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Aus aller Welt

Ein humanistischer Blick: Die Moderne und ihr Unbehagen

Die Welt, die wir geschaffen haben, bleibt ein zerbrechlicher Ort. Es ist eine sehr verwirrende Zeit, ein Mensch zu sein.

Von David I. Orenstein, New York

Foto: Chuko Cribb / Unsplash

Die Welt, die wir geschaffen haben, bleibt ein zerbrechlicher Ort. Wir werden täglich an die schwierigen Zeiten erinnert, in denen wir leben. Es ist eine sehr verwirrende Zeit, ein Mensch zu sein. Es sind Zeiten des Überflusses und der Knappheit, der extremistischen Gewalt und der erstarkten Bewegungen für soziale Gerechtigkeit, der unglaublichen technologischen Innovation und der sich ausbreitenden Unwissenheit, die die Grundlagen der Vernunft und der säkularen Demokratie bedroht.

Dr. David I. Orenstein ist der Präsident der Secular Humanist Society of New York und ehemaliger Vertreter der American Humanist Association bei den Vereinten Nationen.

Seit mehr als zwei Jahren wird der Globus von einer Pandemie heimgesucht, wie es sie seit mehr als hundert Jahren nicht mehr gegeben hat. Durch Covid-19 haben wir zu viele Familienmitglieder, Freund*innen und andere geliebte Menschen verloren. Gleichzeitig mussten wir uns mit einer anhaltenden Desinformationskampagne auseinandersetzen, die von Leuten geführt wird, die eifrig politische oder wirtschaftliche Vorteile darin sehen, andere davon zu überzeugen, dass die öffentliche Gesundheitspolitik darauf abzielt, zu schaden, anstatt zu heilen, und dass wissenschaftliche Behörden Lügnende mit geheimen, verschwörerischen Absichten sind.

Um die Sache noch schlimmer zu machen, hat Wladimir Putin, der oligarchische Führer Russlands, eine aggressive Kampagne gestartet, um Provinzen zurückzuerobern, die international als souveräne Staaten anerkannt worden sind. Nationen wie die Ukraine mit ihren eigenen Regierungen, Volkswirtschaften, Bürger*innen und kulturellen Identitäten sind in Gefahr.

Während ich diese Zeilen schreibe, ist Putins Krieg noch im Gange. Die historische Ironie und die Tragödie dieses Krieges sowie der Verlust von Menschenleben sind sehr real. Seit sechzig Jahren hat es in Europa keinen Krieg mit territorialen Konflikten mehr gegeben, seit die damalige Sowjetunion in den 1950er und 1960er Jahren in die Tschechoslowakei und Ungarn einmarschierte und gleichzeitig andere Ostblockstaaten wie Polen und Rumänien in die Knechtschaft zwang. Spulen wir nur ein paar Jahrzehnte zurück, so sehen wir, wie ein rasender Adolf Hitler Deutschland und die Achsenmächte – Italien und Japan – in einen globalen Eroberungskrieg stürzt, der unermessliche Gewalt und Leid auf globaler Ebene verursacht.

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Vielleicht sind die folgenden Überlegungen spekulativ, aber sie sind es vielleicht wert, weiter diskutiert zu werden. Wird China, ein Land mit einer langen Geschichte sozialer Unterdrückung und der Missachtung internationaler Souveränitätsgesetze, dies als Gelegenheit sehen, um Taiwan zu erobern oder seine eigenen Einflusssphären zu erweitern? Werden Russlands Aktionen in Europa auf andere Kontinente und in Nationen übergreifen, deren antidemokratische Führer Möglichkeiten zur Expansion sehen? Werden die modernen Vereinten Nationen auf den Status eines Völkerbundes zurückgestuft werden, als ein aufstrebendes diplomatisches Weltgremium, das von Tyrannen und Ereignissen als unwirksam oder irrelevant angesehen wird, die es untauglich und machtlos machen, ungerechtfertigte Aggression und Leid zu stoppen?

Auch die Vereinigten Staaten sind nicht immun gegen die Verheerungen unserer menschlichen Fähigkeit, so unmenschlich gegeneinander zu sein. Es gibt einen deutlichen Aufschwung der Gewalt und vor allem einen steilen Anstieg von Hassverbrechen gegen viele ethnische Gruppen und Einwandernde. Diese Gewalt verunglimpft und konfrontiert unseren allgemeinen Anstand, unseren säkularen Humanismus und unsere verfassungsmäßigen Freiheiten.

Wahlbezirke werden neu gezeichnet und staatliche Gesetze verabschiedet, die jede*n Bürger*in daran hindern, das gleiche und autonome Wahlrecht zu haben. Im ganzen Land werden Gesetze erlassen, die das Recht der Frau auf reproduktive Freiheit einschränken oder ganz aufheben. Viele Medien und viele, die in hohe Ämter gewählt wurden, versuchen eifrig, Keile zwischen uns zu treiben und jede politische Diskussion an wohldefinierten Kulturkriegsgrenzen zu zerbrechen, was eine zivile Debatte unmöglich macht.

Und schließlich, und das ist erschreckend, sind lokale und staatliche Zensurmaßnahmen und Bücherverbrennungen fast jede Woche in den Nachrichten. Die Verweigerung des Zugangs zu Informationen hat in den Vereinigten Staaten zwar ihre eigenen historischen Präzedenzfälle, aber im letzten halben Dutzend Jahre wurden diejenigen, die uns das Recht nehmen wollen, frei zu lesen und zu sprechen, von religiösen und politischen Führern ermutigt. So sehr, dass ich glaube, dass wir jetzt eine Reihe von Gesetzen sehen, die man am besten als Blasphemiegesetze bezeichnen kann, die von staatlichen Gesetzgebern verabschiedet werden und die darauf abzielen, Pädagog*innen davon abzuhalten, Geschichte zu unterrichten, über vergangene und aktuelle Ereignisse zu debattieren und Informationen und Fakten zu verweigern, weil sie die religiösen Überzeugungen oder das rassistische Anspruchsdenken von jemandem stören.

Ein Beispiel dafür sind die „Don‘t Say Gay“-Gesetze, die in Florida und Tennessee verabschiedet wurden. Diese Gesetze werden von der republikanischen Legislative unterstützt, weil sie die Moderne aufhalten und gleichzeitig den weißen Christ*innen Macht verleihen. Ihre fortwährende soziale und politische Hoffnung besteht darin, die Geschichte und die reale Welt auszulöschen, während sie versuchen, die Geschichte und die reale Welt in eine ausschließlich weiße, evangelikale und nativistische Darstellung und Realität umzuschreiben und neu zu gestalten.

Diese Gesetzesentwürfe, die jetzt in Kraft treten, verlangen im Wesentlichen, dass weiße Menschen nicht gezwungen werden sollten, mit diesen Tatsachen oder vergangenen und gegenwärtigen Realitäten konfrontiert zu werden, wenn Fakten oder vergangene und gegenwärtige Realitäten religiösen Überzeugungen entgegenstehen, Gefühle der Selbstprüfung oder Schuld hervorrufen oder soziales Unbehagen verursachen. Die Gesetzentwürfe geben Eltern auch die Möglichkeit, Schulbehörden und einzelne Lehrkräfte zu verklagen, wenn sie Lehrpläne unterrichten oder zulassen, die sie als anstößig, unangenehm oder beunruhigend empfinden.

Diese Formen der gesetzlichen Zensur greifen den Geschichtsunterricht an, indem sie Informationen entfernen und unser Verständnis der Menschheit reglementieren. Sie machen das Lernen über Sklaverei und Sexualität zu Tabuthemen. Jahrzehntelang war dies die Domäne der religiös orthodoxen Evangelikalen und der Alt-Right (und in einigen Fällen der Alt-Linken). Sie haben versucht, den Unterricht über Evolution und natürliche Auslese durch Kreationismus zu ersetzen, den Zugang zu Büchern und Medien zu verweigern, die zu verstehen versuchen, was uns zu Menschen macht, und Staatsbürgerkunde durch einen nativistischen Hyperamerikanismus zu ersetzen, der an Faschismus grenzt.

Wenn die „Don‘t Say Gay“-Gesetze nicht der Definition von Blasphemie entsprechen, dann muss es eine andere Definition von Blasphemie in unserem Lexikon geben, die mir nicht bekannt ist. Wir denken oft, dass Blasphemiegesetze nicht westlich sind oder das Markenzeichen und die Leitprinzipien religiös geprägter Nationen im Nahen Osten sind. Aber es war schon immer einfacher, aus dem Fenster zu schauen als in den Spiegel, wenn man mit den Fehlern der eigenen Kultur, Politik und Geschichte konfrontiert wurde. Diese „Sag nicht schwul“-Gesetze sind Blasphemiegesetze und stehen im Widerspruch zu säkularer Demokratie und Freiheit. Punkt.

Das moderne Amerika ist nicht immun gegen die Fehler der Vergangenheit. Genauso wenig ist es immun gegen den Aufstieg globaler antidemokratischer Bewegungen oder schleichenden religiösen Faschismus. Wir müssen nur ein Jahr zurückblicken auf den gewaltsamen Aufstand vom 6. Januar 2021. Und jetzt, wo die Republikanische Partei diesen schrecklichen Tag, der von religiösen Faschisten und Pro-Trump-Anhängern verübt wurde, als „legitimen politischen Diskurs“ bezeichnet, fragen wir uns, wie es dazu kommen konnte und was wir dagegen tun können.

Als Humanist*innen müssen wir uns diesem Problem stellen. Als Bürger*innen der Vereinigten Staaten und als Weltbürger*innen müssen wir uns gemeinsam gegen die Anarchie stellen, die von den alten, neuen und in einigen Fällen wachsenden religiösen und antidemokratischen Bewegungen angeboten wird. Nicht nur um unserer eigenen Modernität willen, die auf der Akzeptanz unseres menschlichen Platzes im Kosmos, auf der Vernunft, auf der Akzeptanz von Wissenschaft und Fakten und auf den erstrebenswerten Idealen der säkularen demokratischen Freiheiten, die in unserer Verfassung und in der Menschenrechtserklärung der UNO niedergelegt sind, beruhen muss.

Aber auch, um diese Modernität an die nächste Generation weiterzugeben, die mit ähnlichen Fragen konfrontiert sein wird. Wir müssen zeigen, dass genügend gute Menschen aufstehen und diejenigen zurückschlagen, die die Wahrheit zensieren, schädigen und leugnen wollen. Wenn wir den politischen Willen dazu hätten, könnten wir meiner Meinung nach die Armut in der Welt beseitigen, die Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung beseitigen und jedem Menschen auf diesem Planeten eine Ausbildung ermöglichen.

Es steht viel auf dem Spiel und wir können als Humanist*innen und als moderne Menschen viel verlieren, wenn wir unsere Modernität verleugnen. Wenn wir keine Glieder in einer positiven Kette sind, um die Welt sicherer, reicher und freundlicher zu machen, dann haben wir für künftige Generationen das Geschenk verloren, das uns überliefert und gegeben wurde.

Dieses Geschenk ist die Chance, die Welt, die wir teilen, zu einem besseren Ort für einander zu machen. Eine sichere Welt, in der alle die Freiheit haben, mehr über die Natur zu lernen, als sich unsere Vorfahren je hätten vorstellen können. Dies ist die Welt, die wir anstreben und weitergeben müssen.

Das ist ein Geschenk, das Humanist*innen nicht auf die leichte Schulter nehmen sollten. Ich weiß, dass ich das nie tun werde.

Dieser Text wurde zuerst veröffentlicht in der Sommerausgabe 2022 von The Humanist.

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