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Essay & Diskurs

Zuerst Mutter, dann Bürgerin

Die fehlende reproduktive Selbstbestimmung von Frauen schränkt ihre staatsbürgerlichen Rechte ein

Die fehlende reproduktive Selbstbestimmung von Frauen schränkt ihre staatsbürgerlichen Rechte ein

In den Bundesstaaten der USA wie in den Ländern der Europäischen Union herrschen mitunter strenge Gesetze, die Frauen Schwangerschaftsabbrüche erschweren. Teilweise wurden die Regelungen in der jüngsten Vergangenheit verschärft, was sowohl vom Europäischen Parlament als auch den Vereinten Nationen kritisiert wird. Abgesehen von den finanziellen Belastungen, rechtlichen Risiken und gesundheitlichen Gefahren für betroffene Frauen verdeutlichen die Entwicklungen, dass Frauen von staatlicher Seite immer noch eher als Mütter denn als Bürgerinnen gesehen werden. Die Frage der reproduktiven Selbstbestimmung müsste deshalb in der wissenschaftlichen wie politischen Diskussion stärker im Zusammenhang mit grundlegenden staatsbürgerlichen Rechten diskutiert werden.

Von Ashley Mantha-Hollands

Am 1. Dezember 2021 hielt der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten von Amerika eine Anhörung im Rechtsstreit Dobbs vs. Jackson Women’s Health Organization ab. Bei der Auseinandersetzung geht es um die Anfechtung eines Gesetzes des Bundesstaats Mississippi, das Abtreibungen nach der 15. Schwangerschaftswoche verbietet. Im selben Monat bestätigte der Oberste Gerichtshof ein texanisches Gesetz, das Privatpersonen das Recht einräumt, jeden zu verklagen, der einer Person geholfen hat, eine Abtreibung nach sechs Schwangerschaftswochen vorzunehmen. Allein im Jahr 2021 haben Landesparlamente in den USA 108 neue Gesetze erlassen, die das Recht auf Abtreibung einschränken. Bleiben sie bestehen, kommt dies einem regelrechten Rollback gleich: Die neuen Bestimmungen machen 50 Jahre Arbeit für die reproduktiven Rechte von Frauen zunichte.

Ashley Mantha-Hollands ist in der Forschungsgruppe International Citizenship Law als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Zuvor hat sie als Analystin für die OECD und die kanadische Regierung gearbeitet.

Angesichts dieser dramatischen Entwicklung muss nicht nur die wissenschaftliche und politische Debatte über Reproduktionsrechte neu geführt werden, auch die Frage nach der Rolle von Staatsbürgerschaft ist in diesem Zusammenhang entscheidend. Denn als Konzept kann Staatsbürgerschaft in der Regel an der Schnittstelle von Identität, politischer Teilhabe, Rechten und Pflichten sowie dem rechtlichen Status als Mitglied eines politischen Gemeinwesens verortet werden. Fragen der reproduktiven Gerechtigkeit betreffen alle dieser vier Bereiche: Unter welchen rechtlichen Bedingungen kann man sich (nicht) fortpflanzen? Wie können Frauen gleichberechtigt an der politischen Gemeinschaft teilnehmen, wenn sie unfreiwillig zur Mutterschaft gezwungen werden? Auf welche Weise sollte der Staat Fortpflanzung regulieren?

„Das Recht auf Abtreibung wird immer noch lediglich innerhalb des Grundrechts auf Gesundheit verhandelt.“

Feministische Wissenschaftlerinnen argumentieren bereits seit Langem, dass es einer vollständigen reproduktiven Selbstbestimmung für Frauen bedarf, damit sie vom Staat zuerst als Bürgerinnen und nicht als potenzielle Mütter angesehen werden. Dennoch wird Abtreibung – aufgrund der erheblichen Risiken, die eine erzwungene Schwangerschaft für Frauen mit sich bringt – immer noch innerhalb des Grundrechts auf Gesundheit verhandelt. Die Kontrolle über die Fortpflanzung eines Individuums geht aber über gesundheitliche Aspekte hinaus, denn sie betrifft den Kern der Existenz einer Person innerhalb einer demokratischen Gesellschaft.

Die Vereinigten Staaten sind nicht das einzige Land, das Schwangerschaftsabbrüche gesetzlich regelt; auch die Länder der Europäischen Union bestimmen, wer sich wann und wie fortpflanzen kann – mit teilweise dramatischen Konsequenzen. So gingen im November 2021 tausende Menschen in Polen auf die Straße, um gegen den Tod einer jungen Frau zu protestieren. Sie war verstorben, da das Krankenhauspersonal ihr aus Angst vor einem Verstoß gegen die strengen polnischen Abtreibungsgesetze lebensrettende Behandlungen vorenthielt. Im Jahr 2020 hatte das polnische Verfassungsgericht die für einen legalen Schwangerschaftsabbruch notwendigen Voraussetzungen verschärft: Abtreibungen sind demnach nur noch erlaubt, wenn das Leben der Mutter gefährdet ist. Bei Zuwiderhandlung drohen Ärztinnen und Ärzten bis zu drei Jahre Gefängnis. Für das Personal im Gesundheitssektor ist dieses Gesetz in der Praxis jedoch nur schwer umsetzbar. Das Europäische Parlament hat deshalb mit deutlicher Mehrheit das polnische Abtreibungsgesetz in einer Entschließung verurteilt.

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Auch in Malta ist die Gesetzeslage vergleichsweise streng. Dort sind Abtreibungen gänzlich verboten. Ausnahmeregeln für Fälle, in denen das Leben der Schwangeren in Gefahr ist, für schwangere Minderjährige oder Fällen von Vergewaltigung gibt es nicht. In Ungarn, Italien und den Niederlanden müssen betroffene Frauen erklären, dass sie die Schwangerschaft in soziale oder finanzielle Schwierigkeiten bringen würde. In Italien kann das Gesundheitspersonal „aus Gewissengründen“ und ohne Angabe von weiteren Gründen die Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs verweigern. Darüber hinaus erschweren dort und in einer Reihe weiterer europäischer Länder verschiedene Regelungen die Situation schwangerer Frauen, die einen Eingriff vornehmen lassen wollen oder müssen. Der Abbruch kann dann oft nicht rechtzeitig erfolgen oder führt zu hohen finanziellen Kosten für die Frauen. Zu diesen Regelungen gehören verpflichtende Wartezeiten, eine einseitige oder direktive „Beratung“ der Schwangeren und enge Fristen, die den Eingriff auf ein bestimmtes Zeitfenster beschränken. Eine oder mehrere dieser Einschränkungen gelten – neben Italien – für Belgien, Deutschland, Ungarn, Irland, Lettland, Litauen, Luxemburg, die Niederlande, Portugal, in der Slowakei und Spanien. Überall dort werden die körperliche Autonomie und die reproduktive Selbstbestimmung der Frauen durch den Staat eingeschränkt.

Oft führt dies dazu, dass allein die Beratung und Information über Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe gestellt wird. So wird nach aktueller Gesetzeslage in Deutschland Ärztinnen und Ärzten verboten, Patientinnen über Abtreibungen zu informieren. Am 17. Januar 2022 legte das deutsche Bundesjustizministerium einen Gesetzesentwurf vor, der den entsprechenden Paragrafen 219a des Strafgesetzbuches abschaffen soll. Die neue Regierungskoalition erklärte dazu, dass Ärztinnen und Ärzte die Möglichkeit haben sollten, öffentlich über Abtreibungen zu informieren, ohne eine Strafverfolgung befürchten zu müssen.

Dennoch bleibt Abtreibung in Deutschland nach wie vor „illegal“, und der Zugang zu den Eingriffen ist an bestimmte Bedingungen geknüpft. In Irland galten bis zur Änderung durch ein Referendum im Jahr 2018 einige der strengsten  Abtreibungsgesetze in Europa. Teilweise mussten Frauen an Bord von Schiffen gehen, die in internationale Gewässer fuhren, nur um reproduktive Aufklärungs- und Informationsangebote straffrei in Anspruch zu nehmen. International regt sich immer mehr Kritik an der staatlichen Einschränkung reproduktiver Rechte. So hat die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für das Recht auf Gesundheit, Tlaleng Mofokeng, den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten aufgefordert, in den anhängigen Rechtsstreitigkeiten das grundsätzliche Recht auf Abtreibung zu bestätigen. Sie befürchtet, dass andernfalls die rechtlichen Regelungen anderer Länder beeinflusst und auch dort strengere Abtreibungsgesetze eingeführt werden könnten. „Wenn die USA niesen, bekommt der Rest der Welt eine Erkältung“, sagte Mofokeng in Anspielung auf das mögliche Szenario eines solchen Dominoeffekts in anderen Teilen der Welt.

Dass diese Sorge nicht unbegründet ist, belegen die nachgewiesenen Auswirkungen strenger Abtreibungsgesetze eines Landes auf die Rechtsordnungen benachbarter Staaten. So nutzen Frauen in den Vereinigten Staaten und in Ländern der EU ihr Recht auf Mobilität: Sie reisen über Binnen- und Landesgrenzen hinweg, um ungewollte Schwangerschaften abzubrechen. Mittlerweile hat sich dafür der Begriff „Abtreibungsmigration“ etabliert. In den USA wurde von Fällen berichtet, in denen Frauen aus Texas nach Louisiana, New Mexico, Oklahoma, Denver und Colorado gereist sind, um den Eingriff vornehmen zu lassen. Die Reisen sind zeitaufwendig und kostspielig für die betroffenen Frauen. Sie haben oft einen Verdienstausfall aufgrund der nötigen Freistellung von der Arbeit und müssen für Transport, Unterkunft und die meistens teure Abtreibung selbst bezahlen. Für Frauen mit niedrigem Einkommen bedeuten diese Kosten das größte Hindernis für reproduktive Selbstbestimmung. Dabei leben beispielsweise im Bundesstaat Mississippi 75 Prozent der Frauen unter der Armutsgrenze, 19 Prozent der weiblichen Bevölkerung haben keine Krankenversicherung.

„Die volle reproduktive Selbstbestimmung bleibt ein weit entferntes Ziel.“

In der EU beobachten wir ähnliche Entwicklungen. So reisen polnische Frauen in die Tschechische Republik oder die Slowakei, um Abtreibungen in dortigen Kliniken vornehmen zu lassen. Auch für diese Frauen ist dies oft mit hohen finanziellen Kosten verbunden. Die Pandemie hat die Situation zudem aufgrund von Reisebeschränkungen verschärft. So sahen sich mehr als 30.000 polnische Frauen seit Inkrafttreten des strengen Gesetzes gezwungen, illegale oder Abtreibungen im Ausland in Anspruch zu nehmen.

Dieser Überblick über die Lage von Frauen in der EU und in den Vereinigten Staaten zeigt klar: Die volle reproduktive Selbstbestimmung bleibt ein weit entferntes Ziel. Als Konsequenz sind Frauen in der Gestaltung ihres Lebens eingeschränkt und müssen oft hohe zusätzliche Kosten schultern, die sie an der gesellschaftlichen und politischen Teilhabe in ihren Ländern hindern. Denn letztlich bedeuten die gesetzlichen Beschränkungen für legale und sichere Abtreibungen eines: Der Staat sieht die Rolle der Frau immer noch eher als Mutter denn als Bürgerin. Trotz ihrer Brisanz und Bedeutung ist die reproduktive Gerechtigkeit in der wissenschaftlichen Literatur zu Staatsbürgerschaft und Demokratietheorie bisher merkwürdigerweise nur am Rande behandelt worden. Die gesellschaftliche Entwicklung in vielen Ländern verdeutlicht, dass es dabei zukünftig nicht nur um Abtreibung gehen wird, sondern um das umfassendere Thema einer staatlich regulierten Reproduktion, die nicht heteronormative Paare und alleinstehende Frauen genauso betrifft. Für die Sozial- und Rechtswissenschaften heißt das: Wir müssen die Theorien der reproduktiven Gerechtigkeit erweitern und die Beziehung zwischen Reproduktion und Staatsbürgerschaft stärker empirisch in den Blick nehmen.

Der Beitrag ist zuerst in den WZB-Mitteilungen, dem Forschungsmagazin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY 4.0 erschienen. Die Zweitveröffentlichung erfolgte auf dieser Grundlage. Hier finden Sie die Originalveröffentlichung. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF lesen.

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