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Wie gefährlich sind die „Reichsbürger“?
Morgen gibt es an der JLU den dritten Themenabend unter dem Titel „Schwurbler, Nazis, Scharlatane?“ im Rahmen der Gießener „Aktionstage gegen geistige Brandstiftung“.
Für eine Aufklärungsreise durch die Weiten der „Reichsbürger“-Szene besuchten am Montag rund 70 Interessierte den Vortrag „Der WIR-Kongress, Peter Fitzek, das Königreich Deutschland und die Reichsbürger“ an der Justus-Liebig-Universität (JLU) Gießen. Morgen gibt es an der JLU den dritten Themenabend unter dem Titel „Schwurbler, Nazis, Scharlatane?“ im Rahmen der Gießener „Aktionstage gegen geistige Brandstiftung“.
Von Anna Beniermann, Gießen.
Menschen oder Gruppierungen, die die Existenz der Bundesrepublik Deutschland anzweifeln, werden als „Reichsbürger“ bezeichnet bzw. diese bezeichnen sich selbst so. Zwar ist innerhalb dieser „Reichsbürger“-Bewegung umstritten, welche Verfassung derzeit gültig sei. Einigkeit besteht jedoch darin, dass die Bundesrepublik Deutschland rechtlich nicht als Staat gelten könne. Aus diesem Grund erkennen „Reichsbürger“ unter anderem das Grundgesetz nicht an. Viele Reichsbürger geben beispielsweise ihren Personalausweis ab, „denn jeder, der einen Personalausweis hat, ist was? – Richtig, Personal!“ Es kommt immer wieder vor, dass die „Reichsbürger“ Begriffe wörtlich verstehen und daraus Verschwörungen ableiten.
„Reichsbürger“ lehnen bundesdeutsche Personalausweise ab
Die Bewegung der sogenannten „Reichsbürger“ gibt es bereits seit 1985, Bekanntheit erlangte sie allerdings erst ab ca. 2010. Es liegen dennoch bislang kaum statistische Daten zu dieser Bewegung vor. Eine Ursache dafür ist, dass „Reichsbürger“ in der Regel nicht vom Verfassungsschutz beobachtet werden. „Sicher ist jedoch, dass die Zahlen zunehmen“, erklärte Referent Oliver Gottwald am Montagabend dem Publikum im Margarete-Bieber-Saal der JLU. Gottwald arbeitet als Diplom-Rechtspfleger in der hessischen Justiz und bietet dort Fortbildungen zur „Reichsbürger“-Thematik an.
Gottwald beschrieb einige der kuriosen „Beweise“, die „Reichsbürger“ dafür anführen, dass die Bundesrepublik Deutschland rechtlich kein Staat, sondern eine Firma sei. Zugleich erläuterte er derartige Auffassungen entkräftende bzw. widerlegende Fakten und Zusammenhänge.
Das Königreich Deutschland
Der mehrfach vorbestrafte Peter Fitzek, der sich selbst als „Peter der Erste“ bezeichnet, rief vor vier Jahren das Königreich Deutschland aus, als dessen Staatsoberhaupt er sich selbst sieht. Ein neuer Staat bedeutet natürlich auch neue Gesetze. So fährt Fitzek mit einem Phantasie-Führerschein in grüner Farbe, der es ihm erlaubt „so zu fahren, wie er es für richtig hält“. Für diese Art von falschen Führerscheinen gibt es übrigens keine Anzeige wegen Urkundenfälschung, denn diese Dokumente „haben ungefähr die Überzeugungskraft eines Mickey-Mouse-Club-Ausweises“, so Gottwald.
Fitzek, der sich momentan wegen Veruntreuung in Untersuchungshaft befindet, und seine Anhänger würden sich übrigens nicht selbst als „Reichsbürger“ verstehen, obwohl sie nach Einschätzung des Experten Oliver Gottwald ein Paradebeispiel für die „Reichsbürger“-Bewegung sind.
Enge Verknüpfungen zwischen Neo-Nationalsozialisten und Reichsbürgern
Es gebe ferner Menschen, die aus Überzeugung „Reichsbürger“ werden und andere, die aus einer wirtschaftlichen Notlage den Staat anzweifeln, um Steuereinforderungen und andere Schulden als nichtig zu erklären. Die „Reichsbürger“-Szene ist demnach sehr heterogen, so Gottwald: Es gebe Geschäftemacher, Trittbrettfahrer mit Zahlungsverweigerungsabsicht, braune Esoteriker, „Chemtrail“-Verschwörungstheoretiker und auch überzeugte Neonazis. Viele der Verschwörungstheorien, denen die „Reichsbürger“ anhängen, sind offen antisemitisch und geschichtsrevisionistisch.
Laut dem „Reichsbürger“-Experten Gottwald wurden und werden besonders in Sachsen Bewegungen wie „PEGIDA“ häufig durch Anhänger solcher Vorstellungen initiiert. So sei auch die AfD offen für Kandidaturen von „Reichsbürgern“ und habe einige in ihren Reihen.
Gefährlich sind „Reichsbürger“ vor allem für Behördenmitarbeiter, die im Außendienst arbeiten – wie bspw. Gerichtsvollzieher, da viele der selbsternannten „Reichsbürger“ in Besitz von Waffen sind. Der Psychologe Sebastian Bartoschek warnt daher schon seit längerem, man solle die „Reichsbürger“ ernster nehmen, da sich die Lage zuspitzen werde. Wie berechtigt diese Warnung ist, wurde erst heute erneut deutlich, als ein „Reichsbürger“ ohne Vorwarnung das Feuer gegen SEK-Mitarbeiter erhoben hatte.
Die Veranstaltung an der JLU fand im Rahmen der „Aktionstage gegen geistige Brandstiftung 2016“ statt. Diese werden organisiert von dem AStA der Universität Gießen, der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften und dem Humanistischen Verband Hessen, unterstützt von einem Bündnis aus fast 20 parteipolitisch und zivilgesellschaftlich engagierten Organisationen und Gruppen.
Mehr Infos zu Reichsbürgern auf Oliver Gottwalds Blog: www.eisenfrass.wordpress.com
Die „Aktionstage gegen geistige Brandstiftung“ wurden als Konterveranstaltung zum „WIR“- bzw. „Evolve-the-Future“-Kongress geplant, der am 22. und 23. Oktober in der Gießener Kongresshalle stattfinden sollte, mittlerweile jedoch aufgrund des sich formierenden öffentlichen Widerstands abgesagt wurde. Dieser sollte der Nachfolger des letztjährigen „Quer-Denken“-Kongresses werden, zu dem sich mehr als 1.000 Teilnehme in Friedberg einfanden, darunter Reichsbürger, Wunderheiler und Esoteriker.