Wissenschaft und Forschung
Studie: Afrikas Probleme, Fortschritte und Potenziale
Schlagzeilen zu Ereignissen in Afrika sind in Europa häufig negativer Natur. Eine neue Studie lenkt den Blick auf positive Entwicklungen und hebt hervor, wo es in den Gesellschaften beachtliche Veränderungen auf dem Weg zu einem glücklicheren Afrika gibt. Zwei wichtige Faktoren werden allerdings nicht thematisiert.
Schlagzeilen zu Ereignissen in Afrika sind in Europa häufig negativer Natur. Eine neue Studie lenkt den Blick auf positive Entwicklungen und hebt hervor, wo es in den Gesellschaften beachtliche Veränderungen auf dem Weg zu einem glücklicheren Afrika gibt. Zwei wichtige Faktoren werden allerdings nicht thematisiert.
Zum diesjährigen Weltbevölkerungstag am 11. Juli leben etwa 1,3 Milliarden Menschen in Afrika. 2050 könnten es fast doppelt so viele sein. Damit sich das Bevölkerungswachstum auf dem Kontinent nachhaltig entwickelt, sind rasche Entwicklungsfortschritte nötig. Wie diese möglich werden könnten, beschreibt das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung in einer neuen Studie mit dem Titel „Schnell, bezahlbar, nachhaltig – Wie in Afrika große Entwicklungssprünge möglich werden“. Sie soll zeigen: Auf dem Kontinent gebe es viele gute Ansätze und Projekte, die das Leben der Menschen verbessern und die sich in die Breite tragen lassen. Afrika stehe bereit zu großen Sprüngen, meinen die Autor*innen.
Die Lage ist zweifellos schwierig auf dem afrikanischen Kontinent. Die Bevölkerung wächst stark, aber nicht die Zahl der Arbeitsplätze. Und die Coronavirus-Pandemie macht alles noch schwieriger. Umso wichtiger ist es, dass Afrika nach der Pandemie schnell wieder auf die Beine kommt. Die Möglichkeiten dafür existieren längst, will die neue Studie zeigen: durch technische und soziale Innovationen, die in großen Sprüngen den Menschen das Leben leichter machen, wobei ineffiziente, umweltschädliche und kostspielige Zwischenstufen der Entwicklung möglichst ausgelassen werden, auch „Leapfrogging“ genannt.
Die rasche Einführung der mobilen Telefonie um die Jahrtausendwende, dort, wo es zuvor kaum Festnetzverbindungen gab, war ein klassisches Beispiel für Leapfrogging. Mittlerweile nutzen Afrikaner*innen das Smartphone, um Bankgeschäfte abzuwickeln, Versicherungen abzuschließen oder sich von landwirtschaftlichen und medizinischen Informationsdiensten beraten zu lassen. Afrika ist damit weiter als viele hochentwickelte Länder.
In Europa wirken Drohnen als Lieferanten für Blutkonserven oder Medikamente eher noch wie weit entfernte Zukunftsmusik, in Ghana oder Ruanda sind sie schon Realität. Das mobile Datennetz funktioniert im letzten Winkel Kenias besser als in Brandenburg. Kleinbusse in Nairobi – Matatus genannt – bieten den Reisenden WLAN. Auch mitten in der Krise setzen afrikanische Länder auf Innovation: So werden im Senegal derzeit „Roboter-Doktoren“ zur Pflege von Covid-19-Patienten entwickelt, um das Klinikpersonal vor einer Ansteckung zu schützen.
– aus der Einleitung zur Studie
Die Studie beschäftigt sich mit drei zentralen Bereichen, ohne die eine sozioökonomische Entwicklung armer Länder nicht möglich ist: Gesundheit, Bildung und Landwirtschaft. Denn nur eine gesunde, qualifizierte und ausreichend ernährte Bevölkerung kann sich eigene Perspektiven erarbeiten und die Wirtschaft ihrer Heimatländer voranbringen. „In diesen Bereichen haben wir nach Beispielen gesucht, wo afrikanische Unternehmen, Nichtregierungsorganisation oder Regierungen bereits Erfolge erzielt haben“, sagt Reiner Klingholz, einer der Autor*innen der Studie und ehemaliger Direktor des Berlin-Instituts. „Wichtig ist, dass sich diese Ideen und Konzepte von Afrikanern für Afrikaner zügig und mit geringen Kosten umsetzen lassen. Sie sollten möglichst schnell in die Breite getragen und von anderen Ländern kopiert werden.“
Dabei geht es nicht nur um moderne technische Lösungen wie bei der mobilen Telefonie, sondern auch um ganz simple Veränderungen und soziale Errungenschaften, die aber große Effekte haben können. Etwa wenn in einem südafrikanischen Armenviertel eine Schule versucht, die einfachen Dinge richtig zu machen und mit engagierten Lehrer*innen, mit Leidenschaft und klaren Regeln die Jugendlichen so gut ausbildet, dass sie nach dem Sekundarabschluss reif für die Top-Universitäten des Landes sind. Oder wenn Äthiopien in ländlichen Gebieten, wo es weder Ärzt*innen noch Hospitäler gibt, mit dem Health Extension Program eine Basisgesundheitsversorgung mit lokalen Gesundheitshelferinnen aufbaut und damit die Mütter- und Kindersterblichkeit entscheidend senkt.
„Die Ergebnisse des äthiopischen Programms sind beeindruckend“, sagt Co-Autorin Sabine Sütterlin, die einige der beschriebenen Projekte selbst besucht hat: „Die Zahl der Todesfälle von Müttern und ihren Babys bis zum Alter von zwölf Monaten hat sich halbiert, die Sterblichkeit der unter Fünfjährigen mehr als halbiert.“ Dazu beigetragen hat allein schon, dass das Bewusstsein für die Wichtigkeit von sauberem Wasser, eine gute Ernährung und Impfungen für die Vermeidung von Infektionen gestiegen ist.
Informations- und Kommunikationstechnik schafft in vielen Bereichen allein schon Entwicklungssprünge oder bringt solche Projekte entscheidend voran.
So nutzt Kenia im Rahmen des Tusome-Programms Tablets und eine Datenbank, um die Lernerfolge der Kinder zu überwachen und gegebenenfalls nachsteuern zu können. Die Lesefähigkeit der Grundschüler hat sich so innerhalb von drei Jahren deutlich verbessert.
Mit dem Siyavula-Programm aus Südafrika können Jugendliche Online-Unterricht in Mathematik und Naturwissenschaften nehmen und sich auf Abschlussprüfungen vorbereiten. Zu Corona-Zeiten sind die Siyavula-Nutzerzahlen geradezu explodiert.
Besonders wichtig ist Leapfrogging in der Landwirtschaft, auch weil Afrika nicht die Fehler wiederholen sollte, die Industrie- und Schwellenländer bei der Entwicklung ihres Agrarbereichs gemacht haben. Dort arbeiten die Bäuer*innen zwar hochproduktiv, aber ihre Wirtschaftsweise bedroht oft die Biodiversität, hinterlässt Unmengen an Treibhausgasen, verschmutzt das Grundwasser und lässt die Böden erodieren.
Wie sich die Teller nachhaltiger füllen und gleichzeitig Einkommen schaffen lassen, zeigt das nigerianische Sozialunternehmen Babban Gona, das Kleinbäuer*innen den Zugang zu Qualitäts-Saatgut, Dünger und Pflanzenschutzmittel erleichtert und sie zum Einsatz der Produkte berät. Dadurch konnten die Bäuer*innen in verschiedenen Regionen Nigerias ihre Erträge im Mittel auf das 2,3-Fache des nationalen Durchschnitts steigern.
Fortschritte in den zentralen Entwicklungsbereichen Gesundheit, Bildung und Landwirtschaft sind nicht nur entscheidend, um die demografische Herausforderung in Afrika zu bewältigen und die Nachhaltigen Entwicklungsziele der Weltgemeinschaft für 2030 zu erreichen. „Es ist vor allem auch das, was sich die Afrikanerinnen und Afrikaner wünschen“, betont Catherina Hinz, Direktorin des Berlin-Instituts. „Umfragen belegen, dass die Schaffung von Arbeitsplätzen sowie eine gute Gesundheits- und Bildungsinfrastruktur zu den wichtigsten Anliegen der Menschen auf dem Kontinent gehören.“ Es liege in der Verantwortung der afrikanischen Regierungen die Rahmenbedingungen zu schaffen, damit erfolgreiches Leapfrogging in diesen Bereichen möglich wird, so die Autor*innen.
Die Studie bietet in relativ kompaktem Umfang einen lesenswerten Überblick über Probleme, Herausforderungen und Trends auf dem afrikanischen Kontinent – und vor allem spannende und wohl wenig bekannte Beispiele, wie Innovationen zu einer positiven Entwicklung beitragen können. Dass die skandalträchtige Bayer AG zu den Geldgeber*innen für die Studie zählt oder dass die Autor*innen von einem „dringend notwendigen Aufholprozess“ schreiben, ohne anscheinend etwa den Kolonialismus und geopolitische Machtverhältnisse mitzudenken, sollte nicht davon abhalten, die informative Zusammenschau empirischer Befunde des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung zur Kenntnis zu nehmen.
Es gibt zudem zwei soziale bzw. ökonomische Faktoren, die die Studie nicht thematisiert, die zu hoffnungsgeladenen Vorstellungen aber immer mitgedacht werden sollten.
Der eine Faktor: Ökonomisch trägt auch die Bundesrepublik Deutschland eine Verantwortung dafür, positive Tendenzen in der Entwicklung afrikanischer Gesellschaften frei von störenden Einflüssen zu halten. Ob nun durch EU-Subventionen, die die Landwirtschaft in afrikanischen Ländern marktwirtschaftlich unrentabel machen, ob durch Nutzung als Müllhalde für den Schrott Europas, durch Waffenlieferungen an undemokratische Regime und nicht zuletzt durch das Vorantreiben der Klimakrise. Und auch als individuelle Bürger*innen sind wir hier in der Verantwortung: als Konsument*innen, als Stimmberechtigte für die deutsche und europäische Politik oder als Unterstützer*innen von Entwicklungsprojekten vor Ort.
Der andere Faktor: Die in vielen afrikanischen Gesellschaften hohe soziale Relevanz von Religion, die nicht nur immer wieder Mittel und Zweck gesellschaftlich disruptiver Konflikte wird, sondern auch viele geringfügigere negative Effekte hat, die in der Summe die Potenziale zu einer nachhaltigen Verbesserung verhindert, beeinträchtigt oder gar vorhandene Errungenschaften zerstört. Religion wird es wohl immer geben, doch ein glücklicheres Afrika der Zukunft ist ohne säkularere Gesellschaften nicht ernsthaft vorstellbar.