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Gläserne Wände - Bericht zur Benachteiligung nichtreligiöser Menschen in Deutschland

Essay & Diskurs

Vom aufrechten Gang gottloser Menschen

Warum sollten wir anderen entgegenbrüllen, dass sie falsch liegen? Besser ist es doch, selbst richtig zu liegen, sagt Jonas Grutzpalk und meint: Religionskritik bringt uns nicht weiter.

Religionskritik bringt uns nicht weiter, meint Jonas Grutzpalk. Er stellt den als prononciert „Gottlose“ oder „Atheisten“ aktiven Bürgerinnen und Bürgern die Frage: Warum sollten wir anderen entgegenbrüllen, dass sie falsch liegen? Er sagt: „Besser ist es doch, selbst richtig zu liegen. Oder es zumindest zu versuchen.“

Von Jonas Grutzpalk, Bielefeld, am heutigen World Humanist Day

Dem aufrechten Gang wird  allerlei Böses nachgesagt: insbesondere für Rückenschmerzen wird er verantwortlich gemacht. Gleichzeitig sieht man in ihm das Merkmal schlechthin des Menschseins und der evolutionären Menschwerdung. Generell steht deswegen der aufrechte Gang also gut da und wir ermuntern uns gegenseitig, „sich mal gerade“ zu machen, „die Brust rauszustrecken“ oder den Blick zu heben. Wir finden, dass Aufrichtigkeit ein Wert ist und würden lieber aufrecht sterben als auf Knien leben – jedenfalls, wenn wir Emiliano Zapata gut finden.

Prof. Dr. Jonas Grutzpalk ist beruflich tätig an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW in Bielefeld. Daneben engagiert sich der Familienvater daneben als Feiersprecher für die Region Bielefeld/Ostwestfalen-Lippe für Namens-, Hochzeits- und Trauerfeiern. Website: grtzplk.de

Foto: Gregg Tavares / Wikimedia Commons / CC BY-SA

Nun ist interessant, dass auch Religionen das Aufrechte (und somit auch die Aufrichtigkeit) in ihre Theologien integriert haben – sie machen es zum zentralen Wert ihrer Lehren. So spricht Martin Luther in seiner Exegese des Römerbriefes vom „homo incurvatus in se“. Gemeint ist damit, dass der Mensch, der sich mit seiner Kreatürlichkeit befasst „in sich selbst hineingedreht“ gedacht werden muss. Ein wunderschönes Bild! – es hat starke Bezüge zu dem, was wir heute „Nabelschau“ nennen.

Wer Nabelschau betreibt, beschäftigt sich mit sich selbst und hat – so Luther – keinen Blick mehr für das Göttliche. Glaube ist so gesehen die Kraft, die einen Menschen aufrichtet, seinen Blick vom eigenen Bauchnabel abwendet und zur göttlichen Licht- und Lebensquelle ausrichtet. Aufrecht – und somit aufrichtig – kann somit nur der gläubige Mensch sein. Diese Kraft des Glaubens, so ist Luther überzeugt, ist nun ein Geschenk des Heiliges Geistes – und ein Mangel an Glaube kann somit durchaus auch als ein Moment der Ungnade gelesen werden.

Ein ähnlicher Gedanke geht durch die Sure 45 des Koran. Hier wird Gott als eigentliche Wissensquelle besprochen. Wer auf diese Wissensquelle verzichtet, wer „Gehör und Herz versiegelt“ und über sein Gesicht „eine Hülle gelegt“ hat, der kann Gott nicht erkennen und somit auch nicht rechtgeleitet sein. Kafr (Ungläubiger) ist der, der die Erkenntnis vor sich selbst verschließt. Auch hier ist der Fehler, der Gottlosen Menschen unterstellt wird, darin zu sehen, dass sie den Tatsachen nicht ins Auge schauen, dass sie es vorziehen, die Wirklichkeit Gottes zu verdecken und vor sich selbst zu verbergen. Auch hier ist es an der göttlichen Gnade, den Menschen Zugang zum göttlichen Wissen zu verwehren oder zu gestatten.

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Glaubensfreie sind in dieser Perspektive also zwangsläufig weder aufrechte noch aufrichtige Menschen. Sie können sich nur mit sich selbst beschäftigen, sind deswegen für externe Wahrheiten unzugänglich und ihnen ist ab einem bestimmten Punkt nicht mehr zu helfen.

Diese Kritik trifft mich zugegebenermaßen ziemlich hart. Denn ich gehöre zu den Leuten, die, um hier den Koran zu zitieren, sagen: „Es gibt nur unser diesseitiges Leben. Wir sterben und leben und nur die Zeit lässt uns zugrunde gehen.“ Worauf der Koran antwortet: „Sie haben aber kein Wissen darüber und stellen nur Mutmaßungen an.“ Und Mutmaßungen sind nun mal kein Wissen.

Wie stelle ich es jetzt an, meine eigene Aufrichtigkeit (oder zumindest mein Bemühen darum) jemandem unter Beweis zu stellen, der mir diese Aufrichtigkeit a priori streitig macht, der sagt, dass ich ohne Glauben weder aufrecht noch aufrichtig sein kann? (Erst neulich wurde diese Diskussion ja um den Begriff der „kulturellen Unbehaustheit“ erweitert.)

Liebe kulturell Unbehauste – das ist euer Problem! Nichtgetaufte und Ausgetretene leisten ebenso ihre Beiträge für die staatlichen Haushalte, sind ebenso Wählerinnen und Wähler, sorgen sich ebenso um ihre Familien und um unsere Gesellschaft und die Welt wie Kirchenmitglieder. Doch nicht nur für die Staatsministerin für Kultur Monika Grütters sind sie trotzdem Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse. Lesen Sie hier eine Analyse der Ursachen.

Ein alter Zugang dazu wäre, den Gläubigen ihre Wissensquellen madig zu machen, die Unglaubwürdigkeit von religiösen Texten zu thematisieren und insgesamt von „Priestertrug“ etc. zu sprechen. Erfahrungsgemäß erreicht man damit religiöse Menschen nicht. Warum auch? Sie sehen im aggressiven Gebaren der Atheisten einen Beweis für die Gottesferne der hier Sprechenden. Religionskritik in allen Ehren: Sie bringt uns hier sicherlich kaum weiter.

Atheistische Aktivisten in Bayern. Foto: © picture alliance/Sueddeutsche Zeitung

Ein neuerer Ansatz ist, Religionsfreiheit als eigenständige Weltanschauung mit den religiösen Weltsichten konkurrieren zu lassen. Das gelingt insbesondere dann, wenn es gelingt, z. B. in Humanistischen Verbänden ein eigenes Gemeinschaftsleben aufzubauen, Menschen zusammenzuführen, gemeinsam den Horizont zu erweitern und sich in Zeremonien den Wendepunkten des Lebens zu stellen. Warum sollten wir den anderen entgegenbrüllen, dass sie falsch liegen? Besser ist es doch, selbst richtig zu liegen. Oder es zumindest zu versuchen.

In diesem Geist hat A.C. Grayling in seiner „säkularen Bibel“ folgende zehn Gebote zusammengestellt, an denen sich auch ein nichtreligiöser Mensch messen lassen kann:

  1. Habe den Mut, zu lieben (Love well)
  2. Sieh das Gute in allen Dingen (Seek the good in all things)
  3. Füge anderen keinen Schaden zu (Harm no others)
  4. Denke selbst (Think for yourself)
  5. Übernimm Verantwortung (Take responsibility)
  6. Respektiere die Natur (Respect nature)
  7. Gib Dein Bestes (Do your utmost)
  8. Informiere Dich (Be informed)
  9. Sei freundlich (Be kind)
  10. Sei mutig (Be courageous).

Vielleicht typisch für die eher skeptische Grundhaltung, mit der säkulare Menschen nicht nur an die Welt, sondern auch an sich selbst herantreten schließt er diesen Kanon mit „at least, sincerely try“ – „versuch es jedenfalls“ – ab.

Unrecht haben die religiösen Thesen zum aufrechten Menschen ja nicht. Ein aufrechtes und aufrichtiges Leben braucht in der Tat ein Abwenden des Blickes vom eigenen Bauchnabel. Es braucht einen mutigen Blick in die Welt, ein tapferes Überblicken des Tellerrandes und eine anständige Auseinandersetzung mit dem Unausweichlichen. Der aufrechte Gang ist m. E. aber im ehrlichen Versuch zu sehen, ein ethisch anständiges Leben zu führen, sich dem Neuen und dem dazugehörenden Lernen zu stellen und sich mit Situationen (z. B. zeremoniell) auseinanderzusetzen, die zum Leben nun einmal dazugehören. Den Krückstock der eifrigen Religionskritik braucht der aufrechte Gang der Humanistinnen und Humanisten nicht. At least, sincerely try!

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