Essay & Diskurs
Wir müssen unser Leben ändern
Wer darf aufgrund welchen Rechts anderen zumuten, in Armut zu leben und mit Umweltschäden klarzukommen? Plädoyer für eine humanistische Ethik im Raumschiff Erde
Wer darf aufgrund welchen Rechts anderen zumuten, in Armut zu leben und mit Umweltschäden klarzukommen? Ein Plädoyer für eine humanistische Ethik im Raumschiff Erde, die sich auch nicht der Fragestellung entziehen kann: Wer von den vielen Menschen hat ein Recht darauf, mehr Mineralien, Kraftstoffe, Wasser, Sauerstoff, Platz und menschliche Arbeitskraft zu verbrauchen als andere?
Von Jonas Grutzpalk, Bielefeld
„Es gibt! Kein Recht! S-U-V zu fah-ren!“
So skandieren die Schülerinnen und Schüler auf den Fridays-for-Future-Demonstrationen im ganzen Land. Dass sie damit eine der zentralen Fragen unserer Zeit angesprochen haben, dürfte den Demonstranten egal sein. Dennoch lässt sich ohne Umschweife sagen, dass es in ihrem Ausruf um nicht mehr und nicht weniger geht als um eine Ethik für das Raumschiff Erde.
Die skandierte Feststellung, es gäbe kein Recht auf die Nutzung eines SUV, ist ja erst einmal und mit Blick auf die augenblickliche Zulassungsordnung für Kfz falsch. Richtiger könnte sie ggf. sein, wenn man das viele Nichtgesagte mitdenkt, das den Satz umgibt. In einer Fassung, die sich leider nicht so gut brüllen lässt, wie die oben zitierte, müsste es also heißen:
Angesichts der unübersehbaren Klima- und Umweltprobleme und ihren sozialen Folgen ist nicht erkenntlich, warum jemand in einem urbanen Umfeld einen geländegängigen Wagen fahren soll, der deutlich mehr Platz verdrängt, als ein menschenrechtlicher Standard für Wohnraum verlangt und dessen Gewicht zu mehr Abrieb und Spritverbrauch führt als für einen PKW, der meistens unter zwei Personen befördert, nötig wäre.
Dagegen ist ins Feld geführt worden, solch eine Aussage sei in Wirklichkeit ein schlecht maskierte Neiddebatte. Wer anderen das SUV-Fahren madig machen wolle, gönne den Eigentümern dieser Fahrzeuge ihren wirtschaftlichen Erfolg nicht. In einer zeitgenössischen Umsetzung der berühmten Fabel vom Fuchs und den Trauben maule hier der missgünstige Fuchs, die Trauben seien schädlich für die Umwelt und deswegen nicht zu genießen. Und vielleicht ist sogar etwas an diesem Vorwurf dran.
Aber m. E. lenkt der Hinweis auf mögliche Neiddebatten hier nur vom eigentlichen Problem ab. Es gilt nämlich zu klären, aufgrund was für einer Ethik sich ein solcher Satz begründen ließe. Wobei der Begriff „Ethik“ hier insbesondere die Frage der Legitimität aufwirft. Welche Legitimation, so ließe sich fragen, macht es möglich, die Fahrzeug-Zulassungsordnung zu hinterfragen? Welches größere Recht scheint hier hindurch und wer kann wie und warum in Namen dieses Rechtes sprechen? Wie lässt sich eine Ethik denken, die begründet, dass es kein Recht auf den SUV gebe, obwohl man ihn rechtmäßig kaufen, anmelden und fahren darf.
Die Frage nach Ethik ist also die nach Legitimation (wer darf anderen aufgrund welcher Autorität ihren Lebensstil zu bedenken geben?) und Notwendigkeit (mit welchen überzeugenden Argumenten ist diese Autorität ausgestattet?). Und genau diese beiden Fragen möchte ich in diesem Beitrag diskutieren. Das Ziel ist es, über eine humanistische Ethik für das Raumschiff Erde nachzudenken. Dabei gilt es, insbesondere zwei Aspekte zu reflektieren:
- Für eine humanistische Ethik ist eine Verankerung in der Metaphysik nicht möglich. Sie kann also weder im Namen Gottes noch in der Hoffnung auf eine sich erst in der Zukunft noch realisierende Gesellschaft ausgesprochen werden. Auch eine Vision einer „traditionalen“ Ethik, zu der es zurückzukehren gelte ist für den humanistischen Blick nicht sichtbar.
- Mit der Fahrzeugmetapher „Raumschiff Erde“ wird die Menschheit als Bewohnerin eines im intergalaktischen Vergleich unmöglichen Lebensraumes beschrieben, in dem eine Raumfahrt-Ökonomie herrscht, auf die die Menschheit sich erst noch einstellen muss.
1. Die Autorität der Ethik
„Ethik“ ist vielleicht ein wenig hochtrabend als Begriff für das, was hier beschreiben werden soll. Vielleicht wäre es mit „Regeln“ oder „Anstand“ schon getan gewesen. „Ethik“ klingt dramatisch nach Philosophie, Antike und Religion. Aber was mit dem Begriff hier gesagt sein möchte ist, dass es zur Beschreibung der Regeln des menschlichen Zusammenlebens mit Gesetzen alleine nicht getan ist. Kein Gesetz schreibt z. B. vor, wie ich mich zum Operngang, zur Ausübung meines Berufs und zur Teilnahme an einer Demo zu kleiden habe. Und doch wissen wir recht genau, welche Kleider wir für welchen Anlass aus dem Schrank zu ziehen haben.
Auch wissen wir, wie wir uns auf Partys benehmen sollten, wie Flirten geht, ohne wegen sexueller Belästigung aufzufallen und dass wir in sakralen Räumen keine Kaugummiblasen aufpusten. All das ließe sich vielleicht mit „Sitte“, oder mit dem etwas ältlichen Wort „Comment“ beschreiben, aber noch nicht mit „Ethik“.
Ethik als Konkurrentin des Rechts
Aber wie nennt man es, wenn jemand weiß, dass er nicht töten soll, obwohl ihm das Gesetz genau das befiehlt? Was ist das Wort für die Dilemmata, vor die diejenigen gestellt sind, die angesichts unmöglicher Alternativen richtig handeln wollen? Wie beschreibt man also eine Haltung, die sich weder mit Hilfe des Gesetzes, noch mit Hilfe von Comment-Regeln beschreiben lässt? Man ist geneigt, hier von Moral zu sprechen. Moralisch handelnde Menschen – wie z. B. die Gerechten unter den Völkern – setzen sich über das Recht und die Sitten ihrer Zeit hinweg. Mitunter zahlen sie dafür eine hohen Preis und genießen oft erst nach ihrem (mitunter qualvollen) Tod die Anerkennung, mit der soziale Gruppen Wohlverhalten gemeinhin dotieren.
Die „Wissenschaft von der Moral“ (bzw. den Moralen im Plural) nennt man „Ethik“, womit noch nicht klar ist, was genau das ist. Aber immerhin wissen wir schon einmal, dass Ethik nicht mit dem Recht identisch ist und auch nicht mit Sitten und Gebräuchen.
Aber ähnlich wie das Recht muss sich die Ethik nach ihrer Legitimation fragen lassen. Man kennt das noch aus den Verfahren zur Anerkennung von Wehrdienstverweigerungen in der alten BRD – die gesetzliche Pflicht war der Wehrdienst, die ethisch begründete Ausnahme der Ersatzdienst. Wer in diesem Verfahren anerkannte Quellen für seine ethischen Haltung nennen konnte, hatte relativ gute Karten. Hier spielte die Religion eine oft zentrale Rolle. Wer glaubhaft versichern konnte, dass die eigene Religion den „Dienst an der Waffe“ als verwerflich ansah, konnte sich gute Hoffnung auf eine Anerkennung als Wehrdienstverweigerer machen. Er durfte dann einen „Ersatzdienst“ leisten.
Religion hat vielerorts eine lange Tradition als das dissidente System, das dem System des Rechts die ethische Stirn geboten hat. In vielen Kulturen kennt man die Unterscheidung von Priesterstand und Stand der Herrschenden – sie ermöglicht die Aufrechterhaltung einer Konkurrenz von „irdischem“ und „göttlichem“ Recht. Reste davon findet man in Deutschland heute noch in der Bezeichnung des Studienfaches „Jura“ (lat. „die Rechte“; gemeint sind Kirchenrecht und weltliches Recht) statt „Jus“ (lat. das Recht; was sinnvoller wäre, weil man sich mit dem deutschen und europäischen Recht beschäftigt und göttliches Recht allenfalls in speziellen Seminaren studiert wird). Und das Phänomen des Kirchenasyls zeigt, dass es in gewissem Rahmen noch heute möglich ist, mit religiöser Begründung der Herrschaft des Rechts zu widerstreben. Das Wort „din“ heißt im Arabischen sowohl „Gesetz“ als auch „Religion“, was aber den Islam nicht daran gehindert hat, ebenfalls konkurrierende Systeme von religiösen und staatlichen Autoritäten auszubilden.
Es scheint fast so, als ließe es sich einfach nicht vermeiden, dass das fixierte Recht sich inhaltlich von dem unterscheiden muss, was man als „ethisch“ beschreibt. Das Recht kann nicht abschließend ethisch sein, so sehr es sich auch darum bemüht. Ethik kann so gesehen als eine Art Konkurrenz des Rechts verstanden werden.
Ethik, Recht und die Religion
Berufen tun sich beide aber gerne auf gleiche Quellen. Die erste schriftliche Fixierung von Recht im Codex Hammurapi beinhaltet den Hinweis darauf, woher die Gesetze letztlich stammen: vom thronenden Gott, der hier abgebildet ist. Recht mit seinem göttlichen Ursprung zu begründen ist also eine sehr alte Idee – aber es ist auch naheliegend, darauf zu kommen. Die Bronzezeit, an deren Tor wir den Hammurapi-Codex antreffen, ist nämlich geprägt durch ein abkühlendes Bevölkerungswachstum, das zuvor die Sozialstrukturen auf den Kopf gestellt hatte. Recht und Ethik sind nicht zuletzt Kinder dieses Bevölkerungswachstums und der neuen Unüberschaubarkeit sozialer Beziehungen, das seit dem Neolithikum prägend für menschliche Gesellschaften ist.
„So viele Menschen“, überschrieb Thomas Macho 1990 einen Text über diese Epoche. So viele Menschen, die sich auf Regeln und Standards einigen müssen, die vorherige Generationen nicht kannten! Recht und Ethik schaffen Verbindlichkeit zwischen Fremden – eine sagenhafte Leistung! Nur geht diese Leistung einher mit der Frage danach, warum ausgerechnet z. B. Hammurapi und nicht irgendwer sonst diese Gesetze aufstellen darf. Das ist die Geburtsstunde des Legitimationsproblems von Macht, das bei Hammurapi mit Verweis auf den – eigentlich – göttlichen Ursprung des Rechts gelöst wird. Wer das als billigen politischen Trick abtut, verkennt die Tiefe der Problematik, der hier begegnet wird: Wie denn sonst ließe sich in einer bronzezeitlichen Gesellschaft begründen, dass eine Sammlung von Normen Anwendung finden soll?
Säkulare Ethik?
Obwohl also Recht und Ethik ihre Legitimation häufig im Göttlichen wurzeln lassen, stehen sie, so haben wir gesehen, in einem Konkurrenzverhältnis zueinander. Einer der Gründe dafür liegt vielleicht darin, dass das Recht einfach gar nicht alle zwischenmenschlichen Belange zufriedenstellend regeln kann. Im menschlichen Zusammenleben bleibt man deswegen auf Fingerspitzengefühl angewiesen. Das lässt sich nicht „par ordre de mufti“ dekretieren, sondern bleibt Angelegenheit der handelnden Personen. Außerdem sind die menschlichen Angelegenheiten mitunter so schrecklich unerhaben, dass es einer göttlichen Macht unwürdig zu sein scheint, sich auch noch darum zu kümmern. „Ethik“ bedeutet dann, sich in solche Zwistigkeiten nicht auch noch hineinziehen zu lassen. „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“, mag man in solchen Momenten sagen (oder zumindest denken).
Ab wann kann ich nun als säkularer Humanist eine Ethik bemühen, die sich als wichtiger erweist als das Recht? Die Frage ist erst einmal nicht so leicht zu beantworten wie sie z. B. für einen Christen beantwortbar sein könnte. Der könnte sich darauf berufen, dass die Apostelgeschichte festhält: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Wenn Gott also nachweislich die Nutzung eines gut 18 Kubikmeter großen Geländewagens in der Großstadt verabscheute, müsste der Gläubige die Fahrzeug-Zulassungsordnung nicht fürchten.
Doch so einfach ist es natürlich nicht – auch wenn wir Ethik als Konkurrenzsystem zum Recht definiert haben, braucht es doch noch mehr, um wirksam zu sein. Ethik muss auch einer Notwendigkeit folgen, die begründet warum das Recht nicht ausreicht, um einen ethischen Notstand zu lösen. Und hier kann auch eine humanistische Ethik ansetzen.
2. Von der Notwendigkeit: Leben im Raumschiff Erde
Neulich habe ich meinen Kindern einen Comic aus dem Jahre 1957 vorgelesen. Dort ist die Rede davon, dass damals zweieinhalb Milliarden Menschen auf der Erde lebten. Diese Zahl hat mich sprachlos gemacht. Denn knapp sechzig Jahre später rechnen wir mit 7,7 Milliarden Menschen auf diesem Planeten. „So viele Menschen!“ dachte ich, wie Thomas Macho schon ein paar Jahre vor mir. „Über siebentausend Millionen Menschen leben gleichzeitig mit mir auf diesem Planeten.“ Schon eine Million ist eine unfassbare Zahl. Aber siebentausend Millionen?
Neue Legitimationsfragen
Und mit diesen Menschen teile ich die Ressourcen, die diese Erde bietet. Wir alle verbrennen ihre fossilen Brennstoffe, wir trinken ihr Wasser, atmen ihre Luft und entsorgen unseren Müll auf ihr. Bald achttausend Millionen Menschen tun das und es ist nicht zu erkennen, warum einige mehr Zugriff auf Ressourcen haben sollten als andere. Die Legitimationsfrage, die wir spätestens seit Hammurapi kennen, stellt sich unter diesen Bedingungen neu: Wer von diesen vielen Menschen hat ein Recht darauf, mehr Mineralien, Kraftstoffe, Wasser, Sauerstoff, Platz und menschliche Arbeitskraft zu verbrauchen als andere? Wer darf aufgrund welchen Rechts anderen zumuten, in Armut zu leben und mit Umweltschäden klarzukommen?
Aber diesmal thront da kein Gott, der die Entscheidung für oder gegen eine Verteilungspraxis begründet. Diesmal sind wir mit der Legitimationsfrage allein – wobei „allein“ angesichts von so vielen Menschen natürlich komisch klingt. Aber doch: Wir sind allein in dem Sinne der alte Strophe der „Internationale“, in der es heißt, es rette uns kein höheres Wesen, „kein Gott, kein Kaiser, kein Tribun.“ Weder eine göttliche, noch eine traditionale Ordnung, wie sie einigen Neofaschisten vorschwebt, kann diese Legitimationsfrage vernünftig beantworten.
Es deutet sich an, dass der Spruch von dem nichtexistenten Recht auf SUV-Fahren etwas mit dieser Legitimationsfrage zu tun hat.
Sitzen wir wirklich alle im selben Boot?
Nun ließe sich natürlich bezweifeln, ob die Lage passend erfasst ist. Denn schließlich ist jeder seines Glückes Schmied und auch die Nationen sind unterschiedlich reich aufgrund ihres unterschiedlichen Geschickes darin, gute oder schlechte Handelsabkommen für sich zu schließen. Die ganze Brexit-Debatte rankt ja letztlich um solche Überlegungen. Um hier argumentativ ein wenig abzukürzen, greife ich auf einen kleinen Text von Peter Sloterdijk mit dem Titel „Im selben Boot“ zurück, den er 1998 vorgelegt hat.
Hier wird die politische Geschichte der Menschheit mit Hilfe der Metapher von Fahrzeugen beschrieben. Glichen die politischen Gebilde der ersten kleinen Menschengruppen noch „Flößen“ auf den Wellen der Zeit, so entstanden mit den ersten Imperien das, was die „Staatsgaleeren“ genannt werden kann: politische Großkörperschaften, die durch Arbeitsteilung und klar strukturierte Machtverhältnisse funktionieren. Die Zeit der modernen Nationalstaaten wird als Phase der politischen „Superfähren“ beschreiben, die als kolossale Großgebilde durch die Zeiten pflügen. In einem jüngeren Text spricht Sloterdijk nun vom „Raumschiff Erde“. Der Planet selbst ist nunmehr das Fahrzeug der Menschheit geworden.
Man muss Metaphern nicht mögen und kann trotzdem recht leicht erkennen, was mit dem „Raumschiff Erde“ gemeint ist: Waren alle bisherigen Strategien des menschlichen Lebens letzlich darauf ausgerichtet, sich auf der Erde Platz zu verschaffen, ist dieses Verhalten innerhalb des Raumschiffes nicht mehr möglich. Archäologen erkennen menschliche Siedlungen immer am dort aufgeschütteten Müll und wenn es unseren Vorfahren irgendwo nicht gefallen hat, haben sie sich auf ihren politischen Flößen, Galeeren und auch noch auf den Superfähren auf den Weg gemacht, sich neuen Raum zu erschließen. Aber das geht nicht mehr und zwar aus zwei hauptsächlichen Gründen:
1. Zum einen ist es nicht mehr ohne Weiteres möglich, Müll, Abgase etc. einfach irgendwie zu entsorgen. In einem Raumschiff verschwindet Abfall nicht, er bleibt „im System“. Die Menschheit hat ihre Unschuld mit Hinblick auf die von ihr bewohnte Erde verloren – längst spricht man vom „Anthropozän“, einem von Menschenhand geformten geologischen Zeitalter, in dem es u. a. Mikroplastik regnet. Man mag es kaum für möglich halten, dass der Einfluss des Menschen auf den Klimawandel bestritten wird, aber dass der Mensch den Planten massiv umgestaltet hat, kann einfach niemand mehr leugnen.
2. Zum anderen führt die schiere Masse an Menschen im Raumschiff Erde dazu, dass die seit Jahrmillionen geübte Strategie nicht mehr konfliktfrei umgesetzt werden kann, einfach fortzugehen, wenn die Lebensbedingungen an einem Ort nicht mehr gut sind. Durch den Klimawandel bedingte Temperaturanstiege im Nahen Osten z. B. setzen Teile der dort lebenden Bevölkerung in Bewegung. Klimatisch bedingt Migrationsströme sind etwas, was die Menschheit schon lange kennt. Aber in einer Welt mit bald achttausend Millionen Einwohnern gleicht eine solche Auswanderung zunehmend einem kolossalen Tetris-Spiel: Die passenden Lücken für diese Menschen müssen erst noch gefunden werden. Die Zeit der freien Horizonte ist für die Menschheit des heutigen Zuschnittes vorbei.
Raumschiff-Ökonomie
Diese neuen Notwendigkeiten, unter denen zeitgenössiches menschliches Leben im Raumschiff Erde stattfindet stehen mit dem ökonomischen Begriff der Nachhaltigkeit in enger Verbindung. Schon 1966 hat Kenneth E. Boulding einen Artikel verfasst, in dem er sich mit der „Wirtschaft des kommenden Raumschiffs Erde“ beschäftigt hat. Er stellt hier u. a. fest, dass die Zeiten einer verschwenderischen „Cowboy-Wirtschaft“ zu einem Ende gekommen sind, die sich durch viel Platz und schier unerschöpfliche Ressourcen auszeichnen. Es sei nunmehr das Zeitalter der „Raumfahrer-Wirtschaft“ angebrochen, in der Recycling und Nachhaltigkeit Schlüsselbegriffe sein müssen:
„Die Zukunft…. erfordert ökonomische Prinzipien, die sich etwas von denen der offenen Erde der Vergangenheit unterscheiden. Um der Bildhaftigkeit willen bin ich versucht, die offene Wirtschaft die ‚Cowboy-Ökonomie‘ zu nennen, der Cowboy ist ein Symbol für die unendlichen Ebenen und wird auch mit rücksichtslosem, ausbeuterischem, romantischem und gewalttätigem Verhalten in Verbindung gebracht, das für offene Gesellschaften charakteristisch ist. Die Ökonomie der Zukunft könnte auch als ‚Raumfahrerökonomie‘ bezeichnet werden, in der die Erde zu einem einzigen Raumschiff geworden ist…. in dem der Mensch seinen Platz in einem zyklischen Ökosystem finden muss, das in der Lage ist, die materielle Form kontinuierlich zu reproduzieren, auch wenn es nicht dem Bedarf an Energie entgehen kann. Der Unterschied zwischen den beiden Wirtschaftstypen zeigt sich am deutlichsten in der Einstellung zum Konsum. In der Cowboy-Ökonomie wird der Konsum als eine gute Sache angesehen und die Produktion ebenso…… . Im Gegensatz dazu ist Umsatz in der Raumfahrerökonomie keineswegs ein Desiderat und in der Tat als etwas zu Minimierendes und nicht als Maximierendes zu betrachten.“
Die Frage nach dem Recht auf einen SUV erscheint hier in einem neuen ethischen Licht. Die Überlegungen von Kenneth Boulding lassen folgende Erkenntnis zu: Wer in seinem Mobilitätsverhalten dem Gedenken der Nachhaltigkeit so widerspricht, wie das ein SUV schon durch seine Existenz tut, muss sich die ethische Frage gefallen lassen, warum er sich zu einem Cowboy-Verhalten hat hinreißen lassen, wenn doch die Tugenden der Raumfahrt gefragt sind.
Die Notwendigkeit, die auf der Erde vorhandenen Ressourcen so zu nutzen, dass sie möglichst lange für die Menschheit nutzbar sind, ergibt sich aus der Erkenntnis, dass die Erde ein kleiner Planet geworden ist. Die ethische Notwendigkeit begründet sich hier aus einem menschlichen und ökonomischen Platzmangel. Und weil der Mensch Michael Tomasello zufolge eine im Tierreich einzigartige „Fähigkeit zur kulturellen Lebensform“ besitzt, bedeutet dieser Platzmangel auch eine besondere Verantwortung für die den Menschen umgebende Natur.
Zusammenfassung
Wenn Ethik die Konkurrentin des Rechts ist (obwohl beide traditionell ihre Legitimation aus der gleichen Quelle speisem) dann steht die Ethik heute vor der Aufgabe, ein globales Legitimationsproblem anzusprechen, das sich (noch) nicht in der Sprache des Rechts lösend beschreiben lässt. Es geht um die Möglichkeit, die Erde zu bewohnen, zu nutzen, zu beschmutzen und auszubeuten. Diese Möglichkeit Weniger wird zunehmend zu einer Zumutung für die, die nur Zaungäste dieses fantastischen Ressourcenkonsums sein können.
Eine humanistische Ethik kann sich dieser Fragestellung nicht entziehen. Eine gerechte Verteilung der Ressourcen ist eine Sache, die sich nicht mit rassistisch oder religiös begründeten Privilegien wegwischen lässt. Legitimationsfragen lassen sich nicht mehr durch den Verweis auf einen wie auch immer gearteten metaphysischen Willen beantworten – die Antwort muss anders gefunden werden.
Zudem ist die Menschheit nicht mehr auseinander zu dividieren. Ich weiß, dass jetzt die Carl-Schmitt-Fans das Diktum aus den Hut zaubern müssen, dass der betrügen wolle, der von der „Menschheit“ spricht. Aber ich glaube, dass es für solche Bonmots zu spät ist. Die Menschheit ist mittlerweile eine reale Entität, auch wenn sie sich in viele Fraktionen spaltet (aber wie sollte es bei sol vielen Leuten auch anders sein?). Dennoch ist sie eine Einheit, wenn man sie als die Gruppe von Lebewesen betrachtet, die mitten in einem lebensfeindlichen Universum einen von einer dünnen Luftschicht umgebenen blauen Planeten bewohnt.
So betrachtet sind wir im Sloterdijk’schen Bild wieder am Anfang angekommen. Die Menschheit treibt wieder auf einem Floß durch Zeit und Raum. Und auf Flößen sind die Mitfahrenden eine Schicksalsgemeinschaft, der man sich nicht entziehen kann, ohne ethische Empörung auszulösen. Wer auf dem Floß das Recht für sich reklamiert, Platz und Ressourcen in Anspruch zu nehmen, darf sich über ethische (nicht rechtliche!) Nachfragen nicht wundern.
Wobei ich an dieser Stelle gerne mit den SUV-Fahrern Frieden schließen möchte, denn ihr Fahrzeug steht in diesem Text letztlich nur symbolisch für ein ethisches Problem: das der gerechten Ressourcen- und Arbeitsverteilung in dem Raumschiff (oder dem Floß) Erde.
George Orwell hat das schöner und deutlicher gesagt, als ich das jetzt kann, deswegen sei er hier zitiert:
„Die Welt ist ein Floß, das durch den Weltraum segelt, mit potenziell reichlich Vorräten für alle; die Idee, dass wir alle zusammenarbeiten und dafür sorgen müssen, dass jeder seinen gerechten Anteil an der Arbeit leistet und seinen gerechten Anteil an den Vorräten erhält, scheint so offensichtlich, dass man sagen würde, dies könnte möglicherweise für niemanden inakzeptabel sein, sofern er kein verwerfliches Motiv hat, sich an das gegenwärtige System zu klammern.“
Eine humanistische Ethik für das Raumschiff Erde müsste dasjenige dissidentische System sein, das unbestechlich vom Begriff der „Menschheit“ ausgeht und das eine faire Chancenverteilung zwischen allen Mitfahrern unter den Bedingungen einer Raumfahrt-Ökonomie für möglich hält und umzusetzen versucht.
Pingback: Zeit der Epoché. Wie wir die Corona-Krise nutzen sollten – grutzpalk
Pingback: Zeit der Epoché: Wie wir die Corona-Krise nutzen sollten – humanistisch!net
Pingback: In der Mitte liegt die Kraft? – humanistisch!net
Pingback: Publikationen – grutzpalk