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Essay & Diskurs

Das Ende der Toleranzpolitik

Das Bundesinnenministerium hat einen geplanten Auftritt des Philosophen und Aktionskünstlers Philipp Ruch beim 14. Bundeskongress Politische Bildung im März verboten. Hier ist die Rede, die er in Leipzig halten wollte.

Das Bundesinnenministerium hat einen geplanten Auftritt des Philosophen und Aktionskünstlers Philipp Ruch beim 14. Bundeskongress Politische Bildung im März verboten. Hier ist die Rede, die er in Leipzig halten wollte.

Von Philipp Ruch, Berlin

„Warum tolerieren wir Demokratiefeinde? Um uns von unserer Gutmütigkeit zu überzeugen?“ Foto: imago/ZUMA Press

Ich freue mich, vor Ihnen zu sprechen. Gerade vor so vielen jungen Menschen. Sie sind die Zukunft. Ich bin schon ein Stück Vergangenheit. Und ich rede hier mit dem Gefühl, etwas falsch zu machen. Wir haben etwas fürchterlich falsch gemacht. Die Folgen sind noch nicht absehbar, weil Sie es sind, die die Konsequenzen in den Körpern, Herzen und Köpfen tragen.

Wir tun das zu selten: uns vorzustellen, wie die schneidenden Debatten, die wir gegeneinander führen, auf junge Menschen wirken. Welche Kräfte entfesseln sie? Ich will an Ihnen sehen, dass das Gute unerschütterlich ist. Aber da ist noch eine Strömung: die der Unterspülung. Viele von Ihnen sind groß geworden im Diskurs, den wir seit vier Jahren anrichten. Sie haben Ihre prägenden Jahre, in denen das Bewusstsein für die Welt wächst, in menschenfeindlichen Parolen verbracht. Ich fürchte, dass unsere Gesellschaft unterspült werden kann, wie es schon einmal in nur vier Jahren, zwischen 1928 und 1932, geschehen ist. Die Kräfte, die wir nur diskursiv entfesseln, werden durch die nächste Generation zur Tat. Die festen Pfeiler können schneller kippen. Die Kraft, die die Intellektuellen, die Schriftsteller, Künstler, Historiker und Denker, seinerzeit nicht aufzuhalten wussten, waren die Jungen.

Der Rassismus frisst sich durch Deutschland. Alles beginnt im Diskurs. Die neue Unempfindlichkeit beginnt in der Sprache. Nicht nur die Humanität, auch die Unmenschlichkeit beginnt mit Worten, die wir vor Menschen schieben, um sie zu verstecken. Die Vernunft ist in den letzten Jahren stärker unter Druck geraten. Ich weiß nicht, ob jemand sich die Mühe gemacht hat, dem Diskurs zu folgen, der in Talkshows wie Anne Will oder Maischberger in den öffentlich-rechtlichen Sendern geführt wird.

Diese Formate – die großen Hebebühnen der gesellschaftlichen Debatte – stützen nicht den Zusammenhalt der Gesellschaft. Sie zerrütten ihn. Die großen Talkshows gleisen den gesellschaftlichen Diskurs nicht auf – sie entgleisen ihn! Der Zusammenhalt unseres Landes wird durch die Reichsbürger, Pegidisten und Rechtsextremisten nicht so bedroht wie durch Maischberger. Sie könnten über Politik reden, statt mit Politikern. Sie könnten brillante Intellektuelle einladen. Stattdessen erliegen sie dem Missverständnis, dass ein Talk politisch ist, wenn er mit Politikern besetzt wird.

Wann haben Sie Mely Kiyak, Maxim Biller oder Harald Welzer zuletzt in einer Talkshow gesehen?

Wenn ich die Klage höre, dass alles so kompliziert ist, dass die Welt unüberschaubar und krisenhaft wurde, dann muss ich als Allererstes an Sie denken. An die junge Generation. Ich muss an mich als jungen Menschen denken, was noch nicht lange zurückliegt. Was sollen Sie von uns denken, wenn wir alles so kompliziert finden? Und was sollen Sie denken? Ich fand in meiner Jugend die Welt auch schrecklich kompliziert. Aber damals gab es öffentliche Intellektuelle, die sehr präsent waren. Das öffentliche Leben in Deutschland wurde von Dichtern und Denkern beherrscht. Die Deutungen, die Träume, in denen sich eine Gesellschaft denken konnte, wurden nicht von Politikern oder Journalisten gestaltet. Intellektuelle veröffentlichten Artikel. Sie hielten Reden und gaben Interviews. Und vor allem gaben sie Halt. Da war eine Orientierung, eine Konterrevolution gegen Weglosigkeit, Ohnmacht und Apathie.

Heute gibt es alle Klagen immer noch. Aber ich sehe kaum noch Intellektuelle, die öffentlich Gehör finden. Die Intellektuellen sind ja nicht weg. Ich würde sogar sagen, sie sind in voller Truppenstärke da. Aber sie werden vom öffentlichen Diskurs ausgeschlossen. Wann haben Sie Mely Kiyak, Maxim Biller oder Harald Welzer zum letzten Mal in einer Talkshow gesehen? Diese Intellektuellen haben unserer Gesellschaft sehr direkt etwas zu sagen. Sie schreiben uns ins Gewissen. Deshalb vielleicht ein Rat, falls Sie sich überfordert fühlen und nach Orientierung suchen: Lesen Sie deren Artikel, besuchen sie ihre Reden, verpassen sie nicht, was gegen Verlorenheit, Komplexität und Aussichtslosigkeit am besten helfen könnte.

Philipp Ruch ist Gründer und Chefunterhändler des Zentrums für politische Schönheit. Das rechtsextreme „Hannibal“-Netzwerk führt ihn für den „Tag X“ auf einer Todesliste. Nach der Eröffnung der Kunstaktion „Bau das Holocaust-Mahnmal vor Höckes Haus!“ im thüringischen Bornhagen am 22. November 2017 nahm die Staatsanwaltschaft Gera Ermittlungen gegen ihn wegen der „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ auf. (Spiegel Online). „Der Staat packt eine der schärfsten juristischen Waffen – die sich gegen Schwerstkriminelle richtet – gegen das Zentrum und die verfassungsrechtlich garantierte Kunstfreiheit aus. Wir sollen ausgeleuchtet, kriminalisiert und stigmatisiert werden“, kommentierte das ZPS und fordert unter anderem eine sofortige Einstellung des Ermittlungsverfahrens sowie eine parlamentarische Debatte des Thüringer Landtags über Konsequenzen aus dem Missbrauch von § 129 StGB.

Politische Bildung können wir in den Talkshows derzeit nicht finden. Ihre Macher verachten Intellektuelle. Jede Sendung bestätigt aufs Neue meine 4:1-These. Da sitzen immer vier Politiker und eine Journalistin und erheben den Anspruch, diese Gesellschaft zu repräsentieren. Junge Menschen, die für oder gegen uns alle sprechen, habe ich da noch nie gesehen. Durch die Besetzung der Gesellschaftsdebatten wird ihr Kollaps gleich mitorganisiert.

Viele fühlen sich von unserer Zeit überfordert. Ich gehöre nicht zu denen, die strukturelle Gründe für unsere Misere ausmachen. Uns geht es gut wie noch nie. Wirtschaftlich und technologisch leben wir unter Bedingungen, die es nie in der Geschichte gegeben hat.

Viele Intellektuelle sehen im Informationskrieg das Problem. Aber die Wahrheit wurde immer angegriffen. Halbwahrheiten, Quellenverdunkelung, fake news (wo sind true news?), „alternative Fakten“ (früher: Lügen), Umfrageinstitute zur Desinformation („INSA“) sind keine neuen Phänomene. Wahrheitskriege gab es immer. Wenn Bots Journalisten gezielt ins Visier nehmen, um ihnen „Merkel muss weg!“ als Mehrheitsmeinung vorzugaukeln, erwarte ich, dass sie lachen. Schallend am besten.

Die neue Zeitungslosigkeit ist alles andere als harmlos

Erdogan bezahlt über 6.000 Mitarbeiter für Meinungsmache im Internet, Russland noch wesentlich mehr. Aber Chefredakteure, die anonyme oder pseudonyme Kommentare oder Hassmails als unlösbares Problem sehen, sollten sich neue Jobs suchen. Das gibt einfach keinen Grund für mediale Verunsicherung ab. Wenn Rechtsradikale mit Bots experimentieren, um Diskurse zu manipulieren, gilt: Humanisten aller Länder, programmiert Euch Bots. Wenn Rechtspopulisten mit Breitbart an die Macht kommen, muss die Weltbühne online neu gegründet werden. Mir persönlich würde das Aggregieren des Scharfsinns von Intellektuellen schon genügen.

Auch das Gejammere über das Postfaktische beeindruckt mich wenig. Zumindest nicht von denen, die ihre Faktenchecks bei den letzten Wahlen aus dem Hauptprogramm ins Internet verdrängt haben. Klar gibt es einen Medienwandel. Aber ich halte den postulierten Niedergang am Kiosk für lange nicht so wichtig wie die Beobachtung, dass die angesagten Cafés in Berlin einfach keine Zeitungen mehr auslegen. Wo sollen junge Menschen denn mit Politik und damit mit dem Zeitungslesen sozialisiert werden? Die Kunden sind stolz auf Fairtrade und die ökologische Herkunft der Holztische, aber die neue Zeitungslosigkeit ist für unsere Demokratie alles andere als harmlos.

Die Probleme, vor denen wir stehen, halten Vergleichen mit der Geschichte nicht stand. Wie muss sich ein britischer Student im Juni 1940 nach der Schlacht von Dünkirchen gefühlt haben? Die eigenen Truppen auf dem Rückzug. Ein neuer Premierminister, der Krieg gegen Hitler führen will, aber ohne Truppen? Dessen Panzer den Weg von Afrika über Italien nach Deutschland nehmen sollen. Was muss das für ein Gefühl gewesen sein, in der freien Welt zu leben. Mit einem faschistischen Europa, ohne die Aussicht, Hitler jemals zu besiegen. Im Gegenteil: mit der eigenartigen Aussicht, dass seine Soldaten zu Weihnachten 1940 über den Ärmelkanal setzen. Alles fiel nur zusammen. Und immer schlimmer.

Wir sollten etwas Neues probieren

Auch wenn die Perioden des Glücks leere Blätter im Buch der Geschichte sein mögen, verschwinden unsere Probleme gegen die der Briten im Sommer 1940. Trotzdem verlieren wir den Kampf gegen Rechts seit drei Jahren. Wir verlieren diesen Kampf Tag für Tag. Warum? Einzelne führen ihn als Retter von Menschenleben auf dem Mittelmeer. Manche führen ihn halbherzig. Aber viele gar nicht. Es gibt seit drei Jahren einen breiten Konsens darüber, dass wir „Mit Rechten reden“ müssen. Während Madeleine Albright in den USA ein Buch schreibt mit dem Titel „Faschismus“, restauriert der Bundespräsident in seiner Weihnachtsansprache die Dialogbereitschaft mit den Rechtsextremen (weil wir sie ja nicht aus dem Land werfen können). Diese Gesellschaft redet nicht mit Rechten. Sie redet für Rechte. Und sie singt sich dabei selbst in den Schlaf. Es mag schön klingen, sich stets dieselbe Medizin zu verschreiben. Aber wenn das, was man damit kurieren will, immer katastrophaler wird, kann das auch an der Medizin liegen.

Wir sollten langsam etwas Neues probieren. Die Phase des Meinungsstreites neigt sich erkennbar dem Ende zu. Was folgt? Welche Möglichkeiten bleiben? Bisher haben wir es mit der Politik der Toleranz versucht. Aus der Geschichte wissen wir, wo sie hinführt. So schreibt ein Autor der Weltbühne nach den katastrophalen Wahlergebnissen von 1932: „In der Zeit der Tolerierungspolitik haben wir das außerordentlich starke Wachsen der Nazis auf der einen Seite, den ständigen Wahlverlust der Sozialdemokratie auf der andern Seite.“

Wir wollen mit dem Rechtsextremismus fertig werden. Aber in Wirklichkeit wird er mit uns fertig. Auf dem zentralen gesellschaftlichen Schlachtfeld sind wir Deserteure. Das ist, was wir falsch machen. Wir glauben, dem Kampf mit Toleranz zu entkommen. Wir schonen militante Neonazis mit einer chinesisch anmutenden Höflichkeit. Dafür ernten wir seit drei Jahren nur diskursive Schande. Den Kampf werden wir trotzdem kämpfen müssen. Oder wie Churchill es ausdrückte: „Sie hatten die Wahl zwischen Krieg und Schande. Sie haben die Schande gewählt und werden den Krieg bekommen.“

Toleranz braucht Macht und Mittel. Wir täuschen uns sowohl über unsere Macht als auch über die Mittel. Warum lassen wir die von den rechtsradikalen Parolen Betroffenen nicht entscheiden, was akzeptabel ist? Wir sind doch sonst um Ausgewogenheit bemüht. Warum legen nicht die Opfer von Anschlägen fest, was wir tolerieren sollen?

Was bringt uns unsere Toleranz?

Warum tolerieren wir Demokratiefeinde? Um uns von unserer Gutmütigkeit zu überzeugen? Ossietzky schrieb über denselben Großmut im Jahre 1932: „‚Sie tröpfelt wie der milde Tau vom Himmel‘, und sie tröpfelt meistens nach rechts.“ Diese Politik gipfelte schon einmal im Appeasement von 1938 und zeigte, dass die, die sich so erhaben, tolerant und großmütig vorkamen, kleine Lichter waren. Der Fehler, die eigene Faulheit zur Friedensliebe umzudekorieren, darf uns nicht noch einmal unterlaufen. Es wird niemals demokratisch oder tolerant sein, demokratiefeindliche Umtriebe auf den Straßen von Chemnitz zu dulden und als staatliche Behörde später zu leugnen. Die Politik der Toleranz muss ein Ende haben.

Was tun? Ein Gedankenspiel. Was denkt eine Intellektuelle, die unfreiwillig Zeugin von Hitlers Aufstieg wird? Wir müssen uns das eher hart vorstellen: Hitler, der von Ariern und dem Volk faselt, ist bis Februar 1932 staatenlos. Ein Witz, aber Hitler ist kein Deutscher. Er war auch niemals Deutscher. Er agitiert für ein Land, ein Volk, einen Nationalismus, dessen Pass er bis zum 42. Lebensjahr nicht besitzt. Man könnte meinen, es sei seinen Kameraden gelungen, ihn früher einzubürgern. Ich dachte offen gestanden, das wäre damals wichtig gewesen – und Hitler am meisten. Hitler tritt 1932 an, um gegen Hindenburg Reichspräsident zu werden. Reichspräsident ohne deutsche Staatsbürgerschaft? Der Diktator ist zwölf Monate vor seiner „Machtergreifung“ noch immer kein Volksdeutscher.

Was wäre geschehen, wenn die Regierung Hitler 1932 abgeschoben hätte? Er hatte immer Angst davor. Der Ausländer Hitler wird ja in Deutschland schon frühzeitig kriminell. Er macht in politischem Terrorismus, sammelt Waffen und Kalifatanhänger seines Reichs, um 1923 die bayerische Landesregierung zu stürzen. Keine unheiklen Straftaten für einen Nichtdeutschen.

Es wäre die schärfste Waffe im Kampf gegen die Unterspülung gewesen, Hitler sofort auszuweisen. Keine Toleranz! Was geschah? Hitler erhält Redeverbot. Als Reichstagspräsident setzt sich Paul Löbe (SPD) 1928 großmütig beim preußischen Innenminister dafür ein, dass der inzwischen zum Warlord avancierte Führer (die S.A. zählt 100.000 Anhänger) wieder reden kann. Der Innenminister Preußens notiert an den Rand der Bitte: „Es läßt sich in einem demokratischen Staat nicht verantworten, daß sie [die Redeerlaubnis] ihm vorenthalten wird.“ Sein Referent antwortet mit der gebotenen Hellsicht: „Ich bitte, die Anweisung zurückzunehmen. Wir haben genug Idioten im eigenen Lande und brauchen sie uns nicht von auswärts zu importieren!“

Wir brauchen eine Politik des demokratischen Extremismus

Unsere historische Instinktlosigkeit im Abwehrkampf gegen den politischen Rechtsextremismus wird nicht mehr lange halten. Unsere demokratischen Institutionen sind auch nicht in der Lage, mit ihm fertigzuwerden. Im Gegenteil. Sie finanzieren den Rechtsextremismus. Die Verstrickung des Bundesinnenministeriums mit der Terrorzelle des NSU kann direkt nachgewiesen werden. Der Politikwissenschaftler Hajo Funke ist fassungslos über den Grad an fehlender Kontrolle des Inlandgeheimdienstes. Hinter dem Rücken des Parlamentes hat das BMI zudem die Bundespolizei wiederaufgebaut, obwohl die zentrale Lehre (Gestapo) lautete: Polizei muss Ländersache bleiben. Der Militärische Abschirmdienst köpft die Führungsriege des „Hannibal“-Terrornetzwerkes nicht. Er glaubt, die Sache in Kooperation mit den Elitesoldaten hinzubekommen, die fürsorglich Todeslisten und Waffendepots für den Tag X angelegt haben. So halten sich die staatlichen Stellen ihre Extremisten. Nur das Grundgesetz hat keine. Wir sollten uns nicht täuschen, Artikel 20, der von der Ewigkeitsklausel geschützt wird und sich gegen die Abschaffung der Verfassung richtet, trägt die Signatur des Extremistischen. Was die Demokratie am Dringendsten braucht, ist eine Politik des demokratischen Extremismus. Bevor es zu spät ist.

Der Text der Rede ist zuerst erschienen in der Zeitung DIE WELT am 8. März 2019.

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