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Essay & Diskurs

Poetin des Protests

Die Meister der persischen Lyrik haben das Spiel mit Worten und der Vielschichtigkeit von Sprache verstanden. So auch Forugh Farrochsād, die wohl bedeutendste moderne Dichterin Irans.

Persische Poesie ist schon eine besondere literarische Gattung. Nicht wegzudenken aus dem Kanon der Weltliteratur sind die Meisterwerke von Rumi oder Hafez, Firdausi oder Saadi. Auch der begabte Mathematiker, Astronom und Philosoph Khayyam brachte in den nur vier Zeilen seiner bekannten Rubaiyat (dt: „Vierzeiler“, eine Reimschema-Kategorie) die Essenz des Lebens für viele Leser*innen fast nebenbei auf den Punkt. Die Meister der persischen Lyrik haben das Spiel mit Worten und der Vielschichtigkeit von Sprache verstanden.

So auch Forugh Farrochsād, die wohl bedeutendste moderne Dichterin Irans. Ihr intimer Schreibstil ist unkompliziert und direkt. Formal bricht sie mit dichterischer Tradition und entledigt sich eines Reimschemas, das sie nur einengt. Gleichzeitig hält sie der iranischen Gesellschaft schonungslos den Spiegel vor und entlarvt patriarchale Strukturen. Forugh Farrochsāds erste Veröffentlichung ist das Gedicht „Sünde“, feministischer Befreiungsschlag und Lyrik des Schocks gleichermaßen. Sie beschreibt darin eine Affäre aus weiblicher Sicht und bricht innerhalb weniger Strophen mit vielen Jahrhunderten persischer Dichtungstradition. „Sünde“ ist ein lyrischer Skandal.

Am 29. Dezember 1934 in Teheran geboren, wächst Forugh Farrochsād in einer Ära des Wandels auf. Soziale Umbrüche, politische Veränderung sowie die Modernisierungsprogramme von Reza Schah, die zum gesetzlichen Verbot des Tschadors führten, prägen zu dieser Zeit das gesellschaftliche Klima Irans. Die Komparatistin und Farrochsād-Biographin Farzaneh Milani beschreibt die Dichterin in einem Vortrag in der Library of Congress als furchtlose Persönlichkeit, ungebändigt und entschlossen, sich nicht wie eine Marionette lenken zu lassen. Milani erwähnt auch die prägende Rolle von Farrochsāds Mutter – selbst eine subversive Frau, 1913 geboren und unverschleiert lange vor dem 1936 von Reza Schah ausgesprochenen Verschleierungsverbot. Farrochsāds Antrieb, sich aus dem gesellschaftlichen Korsett der Zeit zu befreien und in einer Kultur von Schleiern, Masken und Maskeraden authentisch zu sein, manifestiert sich in ihrer Poesie, so Milani, auf elementare Weise.

Forugh Farrochsād

Die Diskrepanz zwischen Sein und Schein, die Sehnsucht nach Freiheit und die Rebellion gegen soziale Fesseln, das alles sind zentrale Motive ihrer Dichtung. Sie stellt kulturell tief verwurzelte Geschlechterstereotype in Frage und rebelliert gegen Patriarchat und strukturelle Unterdrückungsmechanismen. Grenzüberschreitend bis hin zum Tabubruch attackiert ihre Poesie das Konventionelle und stellt sich in den Dienst einer tiefgreifenden Gesellschaftskritik.

Mit nur 16 Jahren heiratet Forugh Farrochsād gegen den Willen ihrer Eltern den Schriftsteller und Satiriker Parviz Shapour, im Jahr darauf bringt sie ihren Sohn auf die Welt. Sie verlässt ihren Mann und muss als Konsequenz den Entzug des Sorgerechts für ihren Sohn in Kauf nehmen. Jahre später wird sie einen Jungen adoptieren, den sie bei den Dreharbeiten zu ihrer ausgezeichneten Reportage „Das Haus ist schwarz“, einem Kurzfilm über ein Leprosorium kennenlernt. Dass sie nicht mehr am Leben ihres Kindes teilhaben kann, wirkt sich auch auf Farrochsāds Lyrik aus. Das Gedicht „Ein Lied für Dich“ thematisiert die Wut, die Verzweiflung und die abgrundtiefe Traurigkeit über den Verlust ihres leiblichen Sohns:

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Dies ist das letzte Schlummerlied, das deine Mutter / Dir hier am Fuße deiner kleinen Wiege singt / Ich hoffe, dass das Echo dieses Schmerzenschreis / Dereinst zu dir bis in den Himmel deiner Jugend dringt. / […] Und wenn dein unschuldiges Auge später je / Über die Seiten dieses wirren Buches gleitet / Dann wirst du sehen, jedes dieser Lieder wird / Von Zorn und uralter Auflehnung begleitet

„Ein Lied Für Dich“ in: Jene Tage, 176-7

Nach dieser Zäsur beginnt für Farrochsād ein neuer Lebensabschnitt. Sie arbeitet daran, sich als Dichterin zu etablieren und bereist als freischaffende Künstlerin Europa. Anschließend wird sie für den erfolgreichen iranischen Schriftsteller, Kameramann und Produzenten Ebrāhim Golestān tätig. Trotz dessen bestehender Ehe wird die  beiden bald eine besondere Liebe verbinden, die nur durch Farrochsāds frühen Tod ein Ende findet. Aus späteren Gedichten liest man die tiefe Verbundenheit mit Golestān heraus, dem sie auch ihre letzte Gedichtsammlung widmet.

„Die Eroberung des Gartens“ schildert das starke Band einer Liebe ohne Trauschein, vor dem Hintergrund der Zeit eine weitere schwerwiegende Provokation:

Ich spreche nicht von jenem schwachen Bunde zweier Namen / Und nicht von der Verbindung /Auf den alten Seiten eines Stammbuchs / Ich spreche von meinem glücklichen Haar / Und meinen Schläfen, die dein
Kuss verbrennt / Von unsrer Offenheit bei so viel Lug und Trug / Und von dem Schimmern unsrer nackten Körper / Schuppen von Fischen, die im Wasser glänzen / Vom silbernen Leben eines Liedes spreche ich / Das ein winziger Wasserstrahl uns früh am Morgen singt

„Die Eroberung des Gartens“ in: Jene Tage, 56-8

Das Übertreten kultureller Konventionen manifestiert sich in dem Gedicht auch im Motiv von weiblicher Lust. Das lyrische Ich begehrt nicht aus der Ferne einen idealisierten Liebhaber, sondern ein Gegenüber aus Fleisch und Blut, einen echten Menschen im Hier und Jetzt. Noch einen Schritt weiter geht Farrochsād in dem Gedicht „Mein Geliebter“. Hier reduziert das lyrische Ich das Gegenüber auf die Physiologie seines nackten Körpers:

Mein Geliebter / Steht mit seinem schamlos nackten Leib / Auf seinen starken Beinen / Aufrecht wie der Tod / Ruhelose, wirre Linien / Folgen / Den festen Formen / Seiner aufsässigen Glieder / […] Man möchte sagen, ein Barbar / So wild und frisch blitzt sein Gebiss

„Mein Geliebter“ in: Jene Tage, 108

Der männliche Körper wird regelrecht seziert und dadurch gleichzeitig objektiviert. Nicht Frauen werden hier, wie sonst so oft, zu Sexobjekten degradiert, sondern ein Mann. Irans bekannteste moderne Dichterin verkehrt gängige patriarchale Praxis in ihr Gegenteil und liefert mit ihrem Werk einen Beitrag zum Feminismus des 20. Jahrhunderts. Ihre Lyrik ist ein Gegenentwurf zur innerhalb der persischen Dichtung geläufigen männlichen Perspektive, zum männlichen Wort und zum männlichen Blick.

Forugh Farrochsād lebt ein turbulentes Leben. Und sie stirbt einen frühen Tod. Was die iranische Dichterin in ihrer Lyrik verarbeitet, basiert auf biographischen Abgründen, Ängsten, aber auch auf einem lebensbejahenden Eskapismus aus der Enge konventioneller Geschlechterrollen. Aufgrund ihrer Lebensumstände und ihres frühen Tods durch einen Autounfall mit nur 33 Jahren gilt sie als tragische Figur der iranischen Literaturgeschichte. Vor allem aber bleibt sie durch ihre Neudefinierung verhärteter Genderkonventionen und ihren konsequenten poetischen Protest gegen das kulturelle Wertesystem in Erinnerung.

DAS PAAR
Der Abend kommt
Und nach dem Abend – die Dunkelheit
Und nach der Dunkelheit
Augen
Hände
Und Atmen und Atmen und Atmen…
Und das Geräusch des Wassers
Das hinunter tropft tropf tropf tropf
aus dem Hahn
Dann zwei rote Punkte
Von zwei brennenden Zigaretten
Das Ticktack der Uhr
Und zwei Herzen
Und zwei Einsamkeiten.

Die deutsche Übersetzung von Forugh Farrochsāds Lyrik durch Kurt Scharf erschien im Sujet Verlag unter dem Titel „Jene Tage“. In ihrem Werk geht Farrochsād sowohl gegen literarische als auch gegen gesellschaftliche Konventionen an und bricht damit sämtliche Tabus. Zum Buch auf der Verlagsseite…

Das Verlagshaus publiziert sogenannte Luftwurzelliteratur, ein Genre, das sich als positiv konnotiertes Pendant zur Exilliteratur versteht. Luftwurzelliteratur würdigt die bereichernde Vielfalt des Exils und die multikulturelle Erfahrung für das Individuum.


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