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Gläserne Wände - Bericht zur Benachteiligung nichtreligiöser Menschen in Deutschland

Interview

Familien sind systemrelevant

“Familien sind die Leistungsträger in diesem Land. Und das soziale Kapital einer Gesellschaft sollte nicht weniger wert sein als das ökonomische Kapital”, sagt der stellvertretende Vorsitzende des Kinderschutzbundes Bayern, Jens Tönjes, mit Blick auf die Coronavirus-Krisenpolitik der letzten Monate.

Foto: Fotolia / Dimitry Naumov

„Familien sind die Leistungsträger in diesem Land. Und das soziale Kapital einer Gesellschaft sollte nicht weniger wert sein als das ökonomische Kapital“, sagt der stellvertretende Vorsitzende des Kinderschutzbundes Bayern, Jens Tönjes, mit Blick auf die Coronavirus-Krisenpolitik der letzten Monate.

Unter anderem bei den Regelungen zum Betretungsverbot für Kitas sei aus seiner Sicht ein „fehlsames Verständnis von Kindern und ihren Rechten und übrigens auch der Funktion von Kindertageseinrichtungen“ zutage getreten, das dringend der Korrektur bedürfe. Familien sind systemrelevant, doch viele Familien hätten nicht das Gefühl gehabt, wirklich gesehen worden zu sein. Tönjes plädiert außerdem dafür, Kinderrechte institutionell so zu verankern, dass staatliche Entscheidungen mit Auswirkungen auf Kinder generell nicht ohne Ansehen ihrer Rechte getroffen werden.

Das Interview ist zuerst erschienen beim Paritätischen Wohlfahrtsverband Bayern.

Wurden Familien in den Wochen der Corona-Beschränkungen zu wenig gesehen?

Jens Tönjes: Die Corona-Krise war und ist eine Bewährungsprobe für das politische Versprechen vom „Familienland Bayern“. Und leider sind Familien von der Politik einige Wochen allein gelassen worden. Eilends wurden große Rettungsschirme für die bayerischen Unternehmen aufgespannt – aber wo blieben die Rettungsschirme für Familien? Da wurde breit über die Öffnung von Gaststätten und Möbelhäusern, über Kaufprämien für Autos, gar über die Wiederaufnahme des Spielbetriebs der Bundesliga diskutiert – aber wo blieb die Diskussion über die Perspektiven für Kinderbetreuung, Schule und Kinderspielplätze? Sie kam zögerlich, und sie kam spät.

Weiß die Politik eigentlich, so fragen betroffene Eltern befremdet, was es bedeutet, wenn Mütter und Väter, vielleicht noch alleinerziehend und mit kleineren Kindern im Home-Office, zugleich gute Arbeitnehmer, gute Eltern und auch noch gute Ersatzlehrer sein sollen? Welcher Druck in die Familien hineingetragen wird, welche Sorgen und Existenzängste entstehen? Was Kinder aushalten müssen?

Sicher: Das gilt nicht für alle Familien. Und die Wirtschaft muss gestützt werden, Wohlstand und Wohlfahrt für die Familien hängen ganz unmittelbar von der Wirtschaftsleistung ab. Wir sollten aber nicht übersehen: Nicht nur Unternehmen sind systemrelevant – Familien sind es auch! Und viele Familien haben jedenfalls nicht das Gefühl gehabt, gesehen worden zu sein. Das ist mittlerweile anders.

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Und die Kinder? Wurden sie gesehen?

Kinder indes wurden von der Politik von Anfang an gesehen, nur stimmte die Perspektive leider nicht. Nehmen Sie einmal das Betretungsverbot von KiTa und Schule: Es wurde in der Allgemeinverfügung damit gerechtfertigt, dass Kinder den Virus in die Familien hineintragen und damit die systemrelevante Altersgruppe der Erwerbstätigen gefährden. Es ging also nicht um den Schutz der Kinder, es ging um den Schutz systemrelevanter Eltern, der Volksgesundheit und um die Sicherung des „Systems“. Dass bei einem solchen Verständnis von Kindern als Regelungsobjekt der Infektionseindämmung die gesellschaftliche Stigmatisierung als „Virenschleudern“ nicht fernliegt, nimmt da nicht wunder. Und wenn Sie die Notbetreuung anschauen: Sie richtete sich anfangs ausschließlich nach dem Beruf der Eltern und ihrer Systemrelevanz und nicht nach den Bildungs- und Betreuungsbedürfnissen von Kindern. Hier tritt ein fehlsames Verständnis von Kindern und ihren Rechten und übrigens auch der Funktion von Kindertageseinrichtungen zutage, das dringend der Korrektur bedarf. An dieser Haltung muss noch gearbeitet werden.

Woran liegt es, dass die Bedürfnisse von Kindern und Familien so wenig Berücksichtigung fanden?

Sicher hatte zu Beginn der Pandemie ein rasches und entschlossenes Vorgehen zur Seuchenabwehr höchste Priorität, hinter der alles andere zurücktrat. Viele Familien haben anfangs die entschiedene Intervention der Staatsregierung unterstützt, weil sie sich behelfen konnten. Und tatsächlich treffen die Maßnahmen Familien ja auch in höchst unterschiedlicher Weise. Nur ist in der Folgezeit versäumt worden, die Auswirkungen für Kinder und Familien abzufangen und nach kreativen Lösungen zu suchen. Es war doch absehbar, dass die kindliche Entwicklung nicht auf Dauer auf das Kinderzimmer beschränkt sein kann und dass irgendwann Überstunden und Urlaub der Eltern aufgebraucht sein werden.

Die Notbetreuungen etwa wurden zu Beginn nur zunächst von einem Prozent der Kinder besucht. Da wäre mehr Mut und schnelle Nachsteuerung angebracht gewesen. Über die Gründe kann man nur spekulieren. Einfache Lösungen gab es sicher nicht. Eine gewisse Rolle mag auch spielen, dass „Familienpolitik und das ganze Gedöns“, wie Altkanzler Gerhard Schröder 1998 bemerkte, gegenüber anderen politischen Handlungsfeldern weniger bedeutsam erscheint. Wenn es sich so verhielte, wäre das ein fataler Irrtum: Familien sind die Leistungsträger in diesem Land. Und das soziale Kapital einer Gesellschaft sollte nicht weniger Wert sein als das ökonomische Kapital.

#CoronaEltern: Wenn die 4-Jährige kein Nordic Walking macht. Unsere Gastautorin Anika Herbst war wie viele Eltern schon Mitte April häufiger am Rande ihrer Kräfte. Und die bayerische Regelung zur Kita-Beitragsübernahme sieht sie als kläglichen „Versuch einer Rückerstattung für eine in vielerlei Hinsicht unbezahlbare und unerreichbare Leistung.“ Weiterlesen…

Welche Folgen befürchten Sie für Kinder und Jugendliche?

Die Corona-Krise trifft uns alle, aber nicht alle in gleicher Weise. Allgemein lässt sich sagen: Da, wo es bislang gut funktioniert hat, wird es auch in der Krise klappen. Und dort, wo es schon bislang Probleme gab, werden diese nicht kleiner geworden sein. Die meisten Kinder und Jugendlichen werden diese Zeit gut überstehen, wenn die Restriktionen nicht mehr allzu lange andauern. Aber es wird auch Kinder geben, bei denen wir sehr aufmerksam hinschauen müssen: Kinder mit besonderem Förderbedarf und vorbelastete Familien, die Unterstützungsangebote nicht wahrnehmen konnten. Kinder mit geringer Resilienz, für die die aktuelle Situation eine Überforderung darstellt. Kinder und Jugendliche, die an Übergängen stehen (Kita/Schule, Schule/Beruf) und dabei weniger begleitet werden können. Kleine Kinder, die entwicklungsbedingt noch vollständig auf ihre Eltern angewiesen und besonders vulnerabel sind, weil jegliche soziale Kontrolle entfallen ist. Aktuell haben wir keine Anhaltspunkte für ein vermehrtes Auftreten von Kindeswohlgefährdungen. Weder gab es mehr Inobhutnahmen durch die Jugendämter noch Meldungen über vermehrte häusliche Gewalt. Was es aufzuarbeiten gilt, werden wir vermutlich erst in einigen Wochen sagen können, wenn Kinder wieder vermehrt in vertrauten Betreuungssettings und in der kinderärztlichen Behandlung gesehen werden.

Dringend müssen wir übrigens auch für Jugendliche und junge Erwachsene wieder den Zugang zu pädagogisch begleiteten Angeboten offener Jugendarbeit einräumen. Sie werden mit ihren Sorgen und Nöten derzeit überhaupt nicht aufgefangen.

Und schließlich: Trotz des in vielen Fällen wirklich bemerkenswerten Engagements der Lehrkräfte (und auch der Eltern) soll bitte niemand meinen, dass die Kinder sich in Heimarbeit das aneignen können, was an einem normalen Unterrichtstag in der Schule erwartet werden würde. Es ist zwingend erforderlich, die Lehrpläne anzupassen, damit die Corona-Krise nicht noch eine Lernkrise für die Kinder (und die Eltern) nach sich zieht. Und wir dürfen nicht diejenigen aus den Augen verlieren, die aufgrund ihres Elternhauses schon bislang in der Bildung benachteiligt waren und nun Gefahr laufen, endgültig abgehängt zu werden. Hier sind gezielte Fördermaßnahmen erforderlich.

Die Art der Krisenbewältigung zeigt im Übrigen eindrücklich, wie wichtig es ist, Kinderrechte institutionell so zu verankern, dass staatliche Entscheidungen mit Auswirkungen auf Kinder nicht ohne ihre Beteiligung und in Ansehung ihrer Rechte getroffen werden. Die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz wäre dazu ein wichtiger Schritt.

Was muss sich ändern, damit die Interessen der Kinder mehr Beachtung finden?

Wenn in Norwegen die Ministerpräsidentin Erna Solberg eine Corona-Pressekonferenz für Kinder im Fernsehen gibt und um Verständnis und Unterstützung bittet, dann sagt das viel über den Stellenwert von Kindern in einer Gesellschaft aus. Wir müssen dringend andere Haltung zu Kindern entwickeln und sie nicht nur als köstlichstes „Gut“ eines Volkes (Art. 125 Bayerische Verfassung), sondern als berechtigte Mitgestalter ihres Lebens und unserer Gesellschaft sehen. Und wir brauchen Strukturen und Prozesse, die die Partizipation von Kindern in allen Lebensbereichen und bei allen Entscheidungen, die Kinder betreffen, verbindlich absichern. Da geht es nicht nur um ganz konkreten Kinderschutz, den die Teilhabe im Einzelfall bewirkt. Es geht vor allem auch um gesellschaftliche Teilhabe, von der Kinder nicht ausgeschlossen sein dürfen. Leider liegen wir in Bayern in der Verbürgung und Umsetzung von Teilhaberechten nicht nur hinter Norwegen, sondern auch hinter anderen Bundesländern deutlich zurück. Die Art der Krisenbewältigung zeigt im Übrigen eindrücklich, wie wichtig es ist, Kinderrechte institutionell so zu verankern, dass staatliche Entscheidungen mit Auswirkungen auf Kinder nicht ohne ihre Beteiligung und in Ansehung ihrer Rechte getroffen werden. Die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz wäre dazu ein wichtiger Schritt.

Sind durch die Corona-Zeit neue Chancen für Kinder, Jugendliche und ihre Familien entstanden?

Es gibt durchaus Familien, die die Krise als bereichernd empfunden haben, als Zeit der Entschleunigung, des intensiven Zusammenseins, als Zeit für mehr Miteinander und des Sich-Besinnens auf die wesentlichen Dinge im Leben. Wohl noch nie waren so viele Väter mit ihren Kindern auf den Straßen und in der Natur unterwegs wie in den letzten Wochen! Wie viele Kinderspiele und -bücher sind zusammen neu entdeckt worden, wie viele Bastelarbeiten und YouTube-Videos sind entstanden. Homeschooling könnte ein guter Impuls für den raschen Ausbau digitaler Lernwelten sein, wenn die didaktische Herausforderung bewältigt wird. Eine Ausweitung von Telearbeit kann zu besserer Vereinbarkeit von „Familie und Beruf“ beitragen. Der erzwungene Verzicht hat uns selbstverständliche Dinge und Gewohnheiten des Alltags neu schätzen gelehrt. Wir erleben eine kaum gekannte Rücksichtnahme auf den Nächsten und breite Solidarität mit den Risikogruppen. Es wäre schön, wenn wir all diese Erfahrungen und Werte als handlungsleitend mit in die Zukunft nehmen könnten, denn das sind gute Voraussetzungen für das Aufwachsen unserer Kinder. Dann wäre die „neue Normalität“ vielleicht sogar ein Gewinn gegenüber dem vorherigen Zustand.

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