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Coronakrisen-Tagebuch

Calypso weint noch – Was wir mit unserer Angst anfangen können

Man kann die Angst zulassen, es ist keine Schande, sie zu zeigen. Geben wir ihr eine Sprache und überhaupt einen Ausdruck. Und vielleicht hat sie mehr als den Schrecken im Gepäck, nämlich etwas, das uns Kraft verleiht, uns pusht.

Von Martin A. Völker

Foto: Pexels.com

Das Osterfest war in diesem Jahr ganz anders. Anders haben auch die Leute darüber gesprochen. In der U-Bahn hörte ich eine Frau zu ihrem Begleiter sagen: „Ist ja alles zu. Woher sollen denn nun die Ostergeschenke kommen?“ Der Mann entgegnete ernst: „Geschenke gibt es erst im nächsten Jahr wieder. In diesem Jahr geht es ums Überleben!“ Den Gesichtsausdruck der Frau, dieses schwankende Zucken zwischen Ungläubigkeit, Belustigung, Verstörung und Angst, werde ich nicht vergessen.

Die Feiertage sind längst vergangen und überlebt worden, aber die Angst ist geblieben. Die Angst vor einer weiteren Verschlimmerung der Gesamtlage, die Angst davor, mit ungewissem Ausgang selbst an Covid-19 zu erkranken, Nahestehende an die Krankheit ganz oder zeitweise zu verlieren, unwissentlich andere anzustecken. Interessant ist dabei zu sehen, dass sich zwei Angsttypen überlagern: die Angst um die physische Existenz und vor bleibenden Schäden nach einer Erkrankung einerseits, andererseits die Angst vor dem wirtschaftlichen Niedergang. Letztere ist natürlich voll und ganz zu verstehen, und doch beschleicht einen die Sorge, dass sich Gesundheit und Wirtschaft in einen unguten Wettbewerb verwickeln. Werden die Menschen vom wieder anrollenden Rubel letztendlich überrollt? Wird die Gesundheit der wirtschaftlichen Freiheit geopfert?

Die Krise, und das ist einer ihrer positiven Aspekte, gibt uns die Möglichkeit, unsere Ängste sowie uns selbst im Angstmodus kennenzulernen. Angst ist ja normalerweise das, was keiner haben soll, niemand gern haben will. Ist die Angst da, muss sie beherrscht werden, sie soll bearbeitet, gleichsam weggearbeitet werden. Wenn der Wasserhahn tropft, holen wir den Klempner. Steht die Angst vor der Tür, öffnen wir nicht, sondern brüllen hindurch, dass wir, wenn sie nicht sofort verschwindet, den Profi mit dem psychoanalytischen Spezialwerkzeug anfordern, der der Angst schon zeigen wird, wo der Hammer hängt. Diese Angst vor der Angst verstärkt die Krisenstimmung jedoch und führt uns weiter auf der sich täglich schneller drehenden Angstspirale, von der abzuspringen unmöglich erscheint.

Angst als Bewegungsenergie

Die Angst vor der Angst hat ihre Vorgeschichten. Eine hat mit einem Brief vom 30. August 1767 zu tun. In ihm setzt sich der Philosoph Friedrich Carl Casimir von Creuz mit einer Textstelle des Barockdichters Benjamin Neukirch auseinander, in der es um das sich lösende Liebesverhältnis zwischen Odysseus und der Göttin Calypso geht. Creuz überarbeitet und glättet die Sprache seines Vorgängers und schreibt: „Calypso weinte noch, und kannte keinen Frieden / In der bestürmten Brust – Ulysses war geschieden!“ Ihren Schmerz über den Abschied verstärkt die Einsicht, „daß die Göttin nicht, wie Menschen, sterblich war“. Nicht einmal im Tod können beide vereint sein. Die Angst vor dem Unglück der Trennung und die Realität des Abschieds werden also potenziert, weshalb Creuz mit einem feinen Gespür für das Fließen der Sprache nachdichtet, dass hier „Angst aus Angst“ entsteht. Die Übersteigung und Steigerung der Angst wird allerdings zu einem lyrischen Stilmittel, das dazu führt, die Leserschaft emotional stärker einzubeziehen und dem Unglück einen starken ästhetischen Reiz zu verleihen.

In der Literatur kann die Not anderer beim Lesen begeistern. Daraus lässt sich der handlungsweisende Schluss ziehen, die eigene aufkeimende Angst nicht sofort niederzukämpfen, sondern sie ruhig kommen zu lassen. Man kann die Angst zulassen, es ist keine Schande, sie zu zeigen. Geben wir ihr eine Sprache und überhaupt einen Ausdruck. Und vielleicht hat sie mehr als den Schrecken im Gepäck, nämlich etwas, das uns Kraft verleiht, uns pusht. Angst ist Energie. Du kannst die Energie deines Gegners übernehmen, sie für deine Aktionen nutzen und produktiv machen. Das ist Judo für den Geist und eine wehrhafte Psychohygiene. Gelingen wird das nicht immer, aber niemand sollte Angst davor haben, es wenigstens zu versuchen. Auf diese Weise hört Calypso irgendwann tatsächlich auf zu weinen.

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