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Baden-Württemberg

Grünes Licht für Ethik?

Die Humanisten Baden-Württemberg wollen nun Druck im neuen Landtag und beim Kultusministerium machen.

Die Schlechterstellung konfessionsfreier und nichtreligiöser Schüler im wichtigen Bereich der schulischen Wertebildung trägt teils absurde Züge. Zu diesem Schluss kommt eine am 17. Mai 2016 in Stuttgart vorgestellte Analyse zur Situation von ethisch-moralisch bildenden Unterrichtsfächern in deutschen Schulen. Die Humanisten Baden-Württemberg wollen nun Druck im neuen Landtag und beim Kultusministerium machen.

Auch mehr als vier Jahrzehnte nach der erstmaligen Einführung von Ethikunterricht in den Ländern Bayern und Rheinland-Pfalz werde Millionen konfessionsfreier Schüler und Eltern das Angebot einer vollwertigen ethisch-moralisch bildenden Alternative zu den Religionsunterrichten vorenthalten, kritisierte der Fachverband Ethik in seiner vor wenigen Wochen veröffentlichten „Denkschrift zum Ethikunterricht – Zwischen Erfolg und Diskriminierung“.

Laut dem Fachverband wird ein ethisch-moralisch bildendes und weltanschaulich neutrales Fach unter variierenden Bezeichnungen wie „Ethik“ (Baden-Württemberg), „Werte und Normen“ (Niedersachsen) oder „Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde“ (Brandenburg) zwar heute in 12 von 16 Bundesländern unterrichtet und von derzeit knapp 1,7 Millionen Schüler bundesweit besucht. Doch mit Ausnahme von wenigen Bundesländern ist es in vielfältiger Hinsicht teils sehr schlecht um das Angebot wertebildender Unterrichtsfächer ohne konfessionell-religiöse Ausrichtung bestellt. „Das Fach Ethik bewegt sich zwischen einem über 40 Jahre andauernden bildungspolitischen Skandal und einer Erfolgsgeschichte ab der Wiedervereinigung“, so die Autoren der Denkschrift. Vielen Schülern würden in der derzeitigen Situation weiterhin „grundlegende Bildungsgüter vorenthalten, die im Unterricht der Ethikfächer erworben werden“.

So auch zwischen Mannheim, Ulm, Konstanz und Freiburg, denn trotz vollmundiger Versprechen im Koalitionsvertrag der vergangenen rot-grünen Regierung ist die Einführung von Ethikunterricht ab Klassenstufe 1 als wertebildende Alternative zu den Religionsunterrichten bis heute ausgeblieben. Und es muss bereits jetzt ernsthaft gefragt werden, ob sich das unter der nach der Landtagswahl 2016 gebildeten grün-schwarzen Koalition ändern wird. Der Blick auf einige seit März gesetzte Eckpunkte muss jedenfalls erhebliche Bedenken zu den Erfolgsaussichten dieses Vorhabens wecken.

Trau, schau, wem: Was sagt der neue Koalitionsvertrag?

Denn hohe Priorität in den Vereinbarungen zwischen Grünen und Christdemokraten besitzt offenbar weniger die Entwicklung eines Angebots für die rund 25 Prozent Konfessionsfreien in unserem Bundesland, sondern vielmehr die Ausweitung von Religionsunterricht für die etwa 5 Prozent der baden-württembergischen Bürgerinnen und Bürger islamischen Glaubens. „Der bekenntnisgebundene Religionsunterricht hat an unseren Schulen in Baden-Württemberg seinen festen Platz und ist ordentliches Unterrichtsfach. Wir werden das Modellprojekt zum islamischen Religionsunterricht weiter ausbauen. Überall dort, wo er nachgefragt wird, wollen wir den islamischen Religionsunterricht ermöglichen. Wir streben an, dass sich aus dem Modellprojekt ein regulärer islamischer Religionsunterricht entwickeln kann“, so der neue Koalitionsvertrag mit dem Titel „Verlässlich. Nachhaltig. Innovativ.“ wörtlich.

Zum Ethikunterricht zeigt sich die Koalition deutlich schmallippiger. „Wir werden für die Schülerinnen und Schüler, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, den Ethikunterricht schrittweise ausbauen“, so die Äußerung zum Schluss der Passage über die Regierungsvorhaben bei den wertebildenden Schulfächern. Zum Vergleich, im alten Koalitionsvertrag hieß es noch vor den Äußerungen zum islamischen Religionsunterricht: „Ethik soll neben Religion als Alternative schrittweise ab Klasse 1 eingeführt werden.“

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Gläserne Wände - Bericht zur Benachteiligung nichtreligiöser Menschen in Deutschland

Verlässlich, nachhaltig, innovativ?

Auch der Blick auf die neue Besetzung des zuständigen Kultusministeriums trägt nicht dazu bei, Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Koalitionsvereinbarungen auszuräumen. Nachdem die Sozialdemokraten bei der Landtagswahl 2016 eine herbe Schlappe verzeichnen mussten, wird das Ministerium nun von der promovierten Philosophin und Linguistin Susanne Eisenmann (CDU) geführt. Vor der Landtagswahl hatten die Christdemokraten zur Frage nach Ethikunterricht in den Wahlprüfsteinen der Humanisten Baden-Württemberg erklärt, man verstünde das „Fach Ethik als alternatives Ersatzfach, jedoch kein vollständiges Substitut. Der christliche Religionsunterricht ist für uns Ausdruck der Traditionen der christlich-jüdisch-abendländischen Kultur unseres Heimatlandes. Der bekenntnisorientierte Religionsunterricht steht für uns nicht zur Disposition und kann auch nicht adäquat durch Ethik-Unterricht ersetzt werden. Für die größere Anzahl an Zuwanderern befürworten wir den Ausbau von Islamunterricht in möglichst hoher Qualität.“ – Ein klares Bekenntnis zur Gleichberechtigung von konfessionell gebundenen und konfessionsfreien Bürgern, zu denen ja nicht zuletzt auch die Heranwachsenden zählen, bei der schulischen Wertebildung liest sich anders.

Wie und wann es hier nun tatsächlich weitergeht, ist derzeit ziemlich offen. Zu den aktuellen Koalitionsvereinbarungen sagte die bildungspolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Anfang Juni: „Für die konkrete Umsetzung muss das CDU-geführte Kultusministerium nun ein Konzept und einen Fahrplan entwickeln, über das die Fraktionen der Koalition beraten können. Denkbar sind beide Modelle – eine Einführung ab Klasse 1 oder in umgekehrter Richtung schrittweise von Klasse 7 abwärts. Dies kann in der Koalition erst entschieden werden, wenn erste Vorschläge des Ministeriums zur Umsetzung und deren Kosten vorliegen.“

Seitens des Kultusministeriums selbst wollte man derzeit noch gar keine Angabe machen, ein Sprecher bat um Geduld und kündigte an, dass eine erste Stellungnahme dazu in einigen Wochen erwartet werden könne.

Verfassungsbeschwerde noch unentschieden

Die Humanisten Baden-Württemberg sind daher nun in die Offensive gegangen, um dieses Thema sowie weitere Problemfelder auf die Agenden der baden-württembergischen Fraktionen zu bringen. Am 20. Mai 2016 wurde deshalb der Bericht Gläserne Wände zur Benachteiligung nichtreligiöser Menschen an die 143 Abgeordneten im Stuttgarter Landtag übergeben. „Damit wollen wir die Aufmerksamkeit der Landtagsabgeordneten auf Probleme und Forderungen derjenigen Wählerinnen und Wähler lenken, die ihre Lebensauffassung ohne eine Bezugnahme auf religiöse Vorstellungen begründen“, sagte Vorstandssprecherin Gabriele Will zur Übergabe, die mit Hilfe der seit 2013 im Vorstand ebenfalls tätigen Andrea Müller-Mann und dem Geschäftsführer Andreas Henschel organisiert worden war. „Viele konfessionsfreie Menschen, die zweifellos ebenso wertvolle Beiträge für unsere Gesellschaft erbringen wie konfessionell organisierte Bürger, müssen leider sehen, dass in unserem Land für sie gilt: gleiche Pflichten, aber weniger Rechte. Dies steht den Vorgaben des Grundgesetzes entgegen und bricht mit den Prinzipien und Werten einer offenen, demokratischen Gesellschaft“, sagte Will weiter.

In der gleichen Woche war der Bericht auch den 16 Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe zugegangen, wo derzeit die Verfassungsbeschwerde der Freiburgerin Anna Ignatius anhängig ist. Sie hat ab 2006 auf die Einführung von Ethikunterricht ab Klassenstufe 1 als Alternative zum Religionsunterricht geklagt, nachdem das Kultusministerium einen entsprechenden Antrag abgelehnt hatte. Die Verfassungsbeschwerde wird auch von den Humanisten Baden-Württemberg unterstützt – wann die Richter aber schließlich darüber entscheiden, steht derzeit noch in den Sternen. Wie der Rechtsbeistand von Anna Ignatius mitteilte, habe er bislang keine neue Mitteilung dazu erhalten.

Konfessionsfreie: Bürger zweiter Klasse?

Dass humanistische Argumente und Vorschläge im Bericht Gläserne Wände trotz des ausgedehnten Netzwerks medialer und politischer Eliten mit kirchlicher Bindung (siehe dazu auch diesseits 1/2016, S. 13 ff.) bei wenigstens einem Teil der Bundesverfassungsrichter auf offene Ohren und sogar Wohlwollen stoßen, legt das Antwortschreiben eines Bundesverfassungsrichters nahe. Dieser dankte nicht nur für die Zusendung, sondern schrieb außerdem, dem Bericht sei es „in anerkennenswürdiger Weise gelungen, die Positionen, für die auch der Humanistische Verband eintritt, komprimiert und anschaulich darzustellen und so die Diskussion zu bereichern.“

Wunder sind aus Karlsruhe aber wohl trotzdem nicht zu erwarten. Daher wird es nicht leicht sein, das Thema tatsächlich gleichberechtigter Angebote im wichtigen Bereich der schulischen Wertebildung in den nächsten Jahren oben auf der Agenda der Regierungsfraktionen und des Kultusministeriums zu halten – aber auch die Opposition immer wieder an ihre Aufgaben zu erinnern. Ein Sprecher der SPD-Landtagsfraktion kündigte hier zunächst an, man werde „konstruktiv-kritisch begleiten, was die grün-schwarze Landesregierung auf diesem Gebiet zu tun gedenkt.“

Die Humanisten Baden-Württemberg werden als Impulsgeber und kritische Mahner gegenüber der Politik und Öffentlichkeit jedenfalls dringend gebraucht, wenn die Ausweitung des Ethikunterrichts nicht – wie in der letzten Legislaturperiode – im politischen Tagesgeschäft einfach wegverhandelt werden soll. Denn klar ist: Konfessionsfreie dürften nicht als Bürger zweiter Klasse behandelt werden, weder in der Schule noch anderswo.

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