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Bayern

Ein tolles Wochenende mit ganz viel Angst

Alte Menschen riskieren weniger, manchmal aber mehr. Mit Kindern reden bringt manchmal nicht viel, und Mäuse verhalten sich wie Menschen auf einem Fußballplatz – nur mit anderen Genen.

Alte Menschen riskieren weniger, manchmal aber mehr. Mit Kindern reden bringt manchmal nicht viel, und Mäuse verhalten sich wie Menschen auf einem Fußballplatz – nur mit anderen Genen. Unter dem Motto „Nerven kitzeln – Wie Angst unsere Gedanken, Einstellungen und Entscheidungen prägt“ fand vom 12. bis 14. Oktober in Fürth das 20. turmdersinne-Symposium statt.

Von Sebastian Bartoschek, Moderator des Symposiums 2018

Über 400 Besucher waren in die Stadthalle Fürth gekommen um über aktuelle Forschungsbefunde zum Thema Angst in vielerlei Facetten zu diskutieren. Das Publikum war mit Blick auf die Geschlechter gut gemischt, mit Blick auf das Alter war eine Verzerrung zugunsten der Generation 50plus nicht zu übersehen. Psychotherapeuten und Lehrer waren ebenfalls überrepräsentiert, kann das Symposium doch als entsprechende Fortbildung angerechnet werden.

Unter den Vortragenden wiederum gab es viele Psychologen und Anverwandte, sind sie es doch, die sich in besonders detaillierter Form mit Furcht, Angst und Angststörungen auseinandersetzen. Knapp ein Dutzend Vorträge, zweieinhalb Tage volles Programm, und der Autor dieser Zeilen als Moderator – man durfte gespannt sein.

Den Auftakt machte am Freitagabend Hans J. Markowitsch mit Ausführungen zu „Gedächtnis- und Erinnerungsblockaden durch Angst und Stress“. Markowitsch, der über 700 Arbeiten zum Thema veröffentlicht hat, verwies darauf, wie Gedächtnisinhalte entstehen und unter welchen Umständen sie blockiert werden können. Dabei betonte er, dass Gedächtnisinhalte eben nie letztlich verloren und ausgelöscht, sondern eher verschollen sind, und mitunter überraschend wieder auftauchen. Viele Einzelfallbeispiele untermauerten plastisch die Ausführungen und standen auch in der folgenden Diskussion im Fokus.

Nach diesem Einstieg ins Thema berichtete Kay Jüngling als erster Redner am Samstagmorgen davon, welche Erkenntnisse in Mäuseversuchen über genetische Variationen als Einflussfaktoren von Furcht und Angst gewonnen werden können. Jüngling, der im Sonderforschungsbereich „Furcht, Angst und Angsterkrankungen“ zu den Ursachen eben jener forscht, erklärte in seinem Beitrag, wie das sogenannte Neuropeptid-S-System wirkt: Verabreicht man Mäusen Neuropeptid-S, wird das System aktiviert, verabreicht man einen Blocker, wird das System abgeschaltet. Setzt man diese Tiere in den sogenannten Open Field Test (eine große Kiste von etwa 80x80cm), unterscheiden die Mäuse, denen Neuropeptid-S verabreicht wurde, offenbar nicht zwischen Wand und Mitte der Kiste. Mäuse, bei denen das System blockiert wurde, halten sich häufig in Wandbereichen auf und meiden die Mitte. Eine Blockierung des Systems wirkt offenbar angstfördernd, während eine Aktivierung angstlösende Wirkung hat. Spannenderweise verhalten sich genau auf die gleiche Weise Menschen, die anhand eines Fragebogens als besonders oder sehr wenig ängstlich kategorisiert wurden, wenn man sie in einer „große Kiste für Menschen“ (Sportplatz umrandet von Bäumen) bittet sich eine Weile zu bewegen.

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Der im beschrieben System entscheidende NPS-Rezeptor liegt im Menschen in zwei Varianten vor, von denen eine als Risikovariante gilt. Das heißt, dass Personen, die diese Variante des Rezeptors zeigen, haben ein größeres Risiko Angst- oder Panikerkrankungen zu entwickeln. Diese Risikovariante ist spannenderweise jene Variante, die alle Spezies von der Maus bis zum Schimpansen tragen. Die Nicht-Risikovariante hat sich hingegen erst im Laufe der Evolution mit dem modernen Menschen entwickelt.

Deutschlands bekanntester Angstforscher Borwin Bandelow betrachtete nachfolgend Angst beim Menschen sowie vor allem Angsterkrankungen und ihre Behandlung. Bandelow, lange in einer Angstambulanz tätig, betonte dabei, wie wichtig es für Angstpatienten sei, direkt in der Realität mit den angstauslösenden Situationen konfrontiert zu werden. Dabei unterschied er, wie die meisten Referenten, zwischen Furcht/Phobie, die auf ein konkretes Objekt gerichtet ist, und Angst, die meist diffuser und weniger greifbar ist. Flankierend empfiehlt Bandelow den Einsatz von Psychopharmaka.

Gerade letzteres kritisierten zwei Besucherinnen in der Diskussion, und mussten von Bandelow darüber informiert werden, dass er gerade im Bereich der neurobiologischen Forschung recht weit vorne ist. Um die Frage, wann soziale Angst als Antrieb, und wann als Hemmnis wirkt ging es bei Jürgen Hoyer. Dass der Mensch eben nicht nur zu einer Gruppe gehören will, sondern auch als Teil einer Gruppe eben Angst hat, aus dieser ausgeschlossen zu werden, gehörte zu den eindringlichsten Botschaften des Vortrags.

Keine Präsentation hatte Gabriele Pohl dabei. Die Pädagogin und Gründerin des Kasper-Hauser-Instituts trug ihre Ausführungen zu kindlicher Angst und dem Umgang der Erwachsenen mit derselben teils frei, teils abgelesen vor. An einigen Stellen litt darunter die Möglichkeit, ihr konsequent folgen zu können. Ihr Plädoyer für mehr freies Spiel, für mehr eigenes Spiel und gegen Überbehütung bei Kindern kam beim Publikum dafür umso mehr an: „Was ist schon eine kleine Schramme gegenüber dem Gefühl, einen Baum hochzuklettern?“ Pohl kritisierte zudem, dass Kinder heutzutage häufig kaum mehr Freiräume haben, stattdessen unter ständiger Überwachung stehen und so nur wenig Gelegenheit haben, sich selbst auszuprobieren.

Einen kleinen Alterssprung machte der Biologiedidaktiker Alexander Bergmann im Anschluss, der zunächst anhand einer Gehirn-Computer-Schnittstelle verdeutlichte, welche neurotechnischen Möglichkeiten mittlerweile Realität sind. Bergmann stellte seine Forschung dar, in der er bei Jugendlichen der Frage nachging, welche neurowissenschaftlichen Mythen unter Abiturienten verbreitet sind. Dazu ließ er diese in einem fiktiven Ethikrat über medizintechnische Anträge entscheiden. Diese daraus resultierenden Diskussionen der Schüler verdeutlichten deren Angst vor dem Missbrauch medizinischer Technik und eine große Skepsis gegenüber Großkonzernen und Militär. Die Natur hingegen gilt ihnen oft als „rein“. Da „Ängste und Befürchtungen den Lernprozess beeinflussen können“, gibt es hier noch viel Arbeit für Lehrkräfte zu bewältigen.

Wie sich Risikoentscheidungen von Menschen über ihre Lebensspanne verändern, betrachtete Dr. Thorsten Pachur vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Darin wollte er mit dem alten Vorurteil aufräumen, dass jüngere Erwachsene risikobereiter sind als ältere. Ausgehend vom Beispiel der französischen Philosophin Anne Dufourmantelle und dem von ihr stammenden Zitat „lebendig zu sein, bedeutet Risiko“, zeigte Pachur, dass Risikowahrnehmung und Risikoentscheidungen ein essentieller Bestandteil menschlichen Lebens ist. Die angesprochene Philosophin starb vor kurzem tragischerweise bei dem risikoreichen Versuch, die Kinder einer Freundin vor dem Ertrinken zu retten.

In seinem Vortrag zeigte Pachur zunächst, dass jüngere Menschen in einer Wahlentscheidung höheres Risiko eingehen als ältere, wenn eine der beiden Wahlmöglichkeiten sicher ist – bspw. ein kleiner sicherer Gewinn gegenüber einem großen Gewinn, den man nur mit geringer Wahrscheinlichkeit erhält. Bei zwei unsicheren Möglichkeiten hingegen, zeigen ältere Menschen eine höhere Risikobereitschaft. Hintergründe sind dabei kognitive und emotionale Entwicklungen über die Lebensspanne wie ein Rückgang der Denkmechanik im Alter und die Entwicklung der Lebenszufriedenheit über die Lebensspanne.

Abgerundet wurde der Samstag durch Ottilie Frenkel von der Universität Heidelberg. Frenkel, die als Sportpsychologin auch Spitzensportler coacht, gab einen Einblick in die Welt des Extremsports und der sogenannten „Sensation Seekers“. Diese Menschen, die mitunter ungesichert an Felshängen kraxeln oder mit über 100 km/h eine Steilpiste hinabrasen, haben auch Angst, versicherte Frenkel. Nur nutzten sie die Angst als Warnhinweis, stellten sich ihr und befriedigten so mitunter auch ihr Bedürfnis nach Aufregung. Sie besitzen also die Fähigkeit, das Entstehen von Panik zu verhindern und intensive Reize positiv zu verarbeiten.

Ein lockeres Zusammensein bei Wein und Musik und ein Science Jam rundeten den Samstag ab.

Am Sonntagmorgen erläuterte Dombrowsky dann, wie Katastrophen auf Menschen wirken und wie Menschen in Katastrophen wirken konnten. Aufhänger war dabei der konkrete Fall eines Wohnungsbrandes, mit dessen Hilfe der Katastrophenforscher Grundsätzliches erklärte: je öfter und klarer sich ein Mensch mögliche Gefahrensituationen vor Augen führt, durchdenkt und vorausplant, desto wahrscheinlicher wird, dass er im Ernstfall auch tatsächlich besonnen und richtig reagiert. Dombrowsky vertrat zudem die These, dass Menschen in Katastrophensituationen tendenziell „unkultureller“ werden und eher animalische Verhaltensweisen in den Vordergrund treten.

Nicht nur akute Gefahrensituationen können angstauslösend wirken, sondern auch relativ abstrakte Dinge, wie Filme oder Nachrichteninhalte, die vom anderen Ende der Welt berichten. Der Medienpsychologe Frank Schwab warb, gerade auch mit Blick auf Kinder, für einen differenzierten Umgang mit Medien und deren Angstpotential. Er verwahrte sich gegen einfache Schuldzuweisungen aufs Fernsehen und stellte Befunde vor, nach denen es nur sehr selten ratsam ist, auf das Medienangebot für Kinder mit starren Verboten und Restriktionen zu reagieren. Solche Handlungen müssten dem Kind gegenüber sehr gut und spezifisch begründet werden, da sonst die Gefahr größer sei, zusätzliche Furcht und Angst aufzubauen. Angst bei Kindern durch Nachrichteninhalte werde zudem häufig durch das Verhalten der Eltern ausgelöst und nicht durch die Inhalte selbst.

Den inhaltlichen Abschluss machte eine Diskussion des Podcasts „Soziopod“ im sogenannten Fishbowl-Format: Leere Stühle in der Diskussionsrunde auf der Bühne werden abwechselnd von verschiedenen Gästen des Symposiums besetzt, die in die Diskussion einsteigen wollen. In ihrem Podcast widmen sich Nils Köbel und Patrick Breitenbach soziologischen und philosophischen Themen. Diesmal waren auch die anwesenden Zuhörer eingeladen sich auf der Bühne dazu zu gesellen, und eine Zeitlang mitzudiskutieren und zu -philosophieren. Hier brachen dann doch ein wenig das Alter und die politische Verortung des Auditoriums durch, als immer wieder die vermeintliche Geißel des ebenso vermeintlichen Neoliberalismus angeführt wurde, die nun, auch dies vermeintlich, zu Angst bei den Deutschen führen würde.

Die anschließende Verabschiedung oblag dem Geschäftsführer der turmdersinne gGmbH, Michael Bauer. Er kündigte auch das Thema für 2019 an: „Bessere Menschen? Technische und ethische Fragen in der transhumanistischen Zukunft“. Organisieren wird die Veranstaltung auch nächstes Jahr turmdersinne-Leiterin Anna Beniermann und ihr engagiertes Team, dem der Einsatz zeitgemäßer Formate wie Science Slam und Live-Podcast zu verdanken ist.

Insgesamt zeigte sich an bunter Reigen an Facetten und Ansätzen rund um das Thema Angst. Die Vorträge und Diskussionen liefen durchgängig auf einem Niveau für interessierte Laien ab, wobei manch ein Fragesteller komplexer formulierte als die Vortragenden. Positiv: Es meldeten sich keine auf Konferenzen so sehr gefürchteten Selbstdarsteller und Monologisierer zu Wort, die öffentliche Diskussionen oft zu einer so nervtötenden Angelegenheit machen. Es ging um Austausch, um das gemeinsame Erörtern des Jetzt und des Hinterfragens der Lösungen für das Morgen.

Gemeinsame Erkenntnis: Wir haben Angst alles andere als vollständig verstanden, doch müssen wir akzeptieren, dass sie zum Menschen gehört, und jeweils hinterfragen, wann mit ihr wie umgegangen werden kann. Denn Angst denen zu überlassen, die damit Politik machen, das wollte an diesem Wahlwochenende niemand in der Stadthalle Fürth.

Das nächste turmdersinne-Symposium vom 11. bis 13. Oktober 2019 widmet sich dem Thema: Bessere Menschen? Technische und ethische Fragen in der transhumanistischen Zukunft. Lassen Sie sich dazu mit dem Newsletter auf dem Laufenden halten: turmdersinne.de.

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