Essay & Diskurs
Disabled or Cyborg?
Moderne Prothesen und Implantate sind mittlerweile in der Lage, so manche körperliche Behinderung auszugleichen. Was aber machen die technischen Hilfsmittel mit den Menschen, die sie tragen – werden sie gar zu Cyborgs?
Je weiter (Medizin-)Technik fortschreitet, je mehr innovative Medikamente, Prothesen und Geräte sie hervorbringt, desto mehr nehmen die Möglichkeiten zu, Krankheiten, aber auch körperliche Behinderungen zu therapieren. Das hat Folgen, für den Umgang mit Behinderungen einerseits, aber auch dafür, wie man behinderten Menschen begegnet.
Können und sollen vormals behinderte Menschen noch länger als behindert gelten, wenn sie Implantate oder Prothesen tragen? Oder machen sie solcherlei technische Hilfsmittel gar zu Cyborgs? Darüber sprachen Enno Park und Bertolt Meyer bereits auf dem letzten Symposium turmdersinne. Einen Teil ihrer Diskussion tragen sie an dieser Stelle schriftlich aus.
Enno Park: Assimilation vs. Inklusion
Nachdem mir Cochlea-Implantate eingesetzt wurden, machte ein Freund folgenden Witz: „Dann bist du ja jetzt ein Cyborg“. Oberflächlich betrachtet stimmt das: In meinen Körper ist Digitaltechnik eingebaut, die meinen Hörnerv stimuliert. Nach mehr als 20 Jahren am Rande der Gehörlosigkeit war ich wieder in der Lage, weitgehend normal zu hören. Darüber hinaus kann ich mein Gehör meinen Bedürfnissen anpassen: Abschalten, es drahtlos mit beliebigen Klangquellen verbinden, Störgeräusche herausfiltern und vieles mehr. So betrachtet sind Cyborgs ganz überwiegend kranke und behinderte Menschen.
Dabei entsprechen kranke und behinderte Menschen so gar nicht dem Bild sind, dass die meisten Menschen vor dem inneren Auge haben, wenn sie an den Begriff „Cyborg“ denken. Aber dieses Bild, das zahllose Science-Fiction-Filme von diesem Begriff geprägt haben, führt auf eine falsche Fährte. Als die NASA-Wissenschaftler Manfred Clynes und Nathan S. Kline den Begriff im Jahre 1960 prägten, stellten sich die Frage, wie der Mensch technologisch zu verändern sei, damit er im Weltraum überleben könne. Sie betrachteten den Menschen als kybernetischen Organismus, abgekürzt „Cyborg“, der innerhalb des selbstregelnden Systems Raumschiff agiert.
Nur ein bisschen normal
Rund 60 Jahre später bauen wir Menschen immer noch nicht um, damit sie in Raumschiffen das Weltall erobern. Stattdessen bauen wir sie um, damit sie gesellschaftlichen Normvorstellungen entsprechen. Das kybernetische System, in dem behinderte Menschen mit Hilfe von Implantaten und Prothesen funktionieren sollen, ist kein Raumschiff sondern die postindustrielle, digitalisierte Gesellschaft. Wenn Barrierefreiheit und Assistenz Methoden der gesellschaftlichen Inklusion behinderter Menschen sind, dann stehen Empowerment, Prothetik und Implantation für die Assimilation dieser Menschen.
Dieser technische Körperumbau hinterlässt die so Assimilierten in einem seltsamen Zwischenzustand. Einerseits sind sie weiterhin behindert, da technische Maßnahmen eine Behinderung so gut wie nie vollständig ausgleichen können. Andererseits sind die technologisch enhanced, partielle Übermenschen, die mit ihren Prothesen und Implantate Fähigkeiten haben, die anderen verschlossen bleiben. Und zugleich sind sie trotz allem ein wenig normaler, da sie eher entsprechend gesellschaftlicher Normvorstellungen funktionieren können.
Für diesen Zwischenzustand gibt es keinen Namen, aber der Begriff des „Cyborg“ umschreibt ihn recht gut. Hierbei geht es nicht um einen Imperativ „Werde ein Cyborg!“ sondern um eine Betrachtungsweise des Menschen. Denn sobald wir uns als veränderlich und und eingebunden in komplexe Regelkreise technischer, gesellschaftlicher, kultureller, wirtschaftlicher, bürokratischer, politischer, biologischer und ökologischer Art betrachten, können wir erst darüber reden, welche Anpassungsleistung wir selbst erbringen wollen, können oder müssen und wo wir stattdessen in diese Systeme eingreifen.
Bertolt Meyer: Warum mit dem Begriff „Cyborg“ im Kontext von Behinderung vorsichtig umgegangen werden sollte
Die Prothetik hat sich in den letzten Jahren rasant entwickelt. Es gibt neuerdings bionische „Ersatzteile“, die am oder im Körper getragen werden. Beispiele sind aktive Hand- und Beinprothesen, Chochlea-Implantate, automatische Insulinpumpen und vieles mehr.
Diese bionische Technik hat heutzutage therapeutische Zwecke; sie soll Beeinträchtigungen ausgleichen: Ein Mensch, dessen Fähigkeiten unterhalb einer gesellschaftlichen statistischen Norm liegen, soll durch die Technik Fähigkeiten (wieder) erhalten, die (wieder) näher an der Norm liegen. An solcher therapeutischen Medizintechnik kann ich keine ethischen Probleme erkennen – abseits von Fragen der Verfügbarkeitsgerechtigkeit, Preisen und fragwürdigen kapitalistischen Verwertungslogiken für Medizinischen Nutzen, aber das ist eine andere Debatte.
Neben dem therapeutischen Nutzen von bionischer Medizintechnik gibt es einen zweiten möglichen Nutzen: Das Enhancement. Im Gegensatz zur Therapie zielt Enhancement auf die Erweiterung von Fähigkeiten bei Menschen ab, die keine Beeinträchtigung haben und innerhalb der statistischen Norm liegen; hier sollen Fähigkeiten oberhalb der Norm aufgebaut werden. Das Ziel von Enhancement sind also Fähigkeiten, die nach dem Eingriff weiter von der Norm entfernt sind als vorher. Beispiele hierfür sind unter die Haut implantierte Chips und Sensoren, die es ihren Trägern ermöglichen, Magnetfelder zu spüren oder Türen ohne Schlüssel zu öffnen.
Kalte Cyborgs?
Bionische Technik kann Stereotype – sozial geteilte Annahmen über Angehörige sozialer Gruppen – verändern. Der Kern des Stereotyps über Menschen mit einer Körperbehinderung besagt: Sie sind nett, aber wenig kompetent. Deshalb begegnet man dieser Personengruppe in der Regel mit Mitleid. In einer neueren Studie (Meyer & Asbrock, 2018) können wir zeigen, dass Menschen mit einer Körperbehinderung, die eine bionische Prothese tragen, genauso kompetent wie Nichtbehinderte eingeschätzt werden. Das legt den Schluss nahe, dass die bionische Technik einen Teil des Stigmas der Behinderung ausgleichen kann. Diese Wahrnehmung veränderte sich aber mit der verwendeten Bezeichnung: Wurden die Versuchspersonen gebeten, „Cyborgs“ einzuschätzen, nahmen sie diese als Bedrohung war – als emotional kalt und kompetent. Ich halte die Bezeichnung „Cyborg“ für Menschen mit Behinderung, die diese mit bionischer Technik ausgleichen, daher nicht für zielführend, da mit dieser Bezeichnung ein neuer bedrohlicher Stereotyp geschaffen wird, was für eine inklusivere Gesellschaft nicht förderlich sein kann.
Die Studie zeigt auch, dass gesunde Menschen, die sich „enhancen“ – also ihre Fähigkeiten technisch aufbessern – negativ als kalt und eher kompetent beurteilt werden – wie Cyborgs. Dies deutet auf die möglichen sozialen Kosten von Enhancement hin: Dieses wird wie Schummeln wahrgenommen und entsprechend sozial geächtet.
Insgesamt zeigen die Studenergebnisse, dass es wichtig ist, im Diskurs um neue technische Möglichkeiten an der Schnittstelle zwischen Mensch und Technik genau zu differenzieren: Zwischen Therapie und Enhancement und zwischen den Bezeichnungen, die man für Menschen verwendet. Als Mensch mit einer Körperbehinderung, der eine bionische Armprothese trägt, bin ich nicht enhanced und möchte auch nicht als Cyborg bezeichnet werden, da ich keine Bedrohung bin.
Quellenangaben:
Meyer, B., & Asbrock, F. (2018). Disabled or cyborg? How bionics affect stereotypes toward people with physical disabilities. Frontiers in Psychology, 9(2251), 1-13. doi: 10.3389/fpsyg.2018.02251