Interview
„Viele Menschen wollen solche religiösen Rufe nicht hören“
Die Allgemeinheit mehrmals täglich mit religiösen Verkündigungen zu beschallen, ist eine Grenzüberschreitung, sagt der Vorstand der Humanistischen Vereinigung zur Diskussion um öffentliche Muezzinrufe.
Öffentliche Gebetsaufrufe sollten in deutscher Sprache vorgetragen werden, sagt der Vorstand der Humanistischen Vereinigung zur Kontroverse um Muezzinrufe während der Coronavirus-Pandemie. Dies würde betonen, dass der Islam Teil der pluralistischen Bundesrepublik ist. Doch: Auch auf Deutsch sollten solche Aufrufe nur die Ausnahme sein.
„Wer sich selbst und andere kennt / Wird auch hier erkennen: / Orient und Okzident / Sind nicht mehr zu trennen.“ – So reimte Johann Wolfgang von Goethe in seinem 1819 erschienenen West-östlichen Divan. Etwa zwei Jahrzehnte später notierte der Preußenkönig Friedrich II. in einem Vermerk: „Alle Religionen sind gleich und gut, wenn nur die Leute, die sich zu ihnen bekennen, ehrliche Leute sind. Und wenn Türken und Heiden kämen und wollten das Land bevölkern, dann würden wir ihnen Moscheen und Kirchen bauen.“
200 Jahre nach Goethes „Divan“ müsste man meinen, wenigstens diese zwei historischen Persönlichkeiten würden sich heute in gewisser Hinsicht ganz zufrieden zeigen. Denn seit der Ausbreitung der Coronavirus-Pandemie nach Deutschland ertönt nicht mehr nur Kirchenglockengeläut in vielen Gemeinden der Bundesrepublik, sondern mitunter auch der öffentliche Muezzinruf. Da für Moscheen die Regelungen zur Kontaktbeschränkung gelten, ist der islamische Gebetsruf mancherorts zumindest vorübergehend zum Teil der akustischen Kulisse geworden. In einigen Städten, so etwa in Duisburg, sogar auf ausdrückliche Einladung benachbarter Kirchengemeinden, wie u. a. das Deutsch-Türkische Journal berichtete. Was praktizierende Muslim*innen und christliche Glaubensvertreter*innen erfreut, regt wiederum andere auf, wie viele Kommentare zu entsprechenden Artikeln oder Videos im Internet zeigen.
Michael Bauer, Vorstand der Humanistischen Vereinigung, sieht jedoch deutlich zeitgemäßere Alternativen, mit denen Vertreter*innen von Religionen ihre Glaubensgenoss*innen zur Beachtung ihrer Pflichten aufrufen können, und bei denen die Interessen der Nicht-Religiösen besser respektiert werden. Der öffentliche Muezzinruf ist für ihn deswegen ein Anachronismus.
Kirchenvertreter*innen auch in Bayern haben sich für öffentliche Muezzinrufe ausgesprochen, die AfD-Fraktionschefin im Landtag dagegen. Wie sieht in dieser Kontroverse für Sie eine humanistische Position aus?
Michael Bauer: Grundsätzlich ist natürlich der Ruf zum Gebet oder die Werbung für Religion im Rahmen der Religionsfreiheit ein Grundrecht. Und wenn Gebete manchen Menschen in dieser Krise Halt und Trost geben können, dann ist dagegen nichts einzuwenden, im Gegenteil. Allerdings endet die Religionsfreiheit der einen dort, wo sie die Religionsfreiheit von anderen, auch die negative Religionsfreiheit, beeinträchtigt. Und das ist bei dieser Form des Ausrufens von Glaubensinhalten in den öffentlichen Raum eben der Fall. Deshalb sollte hier Zurückhaltung geübt werden.
Mit welcher Begründung?
Viele Menschen wollen solche religiösen Rufe schlicht nicht hören, sie stören sich daran. Nun kann man sagen, dass man das eben aushalten müsse in einer pluralistischen Gesellschaft. Wenn das ab und zu, bei besonderen Gelegenheiten der Fall wäre, dann würde das ja auch vielleicht noch angehen können. Regelmäßige, vielleicht noch täglich mehrmalige Beschallung der Allgemeinheit mit religiösen Verkündigungen ist jedoch eine Grenzüberschreitung, die zu weit geht. Bei jeder Religion, das hat mit dem Islam speziell nichts zu tun.
Und wie stehen Sie zum Kirchenglockengeläut?
Nun ja, wer mal neben einer Kirche gewohnt hat, weiß, wie störend auch das sein kann, wenn am Sonntag morgens plötzlich ein Höllenlärm losbricht. Allerdings ist das Kirchengeläut zuvorderst ein Geräusch. Das kann man auch abstrakt als Zeitanzeige deuten oder man kann es als Folklore wahrnehmen, die eben an manchen Orten zum europäischen Kulturraum gehört wie auch Motorradlärm oder startende Flugzeuge. Ihm fehlt die Ebene der verbalen Kommunikation. Der Muezzinruf hat genau diese Ebene, er ist nicht irgendetwas individuell deutbares, sondern er hat eine konkrete Botschaft. Und diese Botschaft wird eben von vielen Menschen nicht geteilt, und sie ist ihnen auch unwillkommen.
Sollten dann die Gebetsaufrufe, wenn überhaupt öffentlich, in deutscher Sprache vorgetragen werden müssen?
Ja, wenn überhaupt, dann sollten sie das, damit keine Missverständnisse und Verschwörungstheorien bezüglich des Inhalts aufkommen können. Das würde auch betonen, dass der Islam ein Teil der heutigen, weltanschaulich pluralistischen Bundesrepublik ist und nicht etwas, das vor allem im arabischen oder türkischen Raum zu Hause ist.
Eine Ablehnung von öffentlichen Muezzinrufen ist aus Ihrer Sicht aber nicht mit rassistischen oder fremdenfeindlichen Haltungen, wie sie die AfD repräsentiert, gleichzusetzen.
Natürlich nicht, das hat nichts mit Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit zu tun. Nur weil es gerade um den Islam geht, kann nicht Kritik an bestimmten Religionspraktiken und religiösen Begehrlichkeiten plötzlich tabu sein. Hier geht es um eine Frage, die mit den Grundrechten derjenigen zu tun hat, die sich vom Muezzinruf nicht angesprochen fühlen und ihn trotzdem hören müssen.
Auch viele größere und kleinere Veranstaltungen der Humanistischen Vereinigung mussten aufgrund der Pandemie bisher abgesagt, verschoben oder – wo möglich – konzeptionell umgestellt werden. Haben Sie schon darüber nachgedacht, in der jetzigen Lage ebenfalls mit öffentlichen Ausrufen zur Beteiligung an der eigenen weltanschaulichen Praxis aufzufordern?
Tja, wenn alle irgendwas rufen oder bimmeln, dann sollten wir natürlich nicht hintanstehen. Derzeit haben wir aber noch keine konkreten Pläne dazu.
Sehen Sie noch andere Lösungen, wie Gläubige zu Coronavirus-Zeiten auf ihre Pflichten aufmerksam gemacht werden könnten? Was würde wohl jemand wie Goethe oder Friedrich II. heute hierzu vorschlagen?
Goethe wäre es wohl wurscht gewesen, solange er davon in seiner Residenz nicht gestört wird, und Friedrich hätte sein Militär eingesetzt, das hat er ja eh am liebsten gemacht. Aber im Ernst: Es gibt bereits jede Menge Apps, die einen individuell an alle möglichen Gebetspflichten erinnern können, wenn man das will. Der öffentliche Muezzin-Ruf ist eigentlich ein Anachronismus, er ist funktional nicht nötig, um den Islam leben zu können. Ich will dieses Bedürfnis mancher Menschen aber nicht einfach wegwischen. Ein Kompromiss und ein Signal für Toleranz und Pluralität könnte ja sein, dass an wenigen bestimmten, eingegrenzten Gelegenheiten im Jahr ein solcher Ruf durchaus ertönen kann, ähnlich wie ja auch die Kirchenglocken zu zwei oder drei Festen besonders lang und laut läuten dürfen. In diesem Rahmen fände ich persönlich das völlig in Ordnung. Und wir singen dann zum Welthumanistentag was Besinnliches ins Megaphon, vielleicht ja von Goethe. Aber nicht zu früh, erst nach dem Frühstück.