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Aus aller Welt

Dawkins abservieren

Mit der Rücknahme einer Auszeichnung ehrt die American Humanist Association den Humanismus.

Mit der Rücknahme einer Auszeichnung ehrt die American Humanist Association den Humanismus.

Von James Croft, Saint Louis (Missouri, USA)

Der britische Evolutionsbiologe und Erfolgsautor Richard Dawkins ist seit kurzem um eine humanistische Auszeichnung ärmer. Foto: A. Platzek

Am 19. April hat die American Humanist Association Richard Dawkins die Auszeichnung „Humanist des Jahres“, die sie 1996 an ihn verliehen hatte, aufgrund einer Reihe öffentlicher Äußerungen, „die den Deckmantel des wissenschaftlichen Diskurses nutzen, um Randgruppen zu erniedrigen“, aberkannt. Sie bezog sich auf zahlreiche Tweets und andere Äußerungen, in denen sich Dawkins in unsensibler, ignoranter und absichtlich provozierender Weise in Diskussionen über Transgender-Identität und Rasse eingemischt hat – etwas, das von niemandem vernünftig bestritten werden kann, der 1) seine Geschichte der Tweets kennt und 2) ein Verständnis vom zeitgenössischen Diskurs über soziale Gerechtigkeit hat.

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Dies hat eine ziemlich starke Reaktion hervorgerufen. Das Center for Inquiry (CfI, eine in den USA ansässige Freidenker*innen-Organisation, die jetzt mit der Richard Dawkins Foundation for Reason and Science verbunden ist) veröffentlichte zunächst einen Blogbeitrag, der dann wieder entfernt wurde. Dieser kritisierte die Entscheidung und nannte sie einen „Verrat an humanistischen Werten“. Ron Lindsay, der Autor des Beitrags, rechtfertigte seine Ablehnung, indem er an die humanistische Verpflichtung zum Diskurs und zur freien Meinungsäußerung appellierte und sagte: „Wir glauben fest an die freie Meinungsäußerung und wir sind bereit, andere Standpunkte zu unterhalten und zu berücksichtigen, sogar kontroverse Standpunkte.“ Er nannte den Entzug des Preises „Zensur“ und die Etablierung von „Dogmen, die nicht in Frage gestellt oder diskutiert werden können.“ (Es ist nicht ganz klar, wie die fast sofortige Entfernung des Beitrags von der CfI-Website in diese Charakterisierung passt: Hat das CfI jetzt auch „Dogmen“?)

Der britische Blogger Stephen Knight, Gastgeber des „The Godless Spellchecker Podcast“, schrieb einen Artikel, in dem er die American Humanist Association, die American Atheists und die Secular Coalition for America beschuldigte, sich „der aufgeweckten Kirche“ anzuschließen. Er schließt sein Stück wie folgt ab:

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„Wir haben jetzt atheistische, humanistische und säkulare Organisationen, die versuchen, ein Klima zu schaffen, in dem die bloße Diskussion über dieses Thema als jenseits der Grenze und würdig der Exkommunikation angesehen wird. Das ist es, was Ideolog*innen tun. Und wie alle Gruppen von Ideolog*innen werden sie schließlich unter der Kraft ihrer eigenen Reinheitskriterien implodieren.

Ich habe in den letzten Jahren mein Interesse an atheistischen/humanistischen/säkularen Mainstream-Gruppen in den Staaten verloren. Sie sind völlig infiziert mit der „Woke“-Ideologie. Es gibt kein Rückgrat, keine Radikalität, keinen Raum für Heterodoxie. Sie haben einfach nur eine Kirche zugunsten einer anderen abgelehnt.“

[„Woke“ bedeutet wach, wachsam, aufgeweckt – die Red. Mehr dazu siehe Wikipedia-Lemma.]

Sogar die Daily Mail, eine britische Boulevardzeitung, brachte dazu einen Artikel. Toby Young schrieb: „Woke humanists have become as dogmatic as religious fundamentalists“ – „Aufgeweckte Humanist*innen sind genauso dogmatisch geworden wie religiöse Fundamentalist*innen“. Die Zeitung ist kein seriöses Medienorgan: Sie ist bei vielen in Großbritannien als „Daily Hate Mail“ bekannt. Eine ihrer Titelstories ist derzeit eine Schimpftirade über den „woke Mob“, der sich die Worcester-Sauce (ein beliebtes Gewürz) holt, es ist also keine Überraschung, dass sie sich darüber aufregen. Aber man könnte meinen, dass professionelle Journalist*innen versuchen würden, ein wenig Integrität zu bewahren und sich nicht zu solch absurden Übertreibungen wie denen von Young herablassen. Er behauptet, dass die AHA „vom Woke-Kult gefangen genommen wurde, einer ideologischen Bewegung der harten Linken, die genauso dogmatisch und intolerant ist wie fundamentalistische Christ*innen und Islamist*innen.“

Seitdem haben sich andere zu Wort gemeldet, darunter Harvard-Professor Steven Pinker, der einen offenen Brief an die AHA schrieb, in dem er den Schritt kritisierte und ihn als Versuch bezeichnete, Dawkins zu „bestrafen, zu entehren oder zu demütigen“. Die AHA habe Dawkins „dämonisiert“, so Pinker, und auf „illiberale“ Weise gehandelt. Dawkins sei sogar als „Ketzer“ „exkommuniziert“ worden, und die ganze Angelegenheit weise auf eine „neue Inquisition“ hin. Jordan Peterson, Selbsthilfe-Guru und Avatar des intellektuellen Dark Web, veröffentlichte einen unglaublich seltsamen Tweet, in dem er den Zorn Gottes auf die American Humanist Association herabrief:

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All diese Kommentator*innen (natürlich keiner von ihnen trans) bringen in etwa das gleiche Argument vor: dass die Entscheidung der AHA, Dawkins den Preis zu entziehen, ein Beweis dafür ist, dass der organisierte Humanismus einen seiner wertvollsten Werte kompromittiert hat – die Freiheit des Denkens, der Rede und des Diskurses – zugunsten eines dogmatischen und engstirnigen Bekenntnisses zu einer engen Reihe von Meinungen, die gegenwärtig von linken Witzfiguren vertreten werden. Dawkins wird „zensiert“, „zum Schweigen gebracht“ und „gelöscht“, weil er es wagt, Fragen zu einem kontroversen Thema zu stellen, das legitimerweise Teil des öffentlichen Diskurses sein sollte. Sie alle machen auf das aufmerksam, was sie als ironische Ähnlichkeit zwischen der Entscheidung der AHA und den Aktionen fundamentalistischer religiöser Gruppen sehen, die seit langem das Ziel humanistischer Kritik sind.

Dieses Argument ist von vorne bis hinten kompletter und abgrundtiefer Unsinn. Erstens, wie alle diese Kommentator*innen wissen, hat Dawkins durch die Entscheidung der AHA kein bisschen seiner Freiheit zu denken oder zu sprechen verloren. Ihre Entscheidung, den Preis zu widerrufen, ist eine Ausübung ihrer eigenen Vereinigungsfreiheit und ein Versuch, ihre institutionelle und philosophische Integrität zu bewahren – Handlungen, die vollkommen im Einklang mit der Teilnahme an einer freiheitlichen Gesellschaft stehen. Es hindert Dawkins in keiner Weise daran, zu sagen, was ihm gefällt. Seit dem letzten beleidigenden Tweet ist er auf Twitter weiterhin aktiv und wirbt für sein neu erschienenes Hörbuch, seine Auftritte in prominenten Podcasts, usw. Er wurde nicht „zum Schweigen gebracht“ oder irgendwie „exkommuniziert“.

Zweitens ist die Entscheidung der AHA nicht einmal ein Versuch, Dawkins daran zu hindern, seine Ansichten zu verbreiten. Es ist ein Ausdruck ihrer eigenen Nichtübereinstimmung: etwas, das durchaus innerhalb ihrer Rechte als autonomer Organisation liegt. Jede gemeinnützige Organisation wie die AHA hat das absolute Recht, Auszeichnungen zu entziehen, wenn sie das Gefühl hat, dass eine fortgesetzte Verbindung mit dem Preisträger nicht mehr mit ihren Werten übereinstimmt. Das ist natürlich genau das, was die AHA in ihrer eigenen Erklärung gesagt hat: dass Dawkins‘ wiederholte Einmischungen in ethisch heikle Angelegenheiten nicht mit ihrem Engagement für die Menschenwürde, und insbesondere die von Trans-Personen, vereinbar sind.

Drittens ist es wirklich unglaublich, dass diese Kommentator*innen die Behauptung von Dawkins für bare Münze nehmen, er wolle lediglich eine intellektuell und kulturell wichtige Frage in einer uneigennützigen Art und Weise aufwerfen. Das ist es, was mich am meisten an der Herangehensweise dieser Kritiker an dieses Thema stört: Um sie beim Wort zu nehmen, müssen wir glauben, dass sie – während sie seine Beiträge zur Wissenschaft und zum Freidenkertum loben – denken, dass Richard Dawkins fantastisch dumm ist. Dass er einfach nicht die Fähigkeit hat, zu verstehen, wie seine Worte im aktuellen politischen Kontext ausgelegt werden könnten, und nicht in der Lage ist, seine Ideen sorgfältiger zu formulieren.

Aber Dawkins ist nicht dumm. Wie die AHA in ihrer eigenen Erklärung sagte, hat er „bedeutende Beiträge“ zur Wissenschaft und zur wissenschaftlichen Bildung geleistet und ist einer der führenden öffentlichen Intellektuellen der Welt. Er ist durchaus in der Lage, die Art von Signal zu verstehen, das er mit seiner „Frage“ aussendet: Er signalisiert denjenigen, die seine offensichtliche Skepsis gegenüber der „Realität“ der Transidentität teilen, dass er auf ihrer Seite steht, während er ein Fünkchen Bestreitbarkeit aufrechterhält, wenn die unvermeidliche Kritik kommt. Online nennen wir das JAQing off – „Just Asking Questions!“, wenn die „Fragen“ in Wirklichkeit dünn verhüllte Aussagen sind.

Die AHA hat diese grundsätzlich unehrliche und feige Vorgehensweise durchschaut und beschlossen, Stellung zu beziehen, und das ist gut für sie. Ich für meinen Teil habe die Nase voll von intelligenten, überaus gebildeten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die sich nicht trauen zu sagen, was sie wirklich glauben, und die Kontroversen provozieren, indem sie sich an heikle Themen heranwagen und „Fragen stellen“ und „Punkte zur Diskussion stellen“, und dann unaufrichtige „Entschuldigungen“ posten, wenn sie die kritische Reaktion bekommen, die sie eigentlich erwartet haben. Kein denkender Mensch kann ernsthaft glauben, dass ausgerechnet Twitter ein guter Ort ist, um eine Diskussion über irgendein Thema zu führen, schon gar nicht über ein ethisch und politisch so sensibles wie Transsexualität und „Rasse“ – und was auch immer Dawkins sonst noch sein mag, er ist zumindest ein Mensch mit der Fähigkeit zu denken.

Aber was ist mit dem Argument, dass der zeitgenössische Humanismus zu einer Sekte mit seinen eigenen unhinterfragbaren Dogmen wird? Zieht sich der Vorstand der AHA Roben an und bereitet die Daumenschrauben vor? Nein, natürlich nicht. Vielmehr zeigen Schritte wie dieser, dass der organisierte Humanismus humanistischer wird. Humanismus bedeutet mehr als ein Bekenntnis zu Skeptizismus und Freidenker*innentum, und mehr als nicht an Gott zu glauben (und je mehr ich mich mit Humanismus beschäftige, desto weniger denke ich, dass das überhaupt eine Rolle spielt). Es bedeutet, sich für die Würde und den Wert aller Menschen einzusetzen; für die Unterdrückten und Ausgegrenzten zu kämpfen; gemeinsam für eine gerechtere Welt zu arbeiten; und danach zu streben, das Beste in uns selbst und in anderen hervorzubringen. Humanistische Organisationen sollten versuchen, diese positiven Werte jederzeit aufrechtzuerhalten, und indem sie sich von dem zunehmend abstoßenden Verhalten von Richard Dawkins distanziert haben, hat die American Humanist Association gezeigt, dass sie diesen Werten verpflichtet ist.

Natürlich sind Freidenker*innentum, Skepsis und intellektuelle Debatten zentral für das humanistische Projekt. Wir sollten wachsam sein gegen jede Tendenz zu Gruppendenken oder Sektierismus. Aber zu viele Jahre lang hat sich der organisierte Humanismus auf Freidenker*innentum und Skeptizismus konzentriert, zum Nachteil der breiteren Palette von Werten, die die Tradition hochhalten sollte. Er hat Figuren gefördert – ja sogar gelobt –, die zu Recht für ihre Beiträge zur Wissenschaft und zum Skeptizismus bekannt sind, die aber keine guten Repräsentant*innen für die Fülle unserer Tradition sind. Leute wie Sam Harris und Richard Dawkins wurden zu Lieblingen unserer Bewegung zu einer Zeit, in der sie sich viel zu sehr darauf konzentrierte, die Religion zu überwinden, und viel zu wenig darauf, Ungerechtigkeit zu besiegen. Das ändert sich jetzt, und einigen in der Bewegung gefällt die Veränderung nicht. Sie wollen an ihren Helden festhalten und wehren sich gegen die Kritik, die sie erhalten. Es bilden sich neue Kampflinien, und mit dieser Entscheidung hat sich die AHA für eine Seite entschieden.

Gut für sie, dass es die richtige ist.

James Croft ist Outreach Director der Ethical Society of St. Louis, eine der größten humanistischen Vereinigungen in den USA. Er ist ein gefragter öffentlicher Redner, ein engagierter Lehrer und ein leidenschaftlicher Aktivist für die Menschenrechte. James ist mit Shakespeare, Sagan und Star Trek aufgewachsen und ist ein stolzer, schwuler Humanist. Dieser Beitrag erschien zuerst in seinem Blog croftspeaks.substack.com

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1 Kommentar

1 Kommentar

  1. Frank Stößel

    22. Juni 2021 at 18:37

    “Es (Humanismus, FS) bedeutet, sich für die Würde und den Wert aller Menschen einzusetzen; für die Unterdrückten und Ausgegrenzten zu kämpfen; gemeinsam für eine gerechtere Welt zu arbeiten; und danach zu streben, das Beste in uns selbst und in anderen hervorzubringen. (James Croft, s.o.) Humanismus mit diesen tragenden Säulen so zu beschreiben ist für mich essentiell wie für James, bis auf die begriffliche Trennung von “Würde und Wert aller Menschen”. Nach meiner Ansicht ist die Würde aller Menschen mit deren Wert a priori eins. Der mit diesen universal gültigen Säulen aufgezeigte Humanismus löst mit fortschreitender Aufklärung darüber, was der Mensch ist und sein sollte, ohne laute Töne die parteiliche Sozialdemokratie weltweit ab, ohne dass sich der Humanismus entsprechend sozio-kulturell formiert und politisch organisiert, leider. Seit langem verdrängt die SPD um der Anpassung an die konservative Mitte willen, dass sie von ihrem Selbstverständnis her doch die soziale Demokratie als Regierungsform des Humanismus vertreten sollte. Weil sie das verleugnet, schlittert sie immer tiefer in die Bedeutungslosigkeit hinein. Das ist ein Trauerspiel für die Politik des praktischen Humanismus. Bislang kann er keine neue Heimat in einer, ihren Prinzipien, Zielen und Aufgaben entsprechenden, Partei, wie es z. B. einmal SPD und FDP sein wollten, finden. Das aber liegt nicht an uns aktiven Humanist*innen, wie wir uns das selbst gerne einreden, sondern an den vielen diversen und indifferenten Menschen, die sich von Religion und Kirche bereits abgewendet haben oder noch abwenden wollen, aber nicht getrauen, sich neu zu orientieren. Ermutigt zu diesem Schritt werden sie jedenfalls durch die von James Croft zu Recht kritisierten Äußerungen von Richard Dawkins bestimmt nicht. Insofern ist es gut, dass die AHA mit der Aberkennung ihrer Auszeichnung für Richard Dawkins ein Zeichen gesetzt hat, wo die rote Linie für uns Humanist*innen ist: bei Verächtlichmachung von Menschen, die anders sind, obwohl heute jedes Kind weiß, dass wir alle anders sind als der uns Nächste, und dass wir doch die gleiche Würde haben, die es gegenseitig zu achten gilt. Insofern sage ich danke, James Croft, für den deutlichen Hinweis, was wir nicht dürfen und dafür, was wir sollen, möchten wir uns Humanist*innen nennen und uns als solche zu fruchtbarer Arbeit besonders für den praktischen Humanismus vor Ort vereinen.

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