Essay & Diskurs
10 Jahre Verfassungsbruch im Verwaltungsgericht Düsseldorf: Wie lange noch?
Zugleich ein Plädoyer gegen einen weiteren Aufstieg des Präsidenten Andreas Heusch.
Zugleich ein Plädoyer gegen einen weiteren Aufstieg des Präsidenten
Von Dr. Ralf Feldmann1Richter am Amtsgericht a.D., Bochum
Im Verfassungsstaat hat das Verfassungsgericht in Verfassungsfragen das letzte Wort. Seine Entscheidungen begrenzen den Entscheidungsspielraum der Gesetzgeber, Exekutive und Justiz müssen ihnen folgen. Für die freiheitliche Grundordnung des Grundgesetzes ist diese Kompetenzordnung der rechtsstaatlichen Konfliktlösung grundlegend. Der Präsident des Verwaltungsgerichts Düsseldorf missachtet sie seit zehn Jahren fortgesetzt und vorsätzlich. Am Tag der Deutschen Einheit 2010 ließ er im Haupttreppenhaus des Gerichts ein Kreuz anbringen. Das war zu Beginn seiner Präsidentschaft die persönliche Antwort des gläubigen Katholiken gegen den Kruzifixbeschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1995 zur Verfassungswidrigkeit von Kreuzen in öffentlichen Räumen des Staates.
Kreuze im Gericht sind objektivrechtlich ein verfassungswidriger Zustand
Im Kruzifixbeschluss sah das Gericht darin – am Beispiel eines Kreuzes in einer staatlichen Pflichtschule – einen Verstoß gegen ein institutionelles Staatsprinzip: die Pflicht des Staates zur Neutralität gegenüber den unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen, weil es seit der Weimarer Reichsverfassung, durch das Grundgesetz bestätigt, keine Staatskirche mehr gibt. Die Neutralitätspflicht des Staates als Heimstatt aller Staatsbürger folge zudem auch aus der am Gleichheitssatz orientierten Auslegung des Grundrechts auf Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit des Art. 4 I GG. Danach sei es dem einzelnen überlassen zu entscheiden, welche religiösen Symbole er anerkenne und verehre und welche er ablehne. Das gebe ihm zwar kein negatives Recht, im gesellschaftlichen Bereich mit seinen unterschiedlichen Weltanschauungen von religiösen Äußerungen anderer verschont zu bleiben, wohl aber „in einer vom Staat geschaffenen Lage, in der der einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluss eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen er sich manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist.“ Art. 4 GG gebe keinen Anspruch auf Glaubensunterstützung durch den Staat, sondern zwinge ihn zur Neutralität gegenüber den verschiedenen Religionen und Bekenntnissen. Der Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher oder gar gegensätzlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben, könne die friedliche Koexistenz nur gewährleisten, wenn er selbst in Glaubensfragen Neutralität bewahre, sich am Gleichheitssatz orientiere und jede Identifikation mit Religionen und Weltanschauungen vermeide.
Danach dürfen staatliche Akteure – Regierungen oder einzelne Amtsträger – in öffentlichen staatlichen Räumen keine Kreuze anbringen oder dies allgemein anordnen. Dieses der Verfassung geschuldete Verbot administrativer Ausstattung mit Kreuzen oder anderen religiösen Symbolen hat das Bundesverfassungsgericht in späteren Entscheidungen bekräftigt. Zwar hat es ein individuelles Glaubensbekenntnis durch religiöse Symbole im Amt (Kopftuch der Lehrerin) als durch Art. 4 GG geschützte Grundrechtsausübung anerkannt, demgegenüber die institutionelle staatliche Pflicht zu strikter weltanschaulicher Neutralität aber nicht aufgehoben, sondern stets unterstrichen, zuletzt im Beschluss zum Kopftuch der Rechtsreferendarin: Das Kreuz im Gericht bleibt danach als Identifikation des Staates mit der christlichen Religion per se verfassungswidrig, das Kreuz als Halsschmuck oder das Kopftuch im Amt ist ein Problem praktischer Konkordanz von einerseits staatlicher Neutralität, dem Grundsatz der Funktionsfähigkeit der Rechtsprechung, der negativen Religionsfreiheit Dritter und andrerseits der Bekenntnisfreiheit der gläubigen Staatsbediensteten. Nur in diesem Fall individueller Grundrechtsrelevanz ist es Aufgabe des demokratischen Gesetzgebers die widerstreitenden Prinzipien und Grundrechte in eigener Einschätzungsprärogative gegeneinander abzuwägen. Dabei ist – trotz individueller Grundrechtsbetroffenheit – aus verfassungsrechtlicher Sicht zu respektieren, wenn der Gesetzgeber einer Rechtsreferendarin das Tragen religiöser Symbole im Gerichtssaal verbietet, weil er die gegenläufigen Verfassungsprinzipien höher bewertet. Die administrative Ausstattung eines Gerichts mit einem Kreuz bleibt, ohne dass eine Abwägung nötig wäre, von vornherein verfassungswidrig, weil der weltanschaulich neutrale Staat sich selbst nicht auf das gegen ihn gerichtete individuelle Grundrecht der Bekenntnisfreiheit berufen kann.
Das war in den tragenden Gründen des Kruzifixbeschlusses von 1995 bereits unmissverständlich angelegt. Für die Justiz musste nun klar sein, dass die Einzelfallrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu der Frage, ob ein Zwang, im Gerichtsverfahren unter dem Kreuz verhandeln zu müssen, verfassungswidrig sei, durch eine Grundsatzentscheidung weiterentwickelt und geklärt war. 1973 wich das Verfassungsgericht der damals von den Instanzgerichten durchweg verneinten Grundsatzfrage noch aus, ob die Ausstattung von Gerichtssälen mit Kreuzen „bereits als solche objektivrechtlich einen verfassungswidrigen Zustand (schaffe), weil sie im Widerspruch zur Pflicht des Staates zu religiös-weltanschaulicher Neutralität stehe und unvereinbar mit der Forderung sei, dass der Staat sich mit bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Vereinigungen oder Auffassungen nicht identifizieren dürfe.“ Es begnügte sich mit der Feststellung, dass aufgrund der negativen Bekenntnisfreiheit eines Betroffenen im Einzelfall in einem neutralen Saal zu verhandeln sei, und korrigierte so den Starrsinn des Verwaltungsgerichts Düsseldorf, das den jüdischen Kläger in einem Wiedergutmachungsverfahren zu einer Verhandlung unter dem Kreuz zwingen wollte. Der Kruzifixbeschluss beantwortete nun die Grundsatzfrage so, dass ein Kreuz im Gericht bereits objektivrechtlich ein verfassungswidriger Zustand ist.
Kreuzstreit und Kreuzerhöhung in Düsseldorf
Das führte bekanntlich nicht dazu, dass Kreuze in Gerichten, wo es sie noch gab, überall verfassungstreu entfernt worden wären. Der Widerstand insbesondere von Katholiken in Justiz und Gesellschaft blieb erheblich, in Bayern immer von Staats wegen unterstützt und angefacht. Neubauten und Renovierungen führten bisweilen dazu, sich von Kreuzen ohne demonstrativen Akt zu verabschieden. Konflikt- und protestfrei geschah dies selten.
In Düsseldorf sprach sich Anfang 2010 der Landgerichtspräsident dagegen aus, das neue Justizgebäude wieder mit den traditionellen Kreuzen auszustatten, anfangs mit voller Unterstützung der Oberlandesgerichtspräsidentin, während die christdemokratische Justizministerin Müller-Piepenkötter dafür zwar eine Entscheidungskompetenz des Präsidenten sah, aber anregte, diesen Vorstoß noch einmal zu überdenken. Öffentlicher Widerspruch von Kirchenvertretern, auch mit dem Totschlagargument, zuletzt hätten Nazis die Kreuze entfernt, führten zu Gesprächen mit Protestierenden am runden Tisch, die mit einem rheinischen Kompromiss endeten, allein das Kreuz des Schwurgerichtssaals zu behalten, es aber in den wenig öffentlichkeitswirksamen Räumen des Amtsgerichtspräsidenten unterzubringen.
So war ein gutes halbes Jahr später das Kreuz im Verwaltungsgericht Düsseldorf nicht nur eine Antwort auf den Kruzifixbeschluss, sondern auch der Beitrag eines gläubigen Gerichtspräsidenten zu dieser Düsseldorfer Kreuzkontroverse. Es war eine Entscheidung aus eigener Machvollkommenheit ohne Beratung an einem runden Tisch mit den Mitgliedern, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Gerichts oder im Richterrat und Personalrat, ein vordemokratischer Entscheidungsablauf, der trotz evidenter Grundrechtsbetroffenheit des Justizpersonals einer vorherigen Erörterung der Verfassungswidrigkeit aus dem Weg ging. Präsident und Vizepräsidentin nennen in einem Schreiben an das Justizpersonal als einzigen rechtlichen Anhaltspunkt für die Legitimation des Kreuzes an prominenter Stelle des Gerichts den Hinweis auf die Präambel der Landesverfassung, die eine Verantwortung des Verfassungsgesetzgebers „vor Gott und den Menschen“ erwähnt; das Kreuz stehe nicht als Symbol für eine Glaubenswahrheit, sondern verweise „allein auf die kulturellen Grundlagen unserer Verfassung, auf die Wurzeln, aus denen sich unsere freiheitliche Ordnung speist.“ Der Herabstufung des Kreuzes auf ein allgemeines Kultursymbol, um so dem Vorwurf der Identifikation mit einer Religion zu entgehen, hatte das Bundesverfassungsgericht allerdings im Kruzifixbeschluss klar widersprochen: „Das Kreuz ist Symbol einer bestimmten religiösen Überzeugung und nicht etwa nur Ausdruck der vom Christentum mitgeprägten abendländischen Kultur.“ Wenn das Kreuz eine Erwähnung Gottes in der Landesverfassung reflektieren soll, lässt das Dekret des Präsidenten jede Begründung dafür vermissen, warum dies unter mehreren denkbaren Göttern ohne Verstoß gegen den Gleichheitssatz symbolisch allein der christliche sein könnte.
Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zu Kreuzen in staatlichen Einrichtungen beruht auf Verfassungsprinzipien: der staatlichen Neutralität und der gleichberechtigten Weltanschauungsfreiheit. Die Kompetenzfrage, ob die staatlichen Veranlasser religiöser Symbole dazu rechtlich befugt sein könnten, bleibt im Hintergrund. Angesichts der grundrechtsrelevanten Wirkungen lässt sich die Kompetenz eines Gerichtspräsidenten hier nicht vorkonstitutionell mit Tradition, Gebräuchen, Gewohnheitsrecht oder gar seinem Hausrecht begründen, sondern bedürfte einer gesetzlichen Grundlage, die allerdings an der Verfassungswidrigkeit des Kompetenzinhalts scheitern würde. Gesetze für Kreuze in staatlichen Einrichtungen gibt es nirgendwo. Staatliche Einrichtungsrichtlinien oder Erlasse ohne gesetzliche Grundlagen – in Nordrhein-Westfalen gibt es nicht einmal sie – können sie nicht ersetzen.
Mit der Kreuzerhöhung nimmt der Präsident des Verwaltungsgerichts das ihm anvertraute Gericht für ein extralegales und extrakonstitutionelles Glaubensbekenntnis in Anspruch. Das ist zugleich politische Meinungsäußerung eines hohen Amtsträgers: vordergründig im Streit um religiöse Symbole in öffentlichen Räumen des Staates, vor allem aber auch eine grundsätzliche Meinungsäußerung zu den weltanschaulichen Grundlagen politischen und gerichtlichen Handelns – und zwar mit Mitteln, die ihm von Amts wegen zur Verfügung stehen. Als religiöses oder auch „nur“ kulturelles Symbol wirbt das Kreuz allgemeinpolitisch für die mit ihm verbundenen christlichen Ideologien und Richtigkeitsvorstellungen zur Gestaltung von Staat und Gesellschaft. Deshalb versammeln sich christliche Parteien in ihren eigenen Räumen unter dem Kreuz. Wenn ihre Anhänger dagegen in öffentlichen Räumen des Staates Kreuze aufhängen, verletzen sie nicht nur die staatliche Pflicht zu weltanschaulicher Neutralität, sondern auch das Gebot der politischen Neutralität im Amt. Niemand käme ernsthaft auf die Idee, das Logo oder Symbol einer politischen Partei als Sinnstifter in Räumen des Staates zur Schau zu stellen. Das Kreuz ist demgegenüber verfassungsrechtlich kein privilegiertes Symbol. Dem Oberbürgermeister von Düsseldorf warf der Verwaltungsgerichtspräsident – höchstrichterlich bestätigt – einen Verstoß gegen die politische Neutralitätspflicht vor, weil der mit seiner Aktion „Lichter aus“ gegen „Dügida” Amtsressourcen im politischen Meinungskampf missbraucht habe. Genau das praktiziert er mit dem Kreuz in „seinem“ Gericht. Es ist übrigens eine Meinungsäußerung im religiösen Abstiegskampf: nur noch gut 45 Prozent – Tendenz fallend – gehörten 2018 in Düsseldorf einer christlichen Kirche an.
Kulturelle Wurzeln: welche?
Wenn der neutrale Staat ein religiöses Symbol als Zeichen kultureller Sinnstiftung im Gericht zuließe, wäre zumindest die inhaltliche Frage unumgänglich, ob es eine Weltanschauung repräsentiert, welche die Probe auf die Grund- und Menschenrechte besteht. Zweifellos haben unsere Gesellschaft und ihre Verfassung auch christliche Wurzeln. Die sozialen Kernbotschaften christlicher Religionen in ihren unterschiedlichen Varianten: das Gebot der Nächsten-, ja der Feindesliebe und die vom religiösen Selbstverständnis her an sich selbstverständliche Achtung der Gleichheit aller Menschen, sind Wertvorstellungen, die zu den Kernelementen der Grund- und Menschenrechte gehören. Nicht wenige von denen, die gegenwärtig trotz schwindender Bindungskräfte der Kirchen ihrem Glauben treu bleiben, tun es aus dieser Grundüberzeugung. Aber Religionen sind Menschenwerk und Menschen schaffen und missbrauchen ihre Götter im Guten wie im Bösen. Die Geschichte ist voller Beispiele, wie die Menschenfreundlichkeit der ursprünglichen Botschaft an Macht und Privilegien verraten und in bitterstes Unrecht umgebogen wird.
Gedanken-, Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit mussten über Jahrhunderte gegen die Glaubensfunktionäre der Religionen, insbesondere der christlichen, erkämpft werden – gegen Inquisition, Kerker und Scheiterhaufen, gegen die Ächtung selbst unbestreitbarer wissenschaftlicher Erkenntnisse als gotteslästerliche Irrtümer, gegen das Verbot von Schriften und Büchern. Religionen, gerade auch christliche, stehen für Glaubensgehorsam, nicht für Geistesfreiheit. Kirchenführer gaben den Segen für Eroberungskriege, missionarische Entrechtung und Unterwerfung anderer Kulturen, Sklaverei, Unterdrückung und Ausbeutung. Kardinäle und Bischöfe beider großen christlichen Konfessionen schworen ihre Gefolgschaft auf Gehorsam gegenüber dem nationalsozialistischen Menschenvernichtungsstaat ein, selbst dann noch, als dessen verbrecherischer, völkermörderischer auf Raub, Eroberung und millionenfache Ausrottung angelegter Charakter offenkundig war. Es bleibt zweifelhaft, dass sich der heutige Katholizismus von menschenfeindlichen Traditionen trennen will, wenn Papst Benedikt XVI. 2007 in einer Rede vor lateinamerikanischen Bischöfen die völkermörderische Brutalität der iberischen Eroberer in Mittel- und Südamerika als christliche Wohltat beschreibt, denn die Indios hätten sich „im Stillen nach Christus, dem Erlöser, gesehnt“ und die Christianisierung Südamerikas habe zu keiner Zeit eine Entfremdung der dort heimischen Kultur gefördert. Im Gegenteil: Solche Traditionen werden fortgesetzt, wenn der Vatikan 2008 gemeinsam mit führenden iranischen Gelehrten und Politikern, darunter ein enger Berater des Präsidenten der Islamischen Republik, eine gemeinsame Erklärung zu „Glaube und Vernunft“ herausgibt, Übereinstimmung bekundet mit einem islamistischen Regime, das zum Beispiel Frauen als Ehebrecherinnen steinigen lässt, Schwule an Baukränen erhängt, hinter weltweiten Terrorakten steckt, Wahlergebnisse fälscht, Gegner niederknüppelt und mit der Fatwa gegen Salman Rushdi bekundet, dass es Kunst- und Meinungsfreiheit auch außerhalb des eigenen Landes nicht dulden will.
Mit Blick auf das Grundgesetz verfehlen konservative Varianten des christlichen Bekenntnisses gegenwärtig elementare Grundprinzipien der Verfassung. Einige Beispiele: Geschlechtergleichheit ist im personell/strukturellen Aufbau der katholischen Kirche genauso wenig verwirklicht wie in ihren Gesetzen und Regeln für das Zusammenleben. Die Gleichheit unterschiedlicher sexueller Lebensweisen wird nicht anerkannt. Eine rigide Sexualmoral in fundamentalistischen Varianten des Christentums überfordert viele mit lustfeindlichen Geboten der Enthaltsamkeit, traumatisiert sie und führt immer wieder zu gewaltsamen Abirrungen bis hin zum Missbrauch von Kindern. Das Grundrecht, über sein eigenes Leben und seine Fortpflanzung verfügen zu können, wird nicht anerkannt. Ein Verstoß gegen das freiheitsfeindliche Scheidungsverbot soll nach religiösem Selbstverständnis eine arbeitsrechtliche Kündigung selbst dann rechtfertigen, wenn der Vertragspartner glaubensfremd ist. Der Vorrang des staatlichen Rechts und seiner freiheitlichen Verfassung vor religiösen Richtigkeitsvorstellungen wird keineswegs in allen Varianten des Christentums akzeptiert. Lebensräume außerhalb elementarer Prinzipien der Verfassung mögen, solange sie Rechte anderer nicht beeinträchtigen, vom Grundrecht der Glaubensfreiheit gedeckt sein. Geschichte und Gegenwart der christlichen Religion führen dann aber zu der Erkenntnis, dass ihr höchstes Symbol in einem den Grund- und Menschenrechten verpflichteten Gericht als Zeichen kultureller Sinnstiftung nicht geeignet ist.
Das Kreuz als Symbol identitärer Politik
In der Reduzierung des Kreuzes auf ein Symbol für die kulturellen Grundlagen unserer Gesellschaft offenbart sich identitäres politisches Denken. In unserer Gesellschaft haben traditionelle Identität stiftende Institutionen, darunter nicht zuletzt die christlichen Kirchen, an Bindekraft verloren. Zu beobachten ist stattdessen eine große Ausdifferenzierung in vielfältige individuelle Identitäten, durch die eine multikulturelle Gesellschaft entstanden ist, die durch die wachsende Zuwanderung aus aller Welt noch weiter aufgefächert wird. Gegen das Neue, das Andere, das Fremde gibt es mittlerweile extreme gewaltbereite Gegenbewegungen, aber auch konservative Abwehr, die zur Verteidigung des Althergebrachten und traditioneller Wertvorstellungen das Kreuz als Symbol unverzichtbar findet. Jüngstes Beispiel dafür ist der bayerische Kreuzerlass, wonach im Eingangsbereich der Landesbehörden „als Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns gut sichtbar ein Kreuz anzubringen ist“.
Das trifft sich mit dem persönlichen Anliegen des Verwaltungsgerichtspräsidenten in Düsseldorf. Identitäre Abwehr des Islam brachte er auf einer rechtspolitischen Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung 2006 so zum Ausdruck:
„…mit Skepsis (wird) das Vordringen fremder Religionen in unserer Gesellschaft beobachtet. Dabei sind es nicht nur die radikalen Muslime und ihre weltweiten Terrorakte, die uns in Angst und Schrecken versetzen. Mit Besorgnis beobachten wir auch, dass uns selbstverständlich gewordene Formen des Zusammenlebens in weiten Teilen einer wachsenden, durch den Islam geprägten Teilgesellschaft ihre Geltungskraft eingebüßt haben. Mit dem zahlenmäßigen Anwachsen der Muslime in Deutschland ist auch ihr Selbstbewusstsein gewachsen. Entsprechend treten sie mit oft weit gespannten Forderungen an die einheimische Bevölkerung wie auch den Staat heran. Eine angemessene Antwort kann nur der geben, der sich seiner eigenen Identität bewusst ist.“
Ohne irgendeine Differenzierung wird weltweiter islamistischer Terrorismus neben wachsende muslimische Teilgesellschaften bei uns gestellt, beides gleichermaßen bedrohlich für „Einheimische“. Nahezu vier Millionen Muslimen wird so bestritten, in Deutschland einheimisch zu sein, obwohl immer mehr von ihnen hier aufgewachsen sind und – gleichberechtigt – die deutsche Staatsangehörigkeit haben. Deshalb ist die vorwurfsvolle Feststellung, sie träten mit weit gespannten Forderungen an die einheimische Bevölkerung wie auch den Staat heran, offenkundig identitär anmaßend: Denn das ist ihr gutes Recht. Der Präsident des Verwaltungsgerichts degradiert Muslime zu Menschen und Staatsbürgern zweiter Klasse: Fremde, die hier nicht dazu gehören. Auch wenn er später, worin man ihm prinzipiell folgen kann, in tragenden Prinzipien unserer Verfassung einen Anker der eigenen Identität sieht, ist es religiös verblendet, Muslimen ein Bekenntnis zum Grundgesetz per se abzusprechen und dies nur für Einheimische des christlich/jüdischen Abendlandes zu reservieren.
So, wenn er hinsichtlich religiöser Kleidung von Lehrer*innen in Schulen „keine durchgreifenden Einwände gegen das Tragen eines … Ordenshabits oder einer Kippa (hat), da die so zum Ausdruck gebrachte persönliche Haltung in keinerlei Widerspruch zu unserer freiheitlichen Verfassung steht“, im „Unterschied zum islamischen Kopftuch. Es ist zwar gleichermaßen Ausdruck einer bestimmten religiösen Überzeugung, aber eben einer solchen, die mit unserer Verfassung nicht in Übereinstimmung zu bringen ist.“ Eigene Identität, die auf den Grund- und Menschenrechten gründet, stellt allen Religionen und vor allem individuell ihren Gläubigen die Frage, ob auch sie darin das verbindende Band unterschiedlicher Identitäten in einer multikulturellen Gesellschaft anerkennen. Leitkulturelle Überheblichkeit unter dem Kreuz ist mit Blick auf Geschichte und Gegenwart nicht geeignet, vielfältige Identitäten in einer multikulturellen Gesellschaft friedlich zusammen zu bringen.
Daran entzündet sich auch die Kritik von Kirchenführern gegen eine Herabwürdigung des Kreuzes zu einem kulturellen Symbol der Ausgrenzung. Kardinal Marx, damals Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, beklagte, der bayerische Kreuzerlass schaffe „Spaltung, Unruhe, Gegeneinander“. Das Kreuz sei in christlichem Verständnis „Zeichen des Widerspruchs gegen Gewalt, Ungerechtigkeit, Sünde und Tod, aber kein Zeichen gegen andere Menschen.“ In eine gesellschaftliche Debatte über das Kreuz müsse man alle einbeziehen: Christen, Muslime, Juden und jene, die gar nicht gläubig seien. Landesbischof Bedford-Strohm, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, sagte, entscheidend sei nicht das Symbol an der Wand, sondern dass es auch inhaltlich mit Leben gefüllt werde. Im politischen Handeln heiße das „Feindesliebe, Einsatz für die Schwachen, universales Liebesgebot, also nicht die Benutzung des Kreuzes zur Abwehr gegen andere, sondern als Grundlage dafür, dass wir eine Verantwortung für alle Menschen haben“. Ob sich diese Botschaft im Widerspruch zur Flüchtlingspolitik der bayerischen Staatsregierung befinde, darüber müsse diskutiert werden.
Identitäres Vorverständnis im Meinungskampf um Asylverfahren
Der Blick auf öffentliche Äußerungen des Gerichtspräsidenten zu Asylverfahren und Abschiebungen lässt Zweifel zu, ob er mit solchen Interpretationen des Kreuzes etwas anfangen kann. Am ausländerrechtlichen Meinungskampf nimmt er regelmäßig und engagiert teil. Mit Klagen nicht nur über den großen Verhandlungsaufwand in oft langwierigen Asylverfahren und Folgeverfahren, die mit zu wenig Personal bewältigt werden müssen, sondern auch über die Zögerlichkeit, Menschen ohne Bleiberecht – trotz unsicherer Gefahrenprognosen für sie – konsequenter abzuschieben.
Mit dem grundsätzlichen Verdacht der Täuschung begegnet er Muslimen, die zum Christentum konvertieren, und deshalb bei einer Abschiebung in ihrer Heimat Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt sein können. Kirchen stellten aus asyltaktischen Gründen inflationär Taufzeugnisse aus, um drohende Abschiebungen zu verhindern. Asylklagen konvertierter Christen seien besonders zeitraubend. Hier müsse in vier- bis sechsstündigen Verhandlungen geklärt werden, ob bei den Tätern tatsächlich eine Abwendung vom Islam und eine „identitätsprägende“ Hinwendung zum Christentum erfolgt sei. Offenbar ist der Gerichtspräsident davon überzeugt, dass das menschliche Internum Glauben – mit welchem Sachverstand auch immer – wie früher das Gewissen eines Kriegsdienstverweigerers gerichtlich verifiziert werden kann. So ein gerichtliches Glaubensexamen für Menschen, deren Konversion die Kirche erst nach Prüfung ihrer Ernsthaftigkeit und nach Glaubenskursen mit der Taufe besiegelt, steht zum einen mit der verfassungsrechtlich garantierten Kirchenautonomie in Glaubensfragen nicht in Einklang. Zum anderen: Warum sollte nicht allein die Erfahrung der Menschenfreundlichkeit, die Fremde von Christen und Kirchen oft erfahren, ein glaubhaftes Motiv für die Hinwendung zu diesem Glauben sein – in der Sprache des Bischofs die Erfahrung des „universalen Liebesgebotes“, der Botschaft des Kreuzes? Warum, wenn nicht zur identitären Ausgrenzung, hält der Gerichtspräsident theologische Vertiefung in vier- bis sechsstündigen Gerichtsverfahren für unausweichlich, an der vermutlich auch viele traditionelle Taufscheinchristen scheitern würden?
Am Beispiel der Abschiebung der 15-jährigen Bivsi Rana wird deutlich, dass in seinem Denken das Verständnis für menschliche Lösungen im Einzelfall fehlt. Bivsi, in Deutschland geboren und aufgewachsen, war 2017 mit ihren Eltern nach Nepal abgeschoben worden, nachdem der Asylantrag in allen Instanzen, ursprünglich in Düsseldorf, gescheitert war. Große Empörung in der Öffentlichkeit darüber, einer hier verwurzelten 15-Jährigen alle Zukunftschancen zu nehmen, führte dazu, dass sie drei Monate später mit einem Schüleraustausch-Visum wieder einreisen und ihre Schullaufbahn erfolgreich fortsetzen durfte, aus humanitären Gründen begleitet von ihren Eltern. Der Gerichtspräsident kommentierte dies im Jahrespressegespräch mit den Worten: „Der Staat muss rechtsstaatliche Entscheidungen vollziehen, ansonsten kann er sich das Geld sparen.“ Dass auch die Eltern wieder hätten einreisen dürfen, sei „ein Schlag ins Gesicht aller Ausländer, die sich rechtskonform verhalten.“ Die Eltern hätten „getrickst, betrogen und getäuscht, den Staat jahrelang vorgeführt.“ Dass die Entscheidung für das Lebensglück eines 15-jährigen Mädchens auch das Zusammenleben in der Familie beinhaltet, übersteigt das rechtsstaatliche Vorstellungsvermögen des Präsidenten.
Sein Grundbedürfnis nach Abschiebeeffizienz hindert ihn umgekehrt daran, eine klar rechtswidrige Abschiebung als solche zu kritisieren. Im Fall Sami A. stand das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen vor der Frage, ob dem Betroffenen gegen die drohende Abschiebung durch die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs Eilrechtsschutz zu gewähren war oder zuvor durch einen Stillhaltebeschluss. Dies zu verhindern, täuschten die beteiligten Behörden unter Federführung des Integrationsministeriums das Gericht mit der Information, ein Abschiebetermin sei aufgehoben worden, obwohl ein aufwändig vorbereiteter Ersatztermin unmittelbar bevorstand. Dadurch erreichte der Beschluss, der die Abschiebung vorläufig verhindert hätte, die Behörden erst, als sich der Betroffene bereits im Flugzeug nach Tunesien befand und kurz darauf dortigen Sicherheitskräften übergeben wurde. Das Oberverwaltungsgericht Münster beurteilte diese Abschiebung mit Täuschung des Gerichts, um ein Verbot der Rückführung in das Heimatland zu unterlaufen, als „evident“ rechtswidrig und mit „rechtsstaatlichen Grundsätzen und dem Gewaltenteilungsprinzip nicht vereinbar“.
OVG-Präsidentin Ricarda Brandts kritisierte in einem Interview, in der Sache seien offensichtlich „die Grenzen des Rechtsstaats ausgetestet worden“ und sie rate Richtern nach den jüngsten Erfahrungen, sich auf Zusagen von Behörden vorerst nicht mehr in jedem Fall zu verlassen. Der Präsident des Verwaltungsgerichts Düsseldorf hatte demgegenüber das Bedürfnis, sich in der FAZ deutlich von der OVG-Präsidentin abzusetzen, indem er trotz unstreitiger Fakten eine inhaltlich Stellungnahme ablehnte, aber betonte, dass in Düsseldorf die Zusammenarbeit mit den Ausländerbehörden eine „so vertrauensvolle Grundlage gewonnen hat, dass wir keinen Grund sehen, ihnen jetzt oder auch in Zukunft mit Misstrauen zu begegnen.“ Aus rechtsstaatlicher Sicht sei wünschenswert, dass in Abschiebesachen überhaupt behördliche und gerichtliche Entscheidungen umgesetzt würden. Bemerkenswert ist, dass er Zusammenarbeit betont, wo gerichtliche Kontrolle die Aufgabe ist.
Verfassungsbruch hinnehmen?
Schon zehn Jahre lang kann sich der Düsseldorfer Verfassungsbruch nahezu unangefochten behaupten. Unter dem Justizpersonal stieß die Kreuzaktion damals auf ein kontroverses Echo. Verwaltungsgerichte arbeiten „nahe am Grundgesetz“. Verfassungs- und Gesetzesbindung der Justiz gehören zu seinen Kernelementen. Jeder Richter und jede Richterin hat eine individuelle, dem Amt geschuldete Grundverantwortung dafür, dass sie eingehalten werden. Es stimmt sehr nachdenklich, dass offenbar niemand einzeln oder zusammen mit anderen, diese Verantwortung entschieden und nachhaltig wahrgenommen hat, als der Gerichtspräsident in öffentlicher Inszenierung die Verfassung brach. Wären der Kruzifixbeschluss und die Besinnung auf die eigene verfassungsrechtliche Grundverantwortung für Verfassung und Recht nicht Anlass genug gewesen, die Arbeit in einem Gericht, das religiöses Bekenntnis zur Schau stellt, schlicht zu verweigern? Oder ein kreuzfreies Gericht einzuklagen, gestützt auf einen verfassungsrechtlich begründeten Anspruch, sein Amt in einem verfassungsgemäß ausgestatteten Gericht auszuüben?
Hätten nicht zumindest die örtlichen und überörtlichen Richter- und Personalräte darauf dringen müssen, die Aktion rückgängig zu machen, die für verfassungstreue, insbesondere nichtgläubige Beschäftigte eine Zumutung war? Warum haben sie gegen die autoritäre Aktion des Präsidenten kein Mitbestimmungsrecht bei der verfassungskonformen Gestaltung des Arbeitsplatzes Gericht reklamiert oder bis zur höchsten Ebene zumindest auf der einfachen Beteiligung darüber bestanden? Das Personalvertretungsgesetz und das Richtergesetz ermöglichen das. Allerdings hatte sich bereits 2007 der vom Deutschen Richterbund dominierte Hauptrichterrat der ordentlichen Justiz in Nordrhein-Westfalen – dort kommen Kreuze in Gerichtssälen noch häufiger vor – geweigert, darüber mit der christdemokratischen Justizministerin, seiner früheren Vorsitzenden, auch nur in eine Erörterung einzutreten, weil die Sache lediglich ein bürgerrechtliches Anliegen sei.
Der Landesverband der Neuen Richtervereinigung dagegen verurteilte den „Verfassungsbruch durch die Gerichtsverwaltung“ öffentlich und kündigte an, dass Bedienstete Klage dagegen erheben würden. Der neue, jetzt sozialdemokratische Justizminister Kutschaty antwortete der NRV, er werde eine Entfernung des Kreuzes nicht veranlassen. Inzwischen spricht sich auch der Deutsche Richterbund für strikte weltanschauliche Neutralität und gegen alle religiösen Symbole, auch Kreuze in Gerichten aus. Der Vorsitzende des Bayerischen Richtervereins im Richterbund bekannte in einem Interview, er könne auf das Kreuz im Gerichtssaal gut verzichten. Es ist an der Zeit, dass die Richtervereinigungen in gemeinsamer Aktion von den Justizministerien verlangen, dass der Verfassungsbruch beendet wird. Die jüngste Kopftuchentscheidung des Verfassungsgerichts ist dazu erneut ein aktueller Anlass.
Justizministerinnen und Justizminister verweigern sich bundesweit immer wieder gegen Kreuze initiativ zu werden, greifen aber – außer in Bayern – auch nicht ein, wenn in Gerichten aus eigener Initiative Kreuze abgehängt werden. 2006 veranlasste dies der Präsident des Landgerichts Trier mit Zustimmung des sozialdemokratischen Justizministers. Als 2016 der Präsident des Amtsgerichts Saarbrücken die dort noch vorhandenen Kreuze durch Landeswappen ersetzen ließ, dachte Ministerpräsidentin Kramp-Karrenbauer nach einem Gespräch mit dem Bischof von Trier öffentlich über ein Kreuzaufhängungsgesetz nach, ohne dies weiter zu verfolgen. Im Bundesjustizministerium stieß 2017 die Anregung, weltanschauliche Neutralität in Gerichten im Gerichtsverfassungsgesetz zu sichern, auf Ablehnung, weil die Einzelfallentscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1973 alle denkbaren Konflikte regele, als kenne man den Kruzifixbeschluss nicht. Ein Schöffenrichter in Miesbach (Oberbayern), der vor einer Verhandlung gegen einen muslimischen Angeklagten vorsorglich das Kruzifix abgehängt hatte, erhielt nachher die ausdrückliche Anweisung, das rückgängig zu machen. Landesgesetze zur weltanschaulichen Neutralität in Gerichten verbieten nun das Kopftuch und lassen Kreuze hängen. Der gleichheitswidrige Zwang, unter dem Kreuz das Kopftuch abnehmen zu müssen, wird von München bis Hannover stereotyp mit Herabstufung des Kreuzes auf ein kulturelles Symbol begründet, das zudem als totes Symbol an der Wand keine Wirkung habe, während allein das Kopftuch aktives religiöses Bekenntnis mit erheblicher Außenwirkung sei. Das Bundesverfassungsgericht sieht das anders.
Der entscheidende Grund dafür, dass sich Kreuze im Gericht gegen die Verfassung behaupten, ist die Tatsache, dass die Menschen, die im Gericht ihr Recht suchen oder dort arbeiten, fast immer andere Sorgen haben, als sich über ein religiöses Symbol zu beschweren, vor allem, weil sie es sich nicht mit jemandem verderben wollen, der für sie wichtig ist: die Rechtsuchenden mit dem Richter oder der Richterin, das Justizpersonal mit dem Präsidenten oder – je nach Ambition – mit dem Ministerium. Justizintern spiegelt sich darin das Grundübel wider, dass die Unabhängigkeit der Justiz in ihrer Binnenstruktur vom Ministerium über die Gerichtsleitungen durch hierarchische Lenkungs-, Weisungs- und Eingriffsmöglichkeiten begrenzt ist. Wenn ein Präsident, der über dienstliche Beurteilungen erheblichen Einfluss auf berufliche Karrieren justizinterner Kritiker nehmen kann, sich auch noch über die Ansätze binnendemokratischer Mitbestimmung autoritär hinwegsetzt, bleibt selbst sein Verfassungsbruch intern folgenlos.
Wenn Verfahrensbeteiligte gegen das Kreuz im Gerichtssaal den Respekt vor ihrem eigenen Glauben oder ihrer Weltanschauung einfordern, müssen sie nicht nur befürchten, richterliche Gunst zu verlieren, sondern geraten – jedenfalls in öffentlich beachteten Verfahren – auch in die Gefahr identitärer persönlicher Herabwürdigung. Im NSU-Prozess vor dem OLG München hätte das Gericht schon von sich aus allen Anlass gehabt zu bedenken, dass die Mordopfer überwiegend muslimische aus der Türkei stammende Menschen waren, ebenso ihre Verwandten als Nebenkläger. Das evidente Tatmotiv war rassistischer, den Gleichheitssatz negierender Hass auf Menschen, die mit anderen kulturellen und religiösen Bindungen gleichberechtigt mit uns zusammenleben. Einen solchen Strafprozess unter dem Kreuz zu führen, war für manchen Nebenkläger eine Herausforderung. Muslimische Nebenkläger konnten aus ihrer geschichtlichen Erfahrung und mit Blick auf die schlimme Gegenwart im Hauptsymbol der christlichen Religion nur schwerlich ein Zeichen versöhnender Gerechtigkeit erkennen. So gab es am Anfang den Antrag einer Nebenklägerfamilie, das Kreuz zu entfernen, weil es den Eindruck erwecke, dass nur Mitglieder christlicher Religionsgemeinschaften unter dem besonderen Schutz des Gerichtes stünden, denn Symbole muslimischen Glaubens seien im Gericht nicht angebracht. Schon nach der Einzelfallrechtsprechung des Verfassungsgerichts war der Antrag begründet. Die Beauftragte für die Opfer der NSU-Mordserie, Barbara John, redete dem Nebenklägervertreter den Antrag jedoch in der Gerichtskantine massiv wieder aus, innerhalb kürzester Zeit hatte sie Dutzende Mails und Anrufe erhalten, alle mit dem Tenor: „Die Türken wollen uns unser Kreuz wegnehmen.“ Schon vor Prozessbeginn war das Kreuz bei Renovierungsarbeiten kurzzeitig verschwunden, was die Bild-Zeitung in großen Lettern zu der gebieterischen Frage motivierte: „Wo ist das Kreuz?“ Ein verfassungsgehorsamer, mindestens aber sensibler Senat hätte die Familie vor dem Dilemma eines identitären Shitstorms bewahrt und – wie der Schöffenrichter in Miesbach – das Kreuz von vornherein abgehängt. Verfassungsgehorsame Landesgesetzgeber würden in Gerichten endlich generell alle religiösen Symbole verbieten.
Quo vadis Dr. Andreas Heusch?
Der Präsident des Verwaltungsgerichts Düsseldorf ist ein karrierebewusster Jurist. In den jungen Jahren seiner richterlichen Laufbahn war er drei Jahre am Bundesverfassungsgericht wissenschaftlicher Mitarbeiter des damaligen Präsidenten Papier. Als Richter am Oberverwaltungsgericht war er im Senat des Präsidenten und zusätzlich als wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Landesverfassungsgerichtshof abgeordnet. Er kennt sich im Verfassungsrecht aus: Sein Verfassungsbruch ist keiner unbedachten Unaufmerksamkeit geschuldet, sondern vorsätzlicher Affront.
2006 nach der Regierungsübernahme durch eine CDU/FDP-Regierung wechselte er in das Landesjustizministerium, leitete dort das für die Personalangelegenheiten der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit zuständige Referat und war zudem Justitiar des Justizministeriums. Von diesem Karrieresprungbett aus wurde er 2009 Gerichtspräsident in Düsseldorf. Politisch gut vernetzt nimmt er regelmäßig als Referent und Fachmann an rechtspolitischen Tagungen der Konrad-Adenauer-Stiftung teil. Der öffentlich inszenierte Verfassungsbruch von 2010 hinderte sein Fortkommen nicht. 2014 wurde er Mitglied des Landesverfassungsgerichtshofs, ab Januar 2020 ist er sein Vizepräsident. Seit März 2019 ist er Honorarprofessor der Juristischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Die Präsidentin des Oberverwaltungsgerichts Ricarda Brandts steht vor ihrem Ruhestand. Es wäre nach der jüngsten Karriereentwicklung eine Riesenüberraschung, wenn Andreas Heusch sich nicht als ihr Nachfolger sähe.
Die nordrhein-westfälische Verwaltungsgerichtsbarkeit hätte an ihrer Spitze keinen Präsidenten verdient, der sich in einer verfassungspolitisch bedeutenden Frage beharrlich der Letztentscheidungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts, einem tragenden Prinzip des Grundgesetzes, widersetzt und daran – unbelehrbar durch gefestigte Rechtsprechung – über Jahre festhält. Verfassungsgehorsam ist eine Grundbedingung für jedes Richteramt, umso mehr für den Präsidenten des Oberverwaltungsgerichts. Dr. Heusch bietet dafür nicht immer Gewähr. Hierarchisch-autoritär an den Betroffenen und ihren Mitbestimmungsrechten vorbei entscheidend verfehlt er zugleich eine wesentliche Anforderung für einen Gerichtspräsidenten einer demokratischen Justiz. Die Bedeutung, die er im Amt seinem religiösen Bekenntnis gibt, erweckt Zweifel, ob er in der Lage ist, bei konkreten, insbesondere personellen Entscheidungen ohne Ansehen der Weltanschauung von Betroffenen zu entscheiden.
Die Besetzung der Spitze der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist eine sehr wichtige (justiz)-politische Entscheidung – ohne große Mitentscheidungsmacht der davon Betroffenen. Die aktuellen personalpolitischen Entscheidungswege unterstützen die Unabhängigkeit der Justiz nicht. Personell ist die dritte Staatsgewalt von der Regierung und den sie tragenden politischen Mehrheiten abhängig, für die selbst Verfassungsbruch nicht immer ein Karrierehindernis ist. Umso wichtiger, dass sich das Justizpersonal, ihre Verbände, Vereinigungen und Gewerkschaften, aber auch Menschen aus der – nicht nur juristischen – Zivilgesellschaft im Entscheidungsprozess zur Besetzung von Spitzenämtern öffentlich zu Wort melden.