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Essay & Diskurs

Wohin mit all dem Zorn?

Überlegungen zu einem säkularen Wutmanagement

Überlegungen zu einem säkularen Wutmanagement

Bild: Fotolia / Денис Кабелев

„Es sei nun der Zorn ein schmerzliches Verlangen nach Rache wegen einer offenbar werdenden Geringachtung gegen einen selbst oder einen Freund, wobei das Geringachten nicht angebracht ist.“

Der griechische Philosoph Aristoteles zeigt hier wieder einmal seine Kunst darin, wichtige Begriffe in wenigen zentralen Begriffen zu erklären: den Zorn als Bedürfnis nach Rache für eine erlittene Geringachtung zu beschreiben bringt die Sache, um die es hier gehen soll, auf den Punkt. In diesem Text möchte ich nämlich der Frage nachgehen, wie sich ein Humanistisches Zornmanagement denken lässt, also eine Lebensform, bei der Erfahrungen der Geringschätzung genauso verarbeitet werden wie die daraus resultierende Rachsucht.

Denn sowohl das Gefühl der Geringschätzung als auch das damit verbundene Trachten nach Rache und Genugtuung sind doch allgegenwärtig. Wie sonst ließe sich die fast magische Wirkung des Liedes der Seeräuber-Jenny in Brechts Dreigroschen-Oper erklären, wenn nicht damit, dass fast jeder, der es hört, es mit eigenen Erfahrungen verknüpfen kann. Die wohl bekanntesten Textpassagen sind folgende:

„Meine Herren, heute sehen Sie mich Gläser abwaschen
Und ich mache das Bett für jeden.
Und Sie geben mir einen Penny und ich bedanke mich schnell
Und Sie sehen meine Lumpen und dies lumpige Hotel
Und Sie wissen nicht, mit wem Sie reden.
[…]
Und an diesem Mittag wird es still sein am Hafen
Wenn man fragt, wer wohl sterben muss.
Und dann werden Sie mich sagen hören: Alle!
Und wenn dann der Kopf fällt, sag ich: Hoppla!“

Hier finden wir in poetischer Zusammenfassung, was Aristoteles beschreibt: das Gefühl der Demütigung („Sie wissen nicht, mit wem Sie reden“) entlädt sich in einer Phantasie der blutigen und gnadenlosen Rache („Alle!“). Die Geschichte der Popmusik ist voll von solchen Darstellungen, in denen die Demütigung beklagt und die zukünftige Genugtuung besungen wird – eines Tages, so heißt es da, „werd ich mich rächen.“

Der Zorn über verschmähte Liebe mag vergänglich sein, doch der Zorn über fortdauernde Geringschätzungen besteht fort. Der Philosoph Peter Sloterdijk hat deswegen zurecht darauf hingewiesen, dass es seit jeher eine zivilisatorische Leistung ist, den „ungestümen Impuls des Zorns in geregelte Bahnen“ zu lenken. Und wenn dem so ist, dann stellt sich die Frage, wie sich die zerstörerischen Potentiale, die dem Zorn innewohnen binden, steuern, mildern, tolerieren oder sogar verhindern lassen.

Prof. Dr. Jonas Grutzpalk ist beruflich tätig an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW in Bielefeld. Im Humanistischen Verband engagiert sich der Familienvater daneben als Feiersprecher für die Region Bielefeld/Ostwestfalen-Lippe für Namens-, Hochzeits- und Trauerfeiern. Website: grtzplk.de

Häufig lässt sich beobachten, dass kulturelles Zornmanagement eine Verlagerung der Rachsucht in die Zukunft vorsieht. Dass selbst der Hinduismus mit seinem fortlaufenden Kreislauf der Wiedergeburten eine farbenfrohe Vorstellung von Hölle (Naraka) in sich integriert hat, ist nach meiner Ansicht ein Beleg dafür, dass diese Verlagerung der Rache in die Zukunft einfach zu nahe liegt als dass man nicht darauf kommt.

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Nur ist eben diese Verlagerungstechnik für eine säkularen Humanismus nicht denkbar, weil dieser weder eine diesseitige, noch eine jenseitige Rache in seine Weltanschauung integrieren kann. Wer eine fortlaufende Humanisierung der Gesellschaft betreiben möchte, denkt gar nicht daran, den Rachephantasien der Beleidigten eine Reflexionsfläche zu bieten. Dennoch stellt sich das Problem des Zorns, er will immer mitgedacht werden, denn verschwinden wird er aus den modernen Gesellschaften nie. „Was lange gährt, wird endlich Wut“ – dieser alberne Spruch mag das Problem beschrieben, das es aus humanistischer Sicht zu bewältigen gilt: Wohin mit all dem Zorn?

Der Frage möchte ich hier also nachgehen und dabei zum Einen erörtern, wie sich Zorn und Wut erklären lassen. Dann möchte ich mich mit Verlagerungsstrategien beschäftigen, die den Zorn in die Zukunft zu schieben versuchen, um letztlich der Frage nachzugehen, welche Formen ein humanistisches Wutmanagement haben könnte.

Woher kommt der Zorn?

Für den römischen Zornforscher Lucius Annaeus Seneca war die von ihm untersuchte Leidenschaft etwas, was der Natur des Menschen zuwiderläuft. Während der nämlich darauf eingestellt sei, anderen Menschen zu helfen, entstelle der Zorn das Antlitz des Menschen zur tierischen Fratze. Das mag man als etwas naiv abtun, aber die Frage stellt sich in der Tat: Wo lässt sich der Zorn beim Menschen verorten – ist er ein tierisches Erbe oder eher ein soziales Extra? Und wie entsteht Zorn eigentlich?

Neurologisch gesehen ist die Sache sehr einfach, sagt der Psychiater Joachim Bauer: „Nicht ausgegrenzt zu sein, sondern befriedigende Beziehungen zu anderen zu pflegen, zählt zu den menschlichen Grundmotivationen.“ Wird diese Grundmotivation auf Dauer durch andere eingeschränkt, wird eine menschliche Schmerzgrenze überschritten und es kommt zur Aggression. Der Zorn ist so gesehen die menschliche Unfähigkeit, auf längere Sicht soziale Ausgrenzung zu ertragen. Der Homo Sapiens ist keine einzelgängerische Katze, sondern – von seiner Natur her – ein Zoon Politikon, also ein auf soziales Leben eingerichtetes Lebewesen. Und wer dem natürlichen Bedürfnis nach sozialer Teilhabe einen Riegel vorschiebt, kann Zorn auslösen.

Was Bauer als Ausgrenzung beschreibt, könnte bei Aristoteles durchaus als „Geringachtung“ durchgehen – wer am sozialen Leben nicht teilnehmen darf muss sich als soziales Wesen geringgeschätzt und missachtet fühlen. Und die Natur hat für diesen Fall der Geringschätzung einen bunten Köcher an Emotionen bereitgestellt:

So lässt sich nachweisen, dass Hominiden ihre sozialen Umfelder immer wieder daraufhin überprüfen, ob sie in dem Gefüge die Anerkennung erfahren, die ihnen zusteht. Dass diese dauernde Beobachtung ein nimmermüder Jungbrunnen für das Entstehen von Neid ist, kann niemanden verwundern. Neid kann zu einem ernsthaften Problem werden, weswegen viele Kulturen Abwehrmagien gegen den (neidischen) bösen Blick kennen.

Umgekehrt sind menschliche Gesellschaften seit dem Neolithikum darauf ausgerichtet, Ungleichheiten zu thematisieren und durch das, was der Soziologe Thorstein Veblen „conspicious consumption“ („Geltungskonsum“) genannt hat sogar noch zu betonen. Seit es sesshafte Gesellschaften gibt, die über das dem Menschen im Naturzustand zuträgliche Maß an Mitmenschen hinausgehen, gehört der Neid also institutionell mit dazu: eine sesshafte Gesellschaft, die keinen Neid kennt – das lernen wir von Thorstein Veblen – gilt es erst noch zu erfinden.

Darüber hinaus lässt sich beobachten, dass soziale Schieflagen einen Vergleichsstress auslösen können, der dazu führt, dass fortwährend überprüft wird, wer über welche sozial bedeutsamen Güter oder Kennzeichen verfügt. Wer dabei das Gefühl hat, im sozialen Wettstreit um diese Güter nicht mehr mithalten zu können kann Stresssymptome bis hin zur schweren Depression entwickeln.

Auch das von Friedrich Nietzsche feinsinnig beobachtete Ressentiment als auf kleiner Flamme köchelnder Zorn kann Resultat solch eines Vergleichsstresses sein. Max Scheler führt in seiner Studie über das Ressentiment aus, dass Gesellschaften, die als „Konkurrenzssystem“ funktionieren und es auf einen Vergleich all ihrer Mitglieder untereinander anlegen, besonders anfällig für das Ressentiment sind. Scheler spricht völlig zurecht vom „seelischen Dynamit“ das im Ressentiment lagert. Wahrscheinlich kämen wir besser mit dem Zorn klar, wenn es das Ressentiment als Zornreserve nicht so effektiv wäre. Doch sicherlich hat Scheler Recht, wenn er schreibt, dass das Ressentiment „uns große Gesamtvorgänge in der Geschichte“ verständlich machen kann.

Das Ressentiment verschiebt aber nicht den Zorn in die Zukunft, sondern ist ein ständiges Leben im Zorn. Darin unterscheidet es sich von den Verlagerungstechniken, die wir uns noch ansehen werden. Der echte Verzicht auf Rache kommt vielmehr einer Selbstüberwindung gleich, die mit dem Ressentiment nicht zu meistern ist.

So hat sich nachweisen lassen, dass Rache in der Hirnregion verarbeitet wird, in der auch das Belohnungssystem des Menschen untergebracht ist. Hier genießt das Hirn z. B. auch Schokolade. Rache ist neuronal gesehen tatsächlich süß. Seeräuber-Jenny hat somit den berechtigten Grund zur Hoffnung, den Moment der Rache genießen zu können. (Wobei einschränkend gesagt werden muss, dass das gute Gefühl, das mit Rache in Verbindung steht häufig nicht von Dauer ist.)

Es lässt sich festhalten, dass beides: eine besondere Anfälligkeit für die Erfahrung von Geringschätzung und das Streben nach Rache als biologisches Erbe des Menschen angesehen werden müssen, die durch zivilisatorische Entwicklungen eher noch zementiert wurden. Wer sich auf die Suche nach Möglichkeiten macht, die sozialen Auswirkungen des Zornes so ungefährlich wie möglich zu gestalten, muss das berücksichtigen.

Zornverwaltung als zivilisatorische Leistung

Wenn man Anthopologie des französischen Philosophen Georges Bataille Glauben schenken mag, bringt der Mensch allerdings auch einen Teil der Lösung für das Problem mit sich. Bataille macht nämlich auf die Besonderheit aufmerksam, dass der Mensch als sparendes Tier definiert werden könne:

„Der Mensch grenzt sich gegenüber den Tieren ab, sofern er die Verbote einhält: er substituiert der animalischen Allmacht des Wunsches die Form der Reflexion und des Aufschubes.“

Wer die „animalische Allmacht des Wunsches“ nach Rache aufschiebt, verzichtet nicht auf Vergeltung – er verlagert sie nur in die Zukunft. Die Visionen sind in diesem Themenfeld zahlreich. Wie einstiegs gesehen ist dabei die Vorstellung von einer jenseitigen Hölle besonders populär („I defy any of my co-religionists to not enjoy the thought of Dawkins burning in hell for eternity“, schreibt z. B. Anne Coulter über den streitbaren Atheisten Richard Dawkins).

Es gibt auch diesseitige Formen der Verlagerung von Rachegelüsten in die Zukunft. Rechtsextremisten freuen sich z. B. schon jetzt auf einen „Day of the Rope„, an dem alle „Verräter an der Rasse“ gehenkt werden. Der in der 1968er-Bewegung kursierende Halb-Scherz, Übeltäter würden „nach der Revolution erschossen“ gehört ebenfalls in diese Kategorie in die Zukunft verlagerter Zorngefühle.

Jenseitige „Hölle“ und diesseitiger „Day of the Rope“ sind durch Batailles Brille betrachtet Aufschubtechniken, bei denen das dem Zorn innewohnende Bedürfnis nach Rache zeitlich verlagert wird – der Zorn wird also für spätere Gelegenheiten aufgespart. Anders als das Ressentiment führen solche Aufschubtechniken zur zeitweiligen Entlastung ihrer Anwender und ermöglichen ihnen, über die eine oder andere aktuelle Geringschätzung hinwegzusehen und sich dem Alltagsgeschäft zuzuwenden.

Besonders der Aufschub des Zorns in jenseitige Sphären hat in der Tat erst einmal große zivilisatorische Vorteile: nicht jedes Zornproblem muss sofort vorgetragen und gelöst werden, Rachegelüste werden vertagt bzw. auf Wiedervorlage gelegt und das ermöglicht, die zahlreichen zornbegründeten Hürden, die zwischen den Menschen in einer Gesellschaft entstehen können erst einmal zu ignorieren.

Das ist besonders dann hilfreich, wenn die Menschen spätestens ab dem Neolithikum lernen müssen, in sehr großen Gruppen zusammen zu leben. „So viele Menschen“ titelt Thomas Macho einen Text über diese entscheidende Phase in der Entwicklungsgeschichte des Homo Sapiens. Das seither sich stets steigernde Bevölkerungswachstum ist wohl eine der größten Herausforderungen für die zornbezähmende Zivilisation. Die durch die wachsende Anzahl an Menschen steigende Fülle an potentiellen zwischenmenschlichen Zornauslösern (z. B. Vergleichsstress und Neid, aber auch Erniedrigung und Ungleichheit) kann mit Hilfe von Verlagerungstechniken beherrscht werden.

Dass die Zornbewältigung in Europa für Jahrhunderte vertrauensvoll in die Hände der Religion gelegt wurde („mein ist die Rache, spricht der Herr„) hat z. B. sicherlich einen Beitrag zur Ordnung der menschlichen Dinge geleistet. Das Lied über den Tag des (göttlichen) Zorns (lat.: dies irae), das hier seit dem 14. Jahrhundert gesungen wird, hat dabei vermutlich vergleichbar auf die Gemüter gewirkt, wie das Lied der Seeräuber-Jenny. Am Tag des Zorns wird in einem bürkoratisch anmutendem Verfahren erst mit Hilfe einer Posaune den Beginn des Prozesses verkündet und dann nach Aktenlage entschieden, wen welche Höllenqualen treffen sollen:

„Und ein Buch wird aufgeschlagen,
Treu darin ist eingetragen
Jede Schuld aus Erdentagen.“

Einer der Effekte dieser göttlichen Zornverwaltung ist, dass dabei auch die eigene Schuld mitverarbeitet wird:

„Seufzend steh ich schuldbefangen,
Schamrot glühen meine Wangen,
Lass mein Bitten Gnad erlangen.“

Das ist nicht geringzuschätzen, denn schon Seneca (s. o.) hat bei seiner Analyse des Zorns einen besonderen Auslöser ausfindig gemacht, der die Sache so knifflig macht und der hier frontal angegangen wird: Menschen neigen dazu, ihre eigenen Leistungen zu überschätzen und die ihrer Zeitgenossen zu überschätzen. Daraus ergibt sich in der eigenen Wahrnehmung häufig eine Negativbilanz zum eigenen Vorteil, die Zorn auslösen kann. Das kennt jeder, der einen gemeinsamen Haushalt betreibt: „ICH bringe ständig den Müll runter – aber DU stellst immer nur Dein Zeugs in die Spüle.“ Die auf einen Gerichtstermin ausgelegte Zornverwaltung eröffnet nun zumindest die Möglichkeit, sein eigenes Verhalten auf polemogene Gehalte hin zu überprüfen.

Religionen, das zeigt sich hier, sind ideale Verbündete in der umfangreichen Gestaltung eines gesellschaftlichen Zornmanagements. Sie bieten 1.) metaphysische Ansprechpartner an, denen man seine eigenen Gefühle der Erniedrigung anvertrauen kann und lassen 2.) (zumindest in ihrer monotheistischen Ausrichtung) darauf hoffen, dass die Rache, die zur Zeit noch auf sich warten lässt, noch kommen wird. 3.) bieten sie die Möglichkeit, Systeme der Ausbeutung und Erniedrigung als wortwörtlich „gottgegeben“ erscheinen zu lassen und haben somit eine betäubende Wirkung auf das schmerzende Rachegelüst. So gesehen sind Religionen tatsächlich ein Opium, das sich der Mensch gerne da selbst verordnet, wo er ein „erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen“ ist.

Humanistische Zornverwaltung: von Religionen lernen?

Ich habe ja schon an anderer Stelle dazu geraten, religiöse Praktiken wohlwollend auf ihre Potentiale für eine Humanistische Praxis hin zu untersuchen, aber hier fällt mir dieses Anraten schwer. Denn die religiöse Praxis der Zornverlagerung auf einen Termin nach dem eigenen Tod kann nicht in säkulare Kontexte übersetzt werden. Und obwohl Humanistinnen und Humanisten davon überzeugt sind, dass eine bessere Welt durchaus möglich und im Kampf gegen die Quellen des Zorns sicherlich hilfreich ist, gehört ein Angebot diesseitiger Rachefestspiele nicht in ihre Denkwelt.

Gleichzeitig lässt sich bereits seit Langem eine Säkularisierung des Zorns beobachten, die auch für ein humanistisches Zornmanagement nicht ohne Folgen bleiben kann. So sahen die Antiken in der Wut noch eine göttliche Kraft am Werke – etymologisch steckt in dem Wort ja das „Wehen“ eines göttlichen Hauches. Darin ist die Wut also der Inspiration ähnlich, bei der auch göttlicher Atem zum Einsatz kommt. Wut als göttliche Inspiration zu verstehen war die Daseinsberechtigung z. B. des Berserkers als Kriegertypus. „Der Berserker mit seinen manischen Wutanfällen,“ schreibt nun Max Weber, ist dem modernen Militärwesen nicht zuletzt deswegen „fremd“, weil niemand mehr an den göttlichen Ursprung der Wut glauben mag.

Wie lässt sich nun also ein säkulares Zornmanagement denken, wenn auch die Option der glaubwürdigen Zornverlagerung gar nicht mehr so glaubwürdig ist? Eine Antwort könnte darin liegen, einen von der Soziologie mit einiger Spannung beobachteten Trend „Von der Buße zur Beratung“ nachzuvollziehen und zu prüfen, ob nicht in Beratungs- und Coaching-Prozessen ein Potential für ein säkulares Zornmanagement liegen könnte.

Dabei definiert der Bielefelder Soziologe Rainer Schützeichel „Beratung“ im Gegensatz zur religiösen Seelsorge wie folgt:

„Beratung wird allgemein als Vollzug menschlicher Solidarität begriffen, in welcher sich ein Ratsuchender an einen Ratgebenden wendet. Sie kann nur dann erfolgreich sein, wenn der Berater fachkundig ist. Und das Ziel der Beratung besteht in der Mündigkeit des Ratsuchenden. Dieses Programm unterscheidet sich damit immens von den kerygmatischen Seelsorge.“

Während religiöse Seelsorge also versucht, zwischen der individuellen Lage eines Menschen und den allgemeinen Wissensbeständen der Lehre zu vermitteln, geht Beratung den Menschen in seiner jeweiligen Lebenslage an und sucht nach Möglichkeiten, ihn handlungsfähig zu machen.

Für die Humanistische Zornverwaltung kann das bedeuten, dass Zorn (und seine zahlreichen Quellen Neid, Vergleich, Ausgeschlossenheit etc.) von den Einzelnen wahrgenommen und im Gespräch analysiert werden kann. Beratung kann diese Zornelemente analysieren und so besprechen, dass die handelnden Personen weiterführende Möglichkeiten entwickeln, wie sie aus der Situation wieder herauskommen, in die sie der Zorn gebracht hat. Das können individuelle Beratungen sein, aber auch Gruppencoachings oder Supervisionen.

Nun können wir kaum erwarten, dass sich eine ganze Gesellschaft auf die Couch eines professionellen Beraters legen lässt. Zu bekömmlich ist es sicherlich auch, in der Rolle des ressentimentgeladenen Opfers auszuharren und anderen fortlaufend die Schuld für die Lage der Dinge zu geben. Allerdings ist solch eine Haltung nicht sonderlich souverän. Wenn „moderne Gesellschaft“ bedeutet, dass sie vom autonomen Individuum ausgeht, so muss sie auch die Strukturen dafür schaffen, dass dieses Individuum in Erscheinung treten kann.

So muss es einerseits Aufgabe der Beleidigten und Entrechteten sein, sich zu Wort zu melden und ihren Zorn zu benennen. Andererseits ist es Aufgabe einer modernen Gesellschaft, Strukturen vorzuhalten, die eine zielführende und professionelle Beratung ermöglichen. Damit werden Zornauslöser zwar nicht beseitigt, aber sie werden auch nicht in die Zukunft verlagert. Sie werden zu Gegenständen, die sich besprechen lassen und verlieren ihren Zauber auch dadurch, dass man ihnen Namen gibt.

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