Panorama
Farbenblind alleine reicht nicht
Rezension zu Sikivu Hutchinsons „Humanists in the Hood. Unapologetically Black, Feminist and Heretical“, Washington 2020.
Rezension zu Sikivu Hutchinsons „Humanists in the Hood. Unapologetically Black, Feminist and Heretical“, Washington 2020.
„Einige meinen, es reicht, wenn man sagt, man wäre farbenblind / In einem System, das mir beibringt zu sehen, dass da aber Farben sind“ (BSMG)
In der Reihe „Humanism in Practice“ ist ein Band erschienen, in dem Sikivu Hutschinson beschreibt, wie es um die Weltanschauung schwarzer („black“) und farbiger („of color“) säkularer Humanist*innen in den USA bestellt ist. Wer nun denkt, dass solch ein Buch überflüssig sei, weil es doch ausreiche, farbenblind an alle Menschen heranzutreten, der wird schnell eines Besseren belehrt. Zwar stimmt auch Hutchinson zu, wenn es darum geht, jeglichen Rassismus als Denkfehler zu brandmarken, dennoch macht sie deutlich, dass schwarze und farbige Humanist*innen häufig nicht die gleichen Zugangsvoraussetzungen zu ihren Überzeugungen haben wie weiße.
Was mir bei der Lektüre dieses spannenden und wichtigen Buches immer wieder aufgefallen ist, ist die Nutzung des Verbes „inform“. Man kennt es auch im Deutschen, wo es zumeist beschreibt, dass jemand sich selbst informiert. Ich informiere mich, Du informierst Dich er/sie/es informiert sich. Doch Hutchinson benutzt das Wort in seinem wortwörtlichen Sinn. Eine In-Formation ist im Lateinischen etwas, was Veränderungen (wörtlich: Ein-Formungen) mit sich bringt. Dadurch, dass hier überzeugend davon die Rede davon ist, was das Leben einer Schwarzen in den USA in diesem Sinne in-formiert, wird dem Leser schnell klar, dass es nicht helfen kann, „alle gleichermaßen mit Würde und Respekt“ (S. 78) zu betrachten, wenn es Menschen gibt, deren Leben in-formiert ist, während andere Menschen den Luxus genießen, sich selbst zu informieren (oder es sein zu lassen).
Dabei redet Sikivu Hutchinson weder von Opfern noch von bemitleidenswerten Schicksalsschlägen, sondern entwirrt auf wenigen Seiten ein Netz aus weißer Vorherrschaft und schwarzen Klischeeerwartungen an Frauen, Männer und Glauben. Weißer Suprematismus in-formiert die populäre Kultur der USA (S. 91) und dadurch die Selbstwahrnehmung der Schwarzen, aber auch die Sichtweise Weißer auf Schwarze und sich selbst. Das Religionsrecht in-formiert die Möglichkeit von schwarzen Frauen, sich als säkulare Humanistinnen von Machismus und Erwartungshaltungen der Community zu emanzipieren. Letzteres macht Hutchinson am Beispiel von Mike Tyson deutlich, dem sowohl „Nation of Islam“ als auch „National Baptist Convention“ den Rücken stärkten, als er sich mit Vergewaltigungsanschuldigungen konfrontiert sah (S. 72).
In-formiert wird eine schwarze Humanistin aber auch durch die Erwartung, die sowohl durch ihre Community als auch durch Weiße an sie herangetragen wird, dass es „typisch“ für schwarze und farbige Frauen sei, gläubig zu sein. So zitiert sie die Erfahrung einer pakistanisch-stämmigen Ex-Muslimin, der ihre Familie entgegenhielt, sie wolle doch nur so werden „wie diese weißen Leute“ (S. 106). Gerade diese religiöse In-Formation der schwarzen Bevölkerung wertet die Autorin als Ausläufer eines „posttraumatischen Sklav*innen-Syndroms“, das bis heute in dem Bedürfnis schwarzer Communities weiterlebe, im Wort Gottes Trost zu suchen (S. 114 f.). Auch die Sklaverei in-formiert also bis heute – was nicht verwundert, wenn man sich anschaut, welche kolossalen Dimensionen sie hatte und dass sie vor gerade einmal anderthalb Jahrhunderten nominell abgeschafft wurde.
Hutchinson zeigt auf, dass es in Wirklichkeit ein reiches intellektuelles Erbe an schwarzem säkularen Humanismus gibt und mit Recht verweist die z. B. auf Frederick Douglass (1818-1896), der sich vehement dagegen wehrte, sich vor irgendeinen ideologischen Karren spannen zu lassen (S. 103 f.). Sie macht plausibel, warum dennoch die Themen weißer mittelständischer säkularer Humanisten (es sind meistens Männer) für schwarze säkulare Humanist*innen in den USA regelrecht uninteressant sind. Erstere gefielen sich, so Hurchinson, gerne darin, Gläubige als hinterweltlerisch zu karikieren und sich über mangelnde Trennung von Kirche und Staat zu echauffieren. Sie posaunten heraus, wie säkular schon die Gründungsväter der USA gewesen seien und verwiesen dabei gerne auf Thomas Jefferson.
Schwarze säkulare Humanist*innen können nun gerade mit dem Verweis auf Thomas Jefferson herzlich wenig anfangen. Dieser Sklav*innen-Halter füllte seinen eigenen Bestand an Sklav*innen aufgrund eines Gesetzes, das den Rechtsstand eines in den USA geborenen Menschen am Rechtsstand der Mutter maß, gerne tatkräftig selber auf (S. 55). Das mag zwar in der Vorstellungswelt eines Thomas Jefferson „rational“ gewesen sein – schwarze Humanist*innen können sich nachvollziehbarerweise für diese Art des Rationalismus nicht begeistern.
Und hier kommen wir zu dem Teil des Buches, der m. E. für europäische Leser*innen besonders fruchtbringend ist. Hutchinson zeigt nämlich auf, dass die ökonomische Lage immer mitgedacht werden muss, wenn man säkularen Humanismus bei Schwarzen und Farbigen nachvollziehen möchte. Dass es einen ökonomischen Unterschied zwischen Weißen und Schwarzen gibt, darüber kann auch der eine oder andere schwarze milliardenschwere Betreiber eines Glaubensunternehmens nicht hinwegtäuschen (S. 47). Strukturell bleiben die Möglichkeiten und Chancen massiv ungleich verteilt.
Deswegen hält Hutchinson kategorisch fest, dass ein säkularer Humanismus, der nicht auch die soziale Frage stelle, für schwarze und farbige säkulare Humanist*innen letztlich unterinteressant bleiben müsse (S. 48). Und sie führt ein interessantes Beispiel aus der Geschichte des Humanismus in den USA selbst auf. So habe das erste humanistische Manifest von 1933 noch deutlich Gleichheit und wirtschaftliche Gerechtigkeit anvisiert und auch das zweite von 1973 habe noch „wirtschaftlichen Wohlstand für alle Individuen und Gruppen“ gefordert. Doch das aktuelle Manifest rede nur noch oberflächlich von „unterdrückerischen Regimen“, die es zu bekämpfen gelte – und damit sei nicht der Kapitalismus gemeint (S. 51).
Was säkulare Humanist*innen in Europa m.E. von diesem extrem klugen, schnellen, gut lesbaren und im positiven Wortsinn aggressiven Buch lernen können, ist zum einen, sich danach zu fragen, wessen Leben eigentlich durch welche Faktoren in-formiert wird und wie sich diese In-Formation auf deren Verhältnis zum Humanismus auswirkt. Zum anderen lernen wir, direkt an die erste Lehre anschließend, die Frage nach den ökonomischen Umständen neu zu stellen, die ein säkularer Humanismus eigentlich anstrebt. Das ist eine wichtige Anregung, über die wir hier in Europa auch noch einmal reden sollten.
„Diß Leben kömmt mir vor alß eine renne bahn“, schreibt Andreas Gryphius 1650 und bittet sogleich „Laß höchster Gott mich doch nicht auff dem Laufplatz gleiten.“ Säkulare Humanist*innen müssen zur Kenntnis nehmen, dass der Lebenslauf der Menschen unterschiedlich glitschig sein kann und sie müssen sich die Frage stellen, was das für sie bedeutet, wenn sie sich darin einig sind, dass es bei diesem Lebenslauf mit rechten Dingen zugehen soll.