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Gläserne Wände - Bericht zur Benachteiligung nichtreligiöser Menschen in Deutschland

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Die unsichtbaren Mitbewohner

„Leben mit den Göttern“ von Neil MacGregor

„Leben mit den Göttern“ von Neil MacGregor

Der britische Kunsthistoriker Neil MacGregor war u. a. von 2015 bis 2018 einer der Intendanten des Berliner Humboldtforums, zuvor Direktor des British Museum in London. Foto: TED / CC BY – NC – ND 4.0 International

Neil MacGregor ist mit seinem Buch über die 100 Objekte, mit deren Hilfe man sich die Weltgeschichte vor Augen führen kann, berühmt geworden. In ähnlichem Geist geht er in „Leben mit den Göttern“ an Artefakte heran, die nur im religiösen Kontext Sinn ergeben und die die Haushalte der Menschen seit Jahrtausenden zieren. Er beginnt mit der Darstellung des Ulmer Löwenmenschen, einer Figur aus Mammutzahn. Sie ist 40.000 Jahre alt. Niemand weiß, wozu sie gebraucht wurde. Und doch muss man nicht sonderlich religiös musikalisch sein, um zu erkennen, dass hier etwas Besonderes vorliegt. Dieses Kunstwerk ist – ja, wie soll man sagen? – irgendwie heilig.

Es ist die Stärke des Buches, dass es mit Hilfe solcher und ähnlicher Artefakte deutlich macht, wie naheliegend religiöse Emotionen sind, auch wenn man die dazu gehören religiösen Traditionen für unglaubwürdig oder sogar schädlich halten mag. Was man von Neil MacGregor lernen kann ist, dass religiöse Erfahrungen unsere emotionalen Nachbarn sind. Deswegen ist auch der Titel gut gewählt: „Leben mit den Göttern“ heißt, dass menschliches Leben häufig bedeutet, unsichtbare Mitbewohner zu haben. Dass diese unsichtbaren Mitbewohner sehr menschlich sind, ändert nichts an ihrer Wirksamkeit.

Wenn Menschen z. B. sterben, bleiben sie nach menschlicher Erfahrung häufig noch da. „Che Guevara presente!“, skandieren Anhänger des kubanischen Revolutionärs noch Jahre nach seinem Tod und wollen damit sagen, dass Ernesto Guevara trotz seines Ablebens noch da ist – man weiß nicht recht, wie genau. Diese Erfahrung machen Menschen häufig: Auch wenn jemand tot ist, ist er irgendwie doch nicht so richtig tot. Er ist Gegenstand des Gesprächs, der geteilten Erinnerungen und Emotionen. Wie weit ist es von dieser Beobachtung hin zu einem ausgewachsenen Totenkult, in dem z.B. chinesische Angehörige ihre Toten mit allem Notwendigen versorgen, indem sie z. B. so genanntes Totengeld für sie verbrennen? Ist es so gesehen so vollkommen absurd, dass die Inka für besondere Gesprächssituationen Mumien in den Gesprächskreis einbanden?

Es ist nur ein kleiner Schritt von der Erinnerung an einen Menschen hin zum Totenkult.

Manche Partygäste setzen sich gleich zu Anfang des Festes in die Küche, weil sie wissen, dass hier das Herz aller Feierlichkeiten wummert. Mag auch im Wohnzimmer getanzt werden und das Kinderzimmer ins Legosteindelirium torkeln – die Küche ist der Ort, in dem die Geselligkeit ihren Ausgangspunkt findet – und wo sich die letzten Partygäste am Ende des Festes auch wieder versammeln. Diese Erfahrung beschränkt sich nicht auf den modernen Menschen. Auch die Römer haben beobachtet, dass das heimische Herdfeuer der magische Mittelpunkt des Hauses ist. Sie haben daraus den Schluss gezogen, dass auch ihr Reich nichts anderes ist als ein riesiger Haushalt, dessen heimisches Herdfeuer in Rom brennt. Das durfte nie ausgehen und wurde deswegen in einem Tempel von heiligen Jungfrauen – den Vestalinnen – gepflegt.

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Es ist nur ein kleiner Schritt von der kuscheligen Küche hin zum Reichskult.

Dass Menschen in Traditionszusammenhängen leben, weiß jeder, der schon mal versucht hat, bewusst eine Entscheidung gegen die subkutanen Einflüsse seiner Erziehung zu fällen. Es ist vermutlich eine der erschreckendsten Erkenntnisse, die das Älterwerden liefert: wie ähnlich man den eigenen Eltern ist. Und seinen Großeltern. Und seinen Kindern übrigens auch. Das Rad der Zeit dreht sich und nur die Akteure werden ab und an ausgetauscht. Auch diese Beobachtung kann sich zur religiösen Überzeugung auswachsen, in einem seit Ewigkeiten so gewollten Lebenswandel zu stehen.


Es ist kein weiter Weg von der Erkenntnis der Eingebundenheit in den Zeitstrom hin zur religiösen Tradition.

Für säkulare Leserinnen und Leser ein wenig frustrierend ist die Lektüre des Kapitels über die Versuche, Religion aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. MacGregor zitiert hier die Beispiele der französischen Revolution und der Sowjetunion. Ein aufgeführtes Artefakt zeigt einen Kosmonauten, der im Weltall schwebend Ausschau hält und feststellt „Boga njet“ – „kein Gott“. MacGregor zeigt sich überzeugt, dass eine menschliche Hausgemeinschaft ohne unsichtbare Mitbewohner nicht denkbar ist und dass Gesellschaften, die sich nur auf „die Ratio“ berufen letztlich im Namen der Vernunft Gewalt anwenden.

Säkular-humanistische Leserinnen und Leser werden hier wohl inhaltlich nur zögernd mitgehen können, aber eines können sie dennoch von dem Buch von MacGregor lernen: Menschliches Leben ist über sehr weite Wegstrecken ein gemeinsames Leben mit Göttern, Geistern, Traditionen und unsichtbaren Kräften gewesen und wird es auch noch auf absehbare Zeit bleiben. Zu nahe liegend ist es, auf religiöse Gedanken zu kommen. Wie diese unsichtbaren Mitbewohner beschaffen sind, wie sie aussehen, auf welche Traditionen sie sich berufen und wie sie unser Leben prägen lernen wir auch dem sehr klugen und sehr weltoffenen Buch.

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