Bayern
Eine verschwommene Erinnerung
Vor mehr als 170 Jahren entstand mit der freireligiösen Gemeinde Nürnberg die Keimzelle der heutigen Humanistischen Vereinigung. Ihre Geschichte ist wechselvoll und oft genug die eines Kampfes um Freiheit, gegen Unterdrückung und Benachteiligung.
Vor mehr als 170 Jahren entstand mit der freireligiösen Gemeinde Nürnberg die Keimzelle der heutigen Humanistischen Vereinigung. Die Geschichte der freireligiösen, freigeistigen und humanistischen Bewegung in Bayern ist wechselvoll. Sie ist jeweils ein Spiegel ihrer Zeit – und sie ist eine Geschichte eines Kampfes um Freiheit, gegen Unterdrückung und Benachteiligung.
Von Michael C. Bauer
Das fing schon 1845 an, als sich in der bayerischen Pfalz die erste freireligiöse Gemeinde gründete, damals noch unter dem Banner des „Deutschkatholizismus“, wie sich die neue, freie Glaubensform nannte, die im Protest gegen Wunderglauben und Heiligenverehrung, aber auch gegen kirchliche Korruption und Tyrannei wurzelte. Sie fand im ganzen Bereich des Deutschen Bundes rasch Verbreitung und hatte in dem ehemaligen Schlesischen Priester Johannes Ronge eine charismatische Führungsfigur. Doch kaum regte sich im fiebrigen politischen Klima des Vormärz eine freiheitliche Gruppe, bekam sie sogleich die harte Hand der Obrigkeit zu spüren, die damals von Monarchie und Kirchen in schöner Eintracht geführt wurde.
So ging es auch den freigeistigen Pfälzern: Sie erlebten Verhaftungen, ihre Versammlungen wurden gewaltsam aufgelöst. Erst nach langen hin und her, erkennbar unwillig und sehr zögerlich wurden ihnen die Rechte zugestanden, die ihnen nach der bayerischen Verfassung zukamen. Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit waren eben schon damals zwei Paar Stiefel.
Doch der behördliche Widerstand war letztlich erfolglos, die Sache ließ sich nicht aufhalten. Nach dem Sturz des erzkatholischen Monarchen über seine Liebschaften und nach der Märzrevolution 1848 wurde das Klima auch im bayerischen Königreich etwas freier. Im September 1848 gründete sich eine freie Gemeinde in München, im Dezember folgte Nürnberg, im Februar 1849 Fürth, kurz drauf Erlangen, Altdorf, Schwabach und andere kleinere Gemeinden. Schweinfurt folgte im April, auch wenn dort bereits seit 1845 vormärzlich-demokratische und deutschkatholisch-sympathisierende Kreise bestanden. Dort entstand unter der Führung der wirtschaftlich und politisch überaus einflussreichen Unternehmerfamilie Sattler – sozusagen die Schäfflers ihrer Zeit – ebenfalls ein eigener Gemeindesaal, der später als Stadttheater genutzt wurde.
Diese Gemeinden entfalteten sehr schnell eine bemerkenswerte Aktivität. Während die Gemeinde in München zahlenmäßig klein blieb, aber es 1850 immerhin zu einem eigenen Gemeindehaus brachte und auch eine Schule eröffnen wollte, wuchs die Nürnberger Gemeinde schnell. Der eigene Religionsunterricht wurde in zwei Klassen erteilt, und das Gemeindebuch jener Jahre, das sich im Humanistischen Zentrum Nürnberg befindet, verzeichnet für die wenigen Jahre ihres Bestehens einige Hundert Begrüßungsfeiern, Hochzeiten und Bestattungen.
Bayerns älteste Kita-Träger
Die Gleichberechtigung der Geschlechter in den freien Gemeinden, auf die wir heute mit Recht Stolz sein können, war damals ein erheblicher Stein des Anstoßes für die kirchliche und politische Herrschaft. Schon kurz nach der Gründung stellten die rührigen Frauenvereine der Gemeinden Kindergärten auf die Beine, alle nach der damals brandaktuellen und fortschrittlichen Lehre Friedrich Fröbels, und machten die freien Gemeinden zu den ersten und ältesten Kita-Trägern Bayerns. (Nicht zu verwechseln sind diese kindgerechten und bildungsorientierten Einrichtungen mit den kirchlichen „Bewahranstalten“, die es schon etwas länger gab und in denen vor allem Proletarierkinder von der Straße geholt werden sollten und in Katechismus unterrichtet wurden.)
In Nürnberg entstanden unter dem Vorsitz von Nanette Demler gleich zwei solche Einrichtungen, eine weitere gab es in Fürth und eine in Schweinfurt. Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass dieser erste Fürther Kindergarten sehr rasch nach seiner Eröffnung wieder geschlossen werden musste, und zwar auf Betreiben der evangelischen Kirche, deren Dekan sie bei der königlichen Regierung als „Pflanzstätte der Demokratie“ denunzierte und verbieten ließ. Ein ähnliches Schicksal ereilten mit dem Einsetzen der politischen Reaktion auch die weiteren Einrichtungen der Gemeinden, darunter auch mehrere Schulen.
Scharfzüngig und bewaffnet
Viele der Protagonisten der freien Gemeinden dieser Zeit waren nicht nur Kämpfer des Wortes, sondern auch aktive, wenn nötig waffentragende Revolutionäre, so etwa der Nürnberger Richard Barthelmeß oder der Schweinfurter Wilhelm Sattler. Entsprechend schwer war es für sie nach dem Zusammenbruch des Aufbegehrens und der einsetzenden Reaktion. Etliche der Freireligiösen und Deutschkatholiken gingen in die Emigration, die meisten von ihnen nach Nordamerika. Unter ihnen waren auch der Nürnberger Vorsitzende Barthelmeß und die Prediger Heinrich Bäthig, Friedrich Dumhof und Georg Ruf.
Der später prominenteste von ihnen dürfte der Badener Revolutionär Carl Schurz gewesen sein, der als einer der letzten Bewaffneten für das Paulskirchenparlament kämpfte, untertauchte, im Untergrund weiterkämpfte und in einem James-Bond-artigen geheimen Kommandounternehmen den Revolutionskommandanten Gottfried Kinkel aus der Festungshaft befreite. Vor der sicheren Hinrichtung konnte er sich nur knapp nach London retten. Dort heiratete er Margarethe Meyer, eine Absolventin der Hamburger „Hochschule für das weibliche Geschlecht“, die auf freigeistigen Grundsätzen gegründet wurde. Sie war die Schwägerin von Johannes Ronge. Mit ihr brach er ins amerikanische Exil auf, wo Margarethe Meyer-Schurz den ersten Kindergarten der USA gründete und so den Anstoß zu fortschrittlicher Kinderbetreuung in Amerika gab. Ihr Mann wurde als politischer Freund Abraham Lincolns ein angesehener General des Bürgerkrieges, später Botschafter, Senator und Minister der USA.
Viele weitere Frauen und Männer haben sich seither für unsere Ideale eingesetzt, teils unter Einsatz ihrer Freiheit und ihres Lebens. Wer schreibt ihre Geschichte? Die Stele, die am Nürnberger Karl-Bröger-Haus an die vom NS verfolgten Sozialdemokrat*innen erinnert, trägt zum größten Teil auch Namen von Mitgliedern der heutigen Humanistischen Vereinigung.
Der Widerspruch gegen ungerechte und unmenschliche „Verhältnisse“ und das Eintreten für die Freiheit des Geistes: Dies ist, seit es die HV und ihre Vorgängerorganisationen gibt, sozusagen ihre DNA. Das sollten wir nie vergessen. Deshalb betrachtet es die Humanistische Vereinigung als eine wichtige Aufgabe, die Sicherung und Zurverfügungstellung ihres historischen Erbes zu ermöglichen und die verschüttete Geschichte freizulegen. Sie soll in den kommenden Jahren systematisch aufgearbeitet und in mehreren Veröffentlichungen dokumentiert werden.