Coronakrisen-Tagebuch
#CoronaEltern: Wenn die 4-Jährige kein Nordic Walking macht
Unter dem Hashtag #CoronaEltern lese ich in den „sozialen Medien“ viele Hilferufe von Müttern und Vätern. Kleinster gemeinsamer Nenner aller Beiträge: Eltern wie Kinder drehen langsam durch.
Von Anika Herbst
Unter dem Hashtag #CoronaEltern lese ich in den „sozialen Medien“ Hilferufe von Müttern und Vätern aus meiner Filterblase. Sie schildern amüsante Blüten des alltäglichen Wahnsinns – verkrusteter Haferbrei auf Federbetten, denn Minnie hatte solchen Hunger #CoronaEltern #MickeyMausBettwäsche – ebenso wie ernsthafte Sorgen über soziale und Bildungs-Ungerechtigkeit.
Wenn irgendeine Gruppe für die Gesellschaft als solche tatsächlich systemrelevant sein sollte, dann Kinder.
Und Eltern sind kinderrelevant.
Und Eltern wie Kinder werden vom System momentan:
– übergangen
– belächelt
– beleidigt
– beschimpft
– im Stich gelassen pic.twitter.com/UxEcxqCGma— Tim Tonndorf (@TimTonndorf) April 20, 2020
Ich würde es ja besser finden, wenn alle Gäste ihre Kinder zu #hartaberfair hätten mitbringen müssen, damit alle mal live sehen, wie super man dabei arbeiten kann. #CoronaEltern
— sara flieder 💫 (@_die_sara) April 20, 2020
Kleinster gemeinsamer Nenner aller Beiträge: Eltern wie Kinder drehen langsam durch. Was auch daran liegt, dass die Bedürfnisse von Eltern und vor allem Kindern in den Maßnahmen zur Pandemieeindämmung gnadenlos vernachlässigt werden. Ich möchte beim Surfen durch die Beiträge das Internet umarmen, denn die befreundeten Eltern, die sich ihren und auch meinen Frust von der Seele schreiben, kann ich gerade eh nicht drücken. Ich will mich der Online-Demo anschließen. In meiner krisengeschuldeten Emotionalität, die von „Ich kündige meine Elternschaft – und zwar fristlos!“ bis zu „Hurra, wir backen täglich Pfannkuchen, Zahnarztkontrolle ist eh abgesagt!“ in allen Farben des Stimmungsregenbogens erstrahlt, überlege ich, was auf meinem Protestschild stehen soll, mit dem ich mich auf die weltweite Web-Straße stelle.
Wie wäre es mit:
Man kann die Alten nicht wegsperren!?
Sperrt man halt einfach die Kleinsten weg! Danke, Merkel!!1!
#CoronaEltern
Die Kleinsten ziehen wenigstens nicht vor Gericht und auch deren Eltern haben gerade keine Zeit zu klagen, wenn überhaupt noch die Kraft zu jammern. Und wortwörtlich eingesperrt sind die Kinder ja nicht. Ok, eine 4-Jährige kann nicht mit ihrer besten Freundin chatten, kann nicht über Zoom zur digitalen Chorprobe, nicht Nordic Walking machen mit dem Nachbarn, kein Konzert aus der Elbphilharmonie streamen und dabei am gelieferten Rotwein nippen und kann auch nicht endlich mal in Ruhe ein gutes Buch lesen.
Jedem Politiker wird jetzt ein Kleinkind, ein Schulkind und eine Vollzeit arbeitende Frau zugeteilt und die Pflicht auferlegt, sich zu 50% an der Care-Arbeit zu beteiligen. Mal schauen, ob sich doch Lösungen für Familien finden lassen #CoronaEltern
— Patricia Cammarata (@dasnuf) April 20, 2020
#CoronaEltern sind auch wütend darüber, dass wir und vor allem unsere Kinder sich wochenlang maximal einschränken und isolieren mussten, nur damit jetzt zB verkaufsoffene Sonntage abgehalten werden. Die Kindertrauer und der Elternstress waren also umsonst, ja? Danke für nichts.
— Anna Aridzanjan (@textautomat) April 21, 2020
Kinder sitzen stattdessen in Embryonalhaltung im Flur, wippen vor und zurück und jammern: „Ich will hier raus!“ (Schlechter Film oder True Story? – Bingo!) Und mit „raus“ ist sicher kein Spaziergang gemeint, sondern kindliche Begegnung außerhalb der familiären Hölle Höhle und Bildungsanreize jenseits von Maus und Elefant.
Aber ob bei so einem Sharepic die Daumen hochgehen und fleißig geteilt wird? Was sagt mein 80-jähriger Vater dazu, wenn ich so etwas schreibe? Die herbeigeredete Antagonie von Alt gegen Jung hat mich schon bei Klimaprotesten gestört. Also beschließe ich, mein Demo-Schild lieber konstruktiv und direkt adressiert zu gestalten:
Liebe Politiker*innen,
bitte erlaubt den Kindern wieder soziale Kontakte ❤
#CoronaEltern #KinderBrauchenKinder
„Soziale Kontakte“ natürlich beschränkt – aber so wie bisher geht es nicht weiter ohne Kollateralschaden am Kind. Schon gar nicht „bis nach den Sommerferien“, was für die Jüngsten ein halbes Leben ist. Möglich wären z. B. Kitas im Schichtbetrieb bei verkürzten Betreuungszeiten in festen Kleinstgruppen. Oder die Freiheit, dass alle Menschen – auch Menschen in Windeln, jung daheim wie alt im Heim – eine Kontaktperson außerhalb ihres Hausstands treffen dürfen. Oder dass Bildungseinrichtungen nach Bedarf statt nach Beruf der Eltern offenstehen. Die eine Familie mit Ärztin als Mama mag auch ohne Notgruppe klarkommen, da Papa eh gerade Elternzeit für den Kleinsten nehmen wollte. Wohingegen die andere Familie die Kita dringend bräuchte, obwohl „nur“ am Rande der Belastungsgrenze, sei es finanziell oder emotional oder mit einem Fuß in der Depression.
#coronaeltern sind Menschen, die zum Start der Pandemie vielleicht schon am Ende ihrer Kräfte waren. Weil die Vereinbarkeit von Familienalltag, Job und Haushalt ein einziger Tanz ist. Wir sind nicht austrainiert gestartet, wir hatten eigentlich schon an Tag 1 keine Reserven mehr.
— Volle Kanne Nette (@vollekannette) April 20, 2020
Was machen eigentlich Eltern, die nicht mehr können?
Ich frage für, nun ja, fast alle, die ich so kenne.https://t.co/ErtQnPoVu1 #CoronaEltern— Mareice Kaiser (@Mareicares) April 20, 2020
Kindeswohl ist mehr als Prävention physischer Gewalt. Kindliche Entwicklung im Spiel und im Streit mit Anderen, psychische Gesundheit, freudvolles Lernen mit Kopf und Körper: all das sind Dinge, die neben Infektionsschutz ganz wichtig sind und mich und andere #CoronaEltern derzeit umtreiben.
Eine Kita-Gebühren-Übernahme von drei Monaten wie in Bayern leistet all dies nicht; sie ist der klägliche Versuch einer Rückerstattung für eine in vielerlei Hinsicht unbezahlbare und unerreichbare Leistung. Und „drei Monate“ bedeutet im Umkehrschluss, dass die Krippen und Kindergärten gewiss noch bis in den Hochsommer hinein geschlossen bleiben dürften. Bei diesem Schrecken keimt schwindelerregende Verzweiflung in mir auf und so verwerfe ich den höflichen Sharepic-Entwurf. Ich brauche jetzt Hoffnung, sonst drohe ich das Gleichgewicht zu verlieren. Guter Gedanke!
Ich wähle aus einer Bilderdatenbank das Foto einer Drahtseil-Künstlerin aus. Zum Bild schreibe ich:
Wir müssen da jetzt ALLE gemeinsam rüber auf die andere Seite, Groß und Klein.
Und das schaffen wir! Aber nur mit der nötigen Balance.
#CoronaEltern #KinderBalancierenGern #AberNichtAllein
Pingback: „Die fortgesetzte Schließung von Kitas und Grundschulen ist gesellschaftlich nicht zu verantworten“ – humanistisch!net
Pingback: Familien sind systemrelevant – humanistisch!net