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Essay & Diskurs

Meditieren Atheisten?

Überlegungen zu einem säkular-meditativen Trainingsprogramm – von Jonas Grutzpalk

Überlegungen zu einem säkular-meditativen Trainingsprogramm

Die Milchstraße von der Spitze des Mauna Kea auf Hawaii, rund 4,2 Kilometer über dem Meeresspiegel. Foto: camilstoenescu / Imgur

Alles begann mit der CD „Keine Macht für Niemand“ von Ton Steine Scherben“. Im Jahre 1972 erschienen, ist sie so alt wie ich und wir beide befinden uns irgendwie also in unseres Lebensweges Mitte. Vermutlich ist das einfach die Zeit, in der man sich noch einmal Gedanken über alles Mögliche macht.

„Keine Macht für Niemand!“ – Schon der Titelsong ist eine geistige Herausforderung. Allein schon die doppelte Verneinung ist ja so ein Ding – „keine Macht für wen auch immer“ wäre sinnvoll. Oder „Macht für niemanden“ – Aber was hat es nun mit der Aussage auf sich, dass niemand keine Macht haben darf? Lassen sich die Regeln der Mathematik auf die menschliche Rede anwenden? Also: Minus mal minus ergibt plus. Also: „Alle Macht für alle!“

Hannah Arendts Definition der Macht als ein Miteinander-Handeln ist hilfreich, um zu verstehen, was hier gemeint sein könnte. Macht kommt – um es ganz plump zu sagen, von „machen“ und steht der Gewalt, die von „walten = herrschen“ kommt bei Arendt diametral gegenüber. Können wir Menschen also machen, dann brauchen wir keine Gewalt. Aber brauchen wir nicht die Gewalt? Und ist sie nicht allenthalben sichtbar – nicht zuletzt in der Verwaltung? Und ist ein Zusammenleben größerer Menschengruppen ohne zentrierte Gewalt überhaupt möglich? Und dann wiederum: erleben wir nicht ständig, dass menschliche Zusammenarbeit oft gar keine Gewalt braucht, dass wir – wie von Zauberhand geführt – zusammenarbeiten und uns z. B. beim Bau eines Schutzwalles Sandsäcke zuwerfen?

Prof. Dr. Jonas Grutzpalk ist beruflich tätig an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW in Bielefeld. Im Humanistischen Verband engagiert sich der Familienvater daneben als Feiersprecher für die Region Bielefeld/Ostwestfalen-Lippe für Namens-, Hochzeits- und Trauerfeiern. Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in seinem Blog, einem „virtuellen Testgelände für zeitgenössische Gedankensprünge“.

Mir gefiel es, mir diesen einen Satz so und anders immer wieder und immer mehr durch den Kopf drehen zu lassen. Es war eine nutzfreie Überlegung, ein Spaß am Denken an und für sich, ein ungesteuertes Nachdenken über das Zusammenleben der Menschen, das sich an diesem einen Satz immer und immer wieder festmachte.

Und plötzlich dachte ich: Meditierst Du da gerade? Machst Du nicht gerade das, was andere Leute mit Hilfe eines Rosenkranzes tun? Die 99 Namen Allahs durchgehen, um zu überlegen, was jeder dieser Namen für sich und was sie im Zusammenhang bedeuten? Und so stellte sich mir die Frage: meditieren Atheisten? Sollten Atheisten meditieren? Und wenn ja: wie?

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Religiöse Meditation: Das „innere Gebet“

Um zu verstehen, was Meditation überhaupt ist, griff ich (ich war gerade im Urlaub) zur Enciclopedia Luso Brasileira – ebenfalls Jahrgang 1972. Sie definiert Meditation im religiösen Kontext als ein „kontemplatives, inneres Gebet“ und als „fromme Reflexion über natürliche und übernatürliche Realitäten aus theologischer und soteriologischer Perspektive mit dem Ziel, diese Realitäten besser zu kennen und in ihnen zu leben“ (165).

Selbstredend gibt es einen riesigen Schatz an weltweiten Meditationspraktiken, u. a. auch die, die sich dem bewussten Nicht-Denken hingeben. Aber der Einfachheit bleiben wir erst einmal im christlichen Kontext. Und hier müssen eine säkulare Humanistin und ein säkularer Humanist innehalten und überlegen, welche Bestandteile dieser Definition übrig bleiben, wenn man alle Hinweise auf übernatürliche Kräfte aus ihr heraushält. Dann könnte „Meditation“ definiert werden als:

„Reflexion über Realitäten aus humanistischer Perspektive mit der Absicht, sich in diesen Realitäten besser zurechtzufinden.“

Und was passiert mit dem inneren Gebet? Müssen wir ganz darauf verzichten? Ich denke, dass Alain de Botton sehr Recht drin hat, dass es sich für Atheisten anbietet, religiöse Rituale und Formen dann nachzuahmen, wenn sie das menschliche Zusammenleben und das der individuellen Menschen zu verbessern in der Lage sind. Religionen basierten auf jahrhundertealten Erfahrungen über das Leben der Menschen, die man als Atheist nicht leichtfertig in den Wind schlagen sollte, findet Alain de Botton – und ich gebe ihm darin Recht.

Dass es z. B. durchaus eine säkular-humanistische Spiritualität geben kann, die grundlegend auf das Diesseits bezogen ist und sich keinen Illusionen über ein wie auch immer geartetes Jenseits hingibt hat Joachim Kahl schon vor Jahren überzeugend ausgearbeitet. Und auch die Erfahrung des „inneren Gebets“ ist eine, die Alain de Botton auf atheistische Kontexte für übertragbar hält:

„We would do well to meditate daily, rather as the religious do on their God, on the 9.5 trillion kilometres which comprise a single light year, or perhaps on the luminosity of the largest known star in our galaxy, Eta Carinae, 7,500 light years distant, 400 times the size of the sun and 4 million times as bright. (…) Nightly – perhaps after the main news bulletin – we might observe a moment of silence in order to contemplate the 200 to 400 billion stars in our galaxy, the 100 billion galaxies and the 3 septillion stars in the universe. Whatever their value may be to science, the stars are in the end no less valuable to mankind as solutions to our megalomania, self-pity and anxiety.“

Diese Art des Nachdenkens über sich und die weite Welt hat noch etwas Vages und ist nur bedingt mit den meditativen Anstrengungen zu vergleichen, die wir aus den Religionen kennen. Hier kennen sowohl die monotheistischen wie auch die östlichen Religionen eine breite Meditationspraxis, die den Gedanken der Übung in ihren Mittelpunkt stellt. Und wenn Peter Sloterdijk Recht hat und der Mensch als ein übendes Wesen zu verstehen ist, dann kann es sich lohnen, diesen Gedanken noch zu vertiefen, den wir in religiösen Vorbildern finden: die meditativ-sportliche Übung.

Meditation als Training

Hervorstechendes Vorbild ist in dieser Frage Ignacio de Loyola, der legendäre Gründer des Jesuitenordens, der mit seinen Exercitia Spiritulia 1548 ein wahrhaftiges Trainingsprogramm zur Meditation vorgelegt hat, das auch für Religionsskeptiker von großem Gewinn sein kann. Und der Vergleich mit dem Sport hinkt noch nicht einmal, denn Loyola benutz ihn selbst:

„Denn so wie Spazierengehen, Marschieren und Rennen körperliche Übungen sind, gleicherweise nennt man geistliche Übungen jede Art die Seele vorzubereiten und dazu bereit zu machen alle ungeordneten Neigungen von sich zu entfernen, und nachdem sie abgelegt sind, den göttlichen Willen zu suchen und zu finden, in der Ordnung des eigenen Lebens zum Heil der Seele.“

Damit greift Loyola eine alte Tradition des Vergleichs von geistigem und körperlichem Athletismus zurück, den das Christentum seit den Paulusbriefen kennt:

„Jeder Wettkämpfer lebt aber völlig enthaltsam; jene tun dies, um einen vergänglichen, wir aber, um einen unvergänglichen Siegeskranz zu gewinnen“ (1. Korinther 9,25).

Am Beispiel von Paulus Trainingsmetapher zeigt sich, dass Religiosität als eine Art Fitnesszustand verstanden werden kann, der durch ein spezielles Trainingsprogramm erreicht werden kann. Die Nutzung von Sportmetaphern besonders in den paulinischen Texten führte dazu, dass in den orthodoxen Kirchen nach wie vor der Athlet (ἀθλητής) als Sinnbild für den guten Christen gilt und dass sich heute hinter „Athlon Religious Media“ eine kreationistische Gruppe verbirgt, die sich fleißig darin trainiert, wissenschaftliche Erkenntnis insbesondere im Bereich Evolution für unglaubwürdig zu halten.

Glaubensfitness wird man von säkularen Humanisten nicht erwarten dürfen, aber an einer Meditationsfitness braucht es m. E. deswegen nicht zu fehlen. Auch wir können uns Gedanken machen, die über die reine Akkumulation von Wissen weit hinausgehen. Auch wir können „geistige Übungen“ durchführen – wobei wir die strenge Trennung von Körper und Geist, die Religionen häufig anempfehlen, nicht mitzugehen brauchen.

Wenn wir das Trainingsprogramm des Igacio de Loyola aus humanistischer Sicht einmal ansehen, dann zeigt sich, dass es vier Trainingsstufen vorsieht:

  1. Meditation über den Menschen: Für Loyola heißt das „Der Mensch ist geschaffen dazu hin, Gott Unseren Herrn zu loben, Ihm Erfurcht zu erweisen und zu dienen, und damit seine Seele zu retten.“
  2. Meditation über die Nachfolge Christi: Loyola fordert hier die Phantasie seiner Trainingspartner heraus: „Erste Vorübung ist der Aufbau des Schauplatzes: das ist hier: mit der Schau der Einbldungskraft die Synagogen, Städte und Burgen sehen, die Christus unser Herr predigend durchzog.
  3. Meditation über das Leiden Christi: Hier verlangt Loyola u. a., sich darüber Gedanken zu machen, „wie sich die Gottheit verbirgt, wie sie nämlich ihre Feinde vernichten könnte und es doch nicht tut, und wie sie es zulässt, dass die Heiligste Menschheit so überaus grausam leidet.“
  4. Meditation über Jesu Auferstehung und Liebe: Beide werden als enorme Erleichterung wahrgenommen so wie „im Frühling und Sommer die erfirschende Kühle, im Winter Sonnenschein oder Wärme des Feuers“.

Begleitet werden diese vierwöchigen Übungen mit einem Ernährungsplan, der an die jeweiligen Umstände der Meditation angepasst ist.

Säkular-humanistische Exerzitien

Aus humanistischer Sicht versetzt ein solcher spiritueller Trainingsplan in Erstaunen  – vielleicht sogar in Bewunderung. Wochenlange Retreats kennt man in der zeitgenössischen Welt eher aus der Welt des Yoga, das gerade eine interessante Debatte darüber erfährt, inwieweit es religiöse Botschaften transportiert oder nicht. Wir müssen diesen Streit gar nicht mitmachen, sondern können uns ganz und gar der Frage hingeben, wie humanistische Exerzitien nach dem Vorbild Loyolas aussehen könnten.

Vermutlich ist die Antwort sehr individuell: Da mag ein Waldspaziergang für einige zu einer Meditation über das Leben uns das Werden und Vergehen werden, während andere beim Blick in ein Lagerfeuer über Licht und Dunkelheit, über den Urknall oder über die aktuellen Waldbrände nachdenkt. Wer nachts seine schlafenden Kinder oder seinen Partner streichelt, sinnt vielleicht darüber nach, wie es wohl gerade jemandem geht, der sich in einem Flüchtlingslager um seine Familie kümmern muss. Und wer in einem Konzert die Musik auf sich wirken lässt, wird vielleicht die Auflösung einer Disharmonie in einem harmonischen Akkord als Glück empfinden.

Aber wenn wir den Gedanken jetzt einmal durchspielen, wie humanistische Exerzitien aussehen könnten, die sich an denen des Loyola orientieren, dann ließe sich sagen, dass diese Vierteilung des Programmes auch im humanistischen Kontext möglich ist. Die vier Meditationspunkte könnten dann z. B. sein:

  1. Was ist der Mensch?
  2. Wer ist warum ein Vorbild?
  3. Welches Leid beobachten wir?
  4. Was ist unsere Hoffnung?

Die Frage nach dem Menschen ist die nach seiner Anthropologie. Dazu lässt sich viel sagen, z. B. dass der Mensch ein Zoon politikon ist, das von seinen Hirnstrukturen her auf eine Gruppengröße auf ca. 150 Personen eingestellt ist. Eine umfangreichere Zahl an gleichzeitigen Mitmenschen gewöhnt sich der Homo Sapiens seit ca. 8000 Jahren sukzessive an, steht aber angesichts so vieler Zeitgenossen unter dauerndem Vergleichsstress und Neid ist sein fortwährender Begleiter.

Die Frage nach Vorbildern lässt sich mindestens in zweifacher Hinsicht stellen: Angesichts der durchaus überzeugenden Überlegungen zum Menschen als einem nachahmenden Wesen könnten wir uns fragen, wen wir eigentlich – bewusst oder unbewusst – nachahmen, woher die Impulse zur Nachahmung kommen und wie wir uns z. B. aus diesen Zusammenhängen befreien können. Oder wir fragen uns nach Menschen, die wir bewundern können, weil sie Vorbilder an Rechtschaffenheit, Bescheidenheit, Fokussiertheit, Ehrlichkeit und Menschlichkeit sind.

Die Frage nach dem Leid ist eine politische Frage und wird sich vermutlich je nach politischer Einstellung anders beantworten lassen. Nur eines dürfte wohl unstrittig sein: dass es, wie man so schön im Englischen sagt „no such thing as a free lunch“ gibt. Mit anderen Worten: Für den Reichtum der einen müssen andere arbeiten. Das kann bedeuten, dass Menschen absurde Arbeitstage für Hungerlohn auf sich nehmen müssen. Oder es kann bedeuten, dass der Arbeitsmarkt sie verdrängt, weil sie „nutzlos“ geworden sind. In jedem Fall dürfte eine humanistische Meditation über Leid keine Schwierigkeiten finden ,auf Material zu stoßen.

Erlösung ist für Humanistinnen und Humanisten immer nur innenweltliche Erlösung – eine allgemeine Erlösungsbedürftigkeit des Menschen sehen wir nicht. Aber wir kennen natürlich das Gefühl der Erlösung, das Loyola beschreibt: „im Frühling und Sommer die erfrischende Kühle, im Winter Sonnenschein oder Wärme des Feuers“. Ein recht erlösender Gedanke könnte sein, dass wir Menschen immer wieder statistische Aussagen über unser Schicksal Lügen gestraft haben. Wir sind eine Art, die durch Übung dazu in der Lage ist, mehr zu können als die Generation davor. Dass vor 4000 Jahre die Schrift erfunden wurde ist schon ein ziemliches Wunder – dass 2015 nur zehn Prozent der 15 bis 24-jährigen Menschen weltweit Analphabeten sind, ist ein Wunder noch ganz anderer Dimension. Solche Beispiele lassen hoffen, dass wir Menschen durchaus in der Lage sind, das Raumschiff Erde noch unter Kontrolle zu kriegen und es nicht gegen den erstbesten intergalaktischen Baum zu rammen.

Der Soziologe Hartmut Rosa schreibt: „Eine bessere Welt ist möglich, und sie lässt sich daran erkennen, dass ihr zentraler Maßstab nicht mehr das Beherrschen und Verfügen ist, sondern das Hören und Antworten.“ Vielleicht kann das der Gegenstand humanistischer Meditation sein. Genau hinhören, die Welt zu erkennen suchen, wie sie ist, ohne in den Pessimismus derer zu verfallen, die sich so gerne „Realisten“ nennen. Humanistische Meditation könnte die Technik sein, über die Conditio Humana zu meditieren mit dem Ziel, eine bessere Welt zu denken.

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