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Hartzfacts: Kampagne gegen Irrtümer und Vorurteile

Wussten Sie schon, von 5,8 Millionen Hartz-IV-Beziehenden ganze 76 Prozent nicht arbeitslos sind? Und Umfragen zufolge ist für 80 Prozent der Leistungsbeziehenden Arbeit das Wichtigste im Leben. Die neue Kampagne fordert deshalb eine Abschaffung der Sanktionen und die Anhebung der Regelsätze auf ein bedarfsgerechtes Niveau von mindestens 600 Euro.

Ziel der neuen Informationsaktion ist es, Betroffenen den Rücken zu stärken und politischen Druck für eine menschenwürdige Grundsicherung aufzubauen. Die Kampagne fordert eine Abschaffung der Sanktionen und die Anhebung der Regelsätze auf ein bedarfsgerechtes Niveau von mindestens 600 Euro.

Helena Steinhaus, Gründerin von Sanktionsfrei e. V. Die heute 32-Jährige hat als Teenager erleben müssen, was es heißt von Hartz IV zu leben, nachdem ihre Mutter durch eine Krankheit eine Zeit lang arbeitsunfähig war. Foto: privat

Wussten Sie schon, von 5,8 Millionen Hartz-IV-Beziehenden ganze 76 Prozent nicht arbeitslos sind? Und Umfragen zufolge ist für 80 Prozent der Leistungsbeziehenden Arbeit das Wichtigste im Leben. Zudem: Fast zwei Millionen Kinder und Jugendliche beziehen Hartz IV. Wenn sie sich was dazuverdienen wollen oder eine Ausbildung machen, werden bei Beträgen über 100 Euro sofort 80 Prozent wieder abgezogen. Und nur 1,12 Euro sind im Regelsatz monatlich für Bildung vorgesehen.

Nur 5 Prozent der Wohnungen in Berlin gelten für das Jobcenter als angemessen

Mit Großplakaten an S- und U-Bahnhöfen bundesweit wurde deshalb am Dienstag unter dem Motto „HartzFacts“ eine gemeinsame Informationskampagne gestartet, die Vorurteile gegenüber Hartz-IV-Beziehenden auszuräumen versucht. Träger sind der Verein Sanktionsfrei und der Paritätische Gesamtverband. Die Kampagne will Betroffenen den Rücken stärken und politischen Druck  für eine menschenwürdige Grundsicherung aufbauen. Gefordert wird eine Abschaffung der Sanktionen und die deutliche Anhebung der Regelsätze in der Grundsicherung auf ein bedarfsgerechtes Niveau von mindestens 600 Euro. Derzeit liegt der Regelsatz für alleinstehende Erwachsene bei 432 Euro pro Monat, für ältere Kinder und Jugendliche werden 308 bzw. 328 Euro gezahlt.

„HartzFacts – der Name der Kampagne ist bereits die Kernbotschaft: Hartz IV ist nicht einfach nur ein Volksbegriff für eine staatliche Leistung. Hartz IV ist Stigma, ist Meinung, ist Urteil. Aber vor allem ist es ein Vorurteil! Wie so oft ist auch diese Diskriminierung ein unbewusster und unterschwelliger Prozess und gerade deswegen so gefährlich. Genau deshalb machen wir diese Kampagne“, so Helena Steinhaus, Gründerin des Vereins Sanktionsfrei.

„Wir müssen uns eine andere Möglichkeit einfallen lassen als die Menschen so unter Druck zu setzen, dass sie aus purer Existenzangst reagieren.“
– Helena Steinhaus

Nach einer repräsentativen Umfrage des Markt- und Meinungsforschungsinstituts Forsa vom März 2020 sind Vorurteile gegenüber Hartz-IV-Beziehenden in der Bevölkerung weit verbreitet: Dass Hartz-IV-Beziehende bei der Job-Auswahl zu wählerisch seien, glaubt mit 45 Prozent fast die Hälfte der Befragten und etwas über die Hälfte neigt der Aussage zu, dass Hartz IV-Beziehende „nichts Richtiges“ zu tun hätten. Dem gegenüber stehen die empirischen und statistischen Fakten, nach denen nur rund ein Viertel der Hartz-IV-Beziehenden tatsächlich arbeitslos ist, während der Großteil erwerbstätig, in Ausbildung oder Qualifizierungsmaßnahmen oder mit der Pflege oder Erziehung von Angehörigen beschäftigt ist und daher dem Arbeitsmarkt derzeit nicht zur Verfügung steht.

„Menschen in Hartz IV, das ist zum Beispiel Marie aus München. Die alleinerziehende Mutter eines dreijährigen Sohnes hat während und nach Abschluss ihres Studiums kurzzeitig Joberfahrung gesammelt. Aber seit der Geburt ihres Sohns lebt sie von Hartz IV – wie übrigens jede dritte alleinerziehende Mutter. Sie ist hochqualifiziert und leistet jetzt wertvolle Care-Arbeit. Ihre Perspektive ist nicht allzu rosig: Ein Einstieg in den bezahlten Arbeitsmarkt wird wahrscheinlich nur als Teilzeitkraft möglich sein. Damit fehlt es an Aufstiegsmöglichkeiten.“

An den Plänen des Bundesarbeitsministeriums zur Neuregelung der Regelsätze zum 1. Januar 2021 gibt es deutliche Kritik, sie seien absolut unzureichend.

Dr. Ulrich Schneider – Foto: Paritätischer Gesamtverband

„Es wäre ein Skandal und ein politisches Armutszeugnis sondergleichen, wenn Hilfebedürftige in Hartz IV und in der Grundsicherung für alte und erwerbsgeminderte Menschen für weitere fünf Jahre auf Beträge verwiesen werden, die mit Bedarf und Lebensrealität in Deutschland wirklich nichts zu tun haben. Es darf nicht sein, dass Armut in Deutschland für weitere fünf Jahre regierungsamtlich festgeschrieben wird“, kritisiert Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen.

Die Kritik an der zu geringen Regelsatzhöhe wird durch ein weiteres Ergebnis einer Forsa-Umfrage untermauert. So würden die allermeisten Menschen nicht davon ausgehen, dass die für Hartz IV und Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung vorgeschlagenen Regelsatzbeträge ausreichend sind, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Der Betrag, der im Durchschnitt der Befragten für nötig erachtet wird, liegt mit 728 Euro um 66 Prozent über dem Regelsatz, der nach den jüngst bekannt gewordenen Plänen des Bundesarbeitsministeriums künftig gelten soll.

„Sanktionen sind kontraproduktiv und treiben Menschen ins Elend. Es zeugt schon von außergewöhnlicher Kaltherzigkeit oder aber Lebensferne, wenn Menschen in der Grundsicherung trotz der offensichtlichen coronabedingten Mehrbedarfe nicht nur nach wie vor finanzielle Soforthilfe verweigert, sondern nun auch noch mit Leistungskürzungen gedroht wird.“
– Ulrich Schneider zur Weisung der Bundesagentur für Arbeit, nach der Jobcenter ab sofort grundsätzlich wieder Sanktionen gegen Hartz-IV-Beziehende verhängen dürfen.

Konkret fordern Sanktionsfrei e. V. und der Paritätische eine bedarfsgerechte Anhebung der Regelsätze und eine vollständige Abschaffung von Sanktionen: „Gemeinsam fordern wir ein System, das absichert und nicht verunsichert. Ein System, das die Menschen unterstützt, ihnen Mut macht und eine menschenwürdige Grundsicherung garantiert.“

Auf der Kampagnen-Website hartzfacts.de sind Geschichten, Fakten und Vorurteile sowie ein Wissens-Quiz zu finden.
Update vom 9. Juli 2020

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