann lockte seinen Onkel in einen nahen Busch und schnitt ihm den Kopf ab. Er brachte dem Medizinmann den Kopf, der ihn wiederum nicht annehmen wollte. Er sagte, dass sei nicht die Art Kopf, die er als Opfer akzeptiere. Eltern haben für Geldrituale ihre Kinder getötet. Kinder ihre Verwandten. Ritualisten zielen auf Menschen mit Albinismus, Buckel und, wie ich vor kurzem erfuhr, mit Glatze.
Humanismus könnte zudem helfen, Hexenverfolgung in der Region auszurotten. Hexen sind Menschen, von denen man denkt, sie hätten magische Kräfte, um anderen zu schaden. Als Kind erzählte man mir, Hexen, Amusu genannt, verwandelten sich nachts in Vögel, Katzen oder Insekten um anderen Schaden zuzufügen. Deshalb machen manche, denen Unglück wiederfährt wie etwa Tod, Krankheit, Unfälle, Prüfungsversagen oder Geburtsprobleme, vermeintliche Hexen in ihren Familien verantwortlich. Beschuldigte sind meist Frauen, Kinder oder Ältere. Menschen verlieren sich in Anschuldigungen, nachdem sie diese Personen in ihren Träumen gesehen haben oder einen Pastor, Propheten, Marabut oder Medizinmann konsultiert haben, der ihnen die Identität der Hexe offenbarte. Menschen attackieren, foltern, lynchen, verbannen oder verstoßen die, die sie der Hexerei verdächtigen.
Humanistische Werte könnten dabei helfen, religiös motivierten Extremismus, Gewalt und Blutvergießen in der Region zu beenden oder zumindest drastisch zu reduzieren. Seit der Unabhängigkeit gab es in Nigeria zu viele Fälle religiöser Konflikte und Blutbäder, vor allem im Norden des Landes. Religiöse Fanatiker, die die Sharia beschwören oder gegen den Besuch eines christlichen Evangelisten protestieren sowie die vermeintliche Entweihung ihrer heiligen Schrift führen zu mutmaßlichem Töten und Zerstörung von Leben.
Viele denken, Humanisten hätten keine Moral
Manche Menschen praktizieren ihren Glauben, indem sie ihre Religion, den heiligen Text, Traditionen oder Dogmen mehr wertschätzen als menschliche Leben. Humanistische Ideen könnten diese Verdrehung und das Ungleichgewicht zwischen Religion und Vernunft, Glaube an einen Gott und menschliche Wertschätzung korrigieren. Deshalb gründete ich 1996 die Nigerianische Humanistische Bewegung und wie Sie sich sicher vorstellen können, war dies eine sehr herausfordernde Aufgabe in Anbetracht des hohen Maßes an Religiosität in der Region. Ein religiöser Gelehrter, John Mbiti, beschrieb Afrikaner einst als notorisch religiös. 2009 zeigte eine Studie in 114 Ländern, dass Religiosität in den ärmsten Ländern am stärksten war. Sechs der zehn Staaten, in denen 95 Prozent der Bevölkerung angaben, Religion sei ein wichtiger Bestandteil ihres alltäglichen Lebens waren afrikanisch. Anthropologen stellten fest, dass Magie seit der Kolonialzeit einen fundamentalen Teil der afrikanischen Kosmologie und Psychologie darstellt.
Anfangs war es daher schwierig für mich, humanistische Ideen zu organisieren, mobilisieren und verbreiten. Wenige Menschen bekannten sich öffentlich zu uns. Manche, die unsere Veranstaltungen besuchten, blieben nach einiger Zeit wieder fern und folgten damit Warnungen ihrer Familien und Freunde. Ich erinnere mich an diesen jungen Mann, der regelmäßig an unseren Treffen teilnahm, aber plötzlich nicht mehr auftauchte. Ich ging ihn zuhause besuchen um herauszufinden, warum er nicht länger kam. Er erklärte, als er seiner Freundin von unserer Bewegung erzählte, habe sie zu ihm gesagt: Komm raus! Komm raus! Diese Leute sind Atheisten! Manche Menschen dachten, Humanisten seien Satanisten und huldigten dem Teufel. Andere waren der Ansicht, Humanisten hätten keine Moral und die humanistische Bewegung sei ein gefährlicher Kult. Doch trotz dieser negativen Wahrnehmung wuchs die Zahl unserer Unterstützer kontinuierlich.
Angefangen mit ein paar wenigen Kontakten in den 1990ern hat die Nigerianische Humanistische Bewegung heute hunderte Mitglieder und Unterstützer sowie Mitgliedsorganisationen im ganzen Land. Wir haben diverse Treffen und Konferenzen veranstaltet in Städten und Universitäten, etwa an den Universitäten in Ibadan, Calabar, Lagos, Benin, Owerry und Uyo. Auch haben wir uns in Abuja und Port Harcourt getroffen. 2001 organisierten wir sogar die erste internationale humanistische Konferenz in Subsahara-Afrika, in Ibadan. Seitdem haben sich weitere humanistische Organisationen und einzelne Aktivisten in anderen Afrikanischen Ländern zusammengefunden – in Ghana, Kenya, Malawi, Zimbabwe, Namibia, Botswana und Zambia. Säkulare Schulen wurden in Uganda errichtet. Eine Welle rationellen Erwachsens schwappt leise über die Region.
Humanismus wird zu einer Kraft im Kampf für sozialen Wandel. Humanisten beleuchten die Rechte Nichtgläubiger, Abtrünniger, Frevler. Wir möchten Afrikanern helfen zu verstehen, dass es ziemlich normal ist, nicht an Gott zu glauben und dass man denjenigen, die auf Religion verzichten, mit Respekt und Würde begegnen sollte. Humanisten in Nigeria initiierten die Kampagne, die zur Freilassung von Mubarak Bala führte. Seine Familie hatte ihn in eine psychiatrische Klinik einweisen lassen, nachdem er dem Islam entsagte. Ich habe die humanistische Plattform genutzt, mich für die Rechte von Schwulen und Lesben starkzumachen und klarzustellen, dass Homosexuelle Menschen sind wie jeder andere auch, die mit Würde und Respekt behandelt werden und deren Menschenrechte gewährleistet sein müssen. Humanisten haben Afrikaner gebildet und ihnen geholfen zu verstehen, dass Versuche, mit Hilfe ritueller Opferungen Geld zu machen oder Vermögen zu erweitern haltlos ist und Hexerei ein eingebildetes Verbrechen, das niemand begeht. Und dass die Diskriminierung der Osu ein grausamer, bedeutungsloser Brauch ist, der aufgegeben werden sollte.
Humanismus für Liebe, Zuwendung und rationales Mitgefühl
In Nigeria wurden der Hexerei bezichtigte Kinder gerettet. Es gab den Fall einer 8-Jährigen, Mädchen X. Ihr Vater beschuldigte sie, ihre Mutter getötet zu haben, da diese kurze nach der Geburt von Mädchen X starb. Ihr Vater vertrieb sie aus dem Haus und sie lebte fortan auf dem Dorfmarkt. Ein 40-jähriger Mann entführte Mädchen X und vergewaltigte sie mehrfach. Ich rettete sie und übergab sie dem Jugendschutz in Akwa Ibom. Die staatliche Organisation nahm das Kind einige Zeit in Obhut und schickte sie dann zurück zu ihrem Vater. Der vertrieb Mädchen X zum zweiten Mal und sie ging zurück, um mit dem zu leben, der sie missbrauchte. Ich rettete sie erneut und brachte sie in eine private Einrichtung der Kinderfürsorge. Mädchen X geht es vorerst gut. Sie besucht derzeit die High School.
In Malawi engagierte ich mich mit der lokalen humanistischen Organisation für die Freilassung von über 40 Frauen, die der Hexerei angeklagt waren und im Gefängnis saßen. Das Amtsgericht verurteilte diese Frauen, nachdem einige Kinder bezeugten, sie seien Hexen und hätten ihnen Hexerei beigebracht. In Nordghana arbeite ich zusammen mit dem Humanist Service Corp, um vermeintliche Hexen wieder einzugliedern. Sie wurden aus ihren Gemeinden vertrieben und waren gezwungen, in sogenannten Hexen-Camps zu leben, die sich in verschiedenen Teilen der Region befinden. Mindestens zehn der vermeintlichen Hexen wurden bereits wieder mit ihren Familien vereint. Wir werden weiter daran arbeiten sicherzustellen, dass beschuldigte Personen in diesen Orten zu ihren Familien zurückkehren können. Humanismus setzt sich ein für Leben, Freiheit, Würde und Fröhlichkeit in Situationen, in denen Menschen mit Tod, Grausamkeit, Unterdrückung und Diskriminierung konfrontiert sind, oft gestützt auf irrationalen Überzeugungen. Humanismus möchte menschliche Wesen erheben, nicht erniedrigen und verunglimpfen. Wo Aberglaube oder Religion Menschen zu Misshandlung und Verachtung verleiten, drängt Humanismus auf Liebe, Zuwendung und rationales Mitgefühl.
Während die humanistische Kampagne Erfolge und Fortschritt verbuchen kann, musste sie sich auch großen Herausforderungen stellen. Ich wurde festgenommen, inhaftiert und zusammengeschlagen von jenen, die unsere humanistischen Vorstellungen und Positionen ablehnen. 2009 stürmte der Mob einer „Hexenfindungskirche“, der „Liberty Gospel Church“, eine Konferenz, die wir organisiert hatten um Hexerei-Anschuldigungen und Kinderrechte zu diskutieren. Sie schlugen mich zusammen und brachten mich vor Gericht mit dem Vorwurf, ihr Recht, an Hexerei zu glauben, zu verletzen – doch am Ende verloren sie die Verhandlung.
Im Zuge der Rettung vermeintlicher Kinderhexen wurde ich von Polizisten festgenommen, inhaftiert und zusammengeschlagen. Sie beschuldigten mich der Entführung, obwohl sie mir nie sagen konnten, wen ich gekidnappt hätte. Während meines Verhörs sagte die Polizei nur, ich gehöre zu denen, die dem Land einen schlechten Ruf verliehen. Man hielt mich fest in einem fensterlosen Raum mit 50 weiteren „Verdächtigen“. Alle Insassen aßen, badeten, urinierten und koteten im selben Raum. Zwei Tage später wurde ich schließlich ohne weitere Anschuldigungen freigelassen.
Humanistische Ideen zu verbreiten birgt Risiken und Herausforderungen, doch diese Risiken lassen sich nicht damit vergleichen, was Afrikaner aufgrund religiösen Extremismus‘ und Aberglauben täglich erleiden müssen. Deshalb sollten Humanisten nicht aufgeben, ihre Ideen zu verbreiten, im Namen des Guten. Der humanistische Geist ist der prometheische. Es ist der Geist des Widerstands unter widrigen Umständen, unbeugsamer Optimismus sowie das Bekenntnis zu menschlichem Gedeihen und vollkommener Verwirklichung menschlichen Potentials in diesem einen Leben, das wir haben.