Aus aller Welt
„Nichtreligion wird häufig auf Unglaube reduziert“
Der Religionsethnologe Stefan Binder hat im Rahmen seiner Promotion atheistische Bewegungen in Indien untersucht. Im Interview über seine Studie erklärt er, was mit deren Titel „Total Atheism“ gemeint ist und warum dies im Verständnis der Aktivisten vor Ort unbedingt auch eine praktisch-humanistische Lebensform umfasst.
Der Religionsethnologe Stefan Binder hat im Rahmen seiner Promotion atheistische Bewegungen in Indien untersucht. Im Interview über seine preisgekrönte Studie erklärt er, was mit deren Titel „Total Atheism“ gemeint ist und warum dies im Verständnis der Aktivisten vor Ort unbedingt auch eine praktisch-humanistische Lebensform umfasst.
Stefan Binder ist für seine Dissertation mit dem Titel „Total Atheism: Making Mental Revolution in South India“ mit dem Gerardus-van-der-Leeuw-Preis 2018 von der Niederländischen Gesellschaft für Religionswissenschaft ausgezeichnet worden. Seine Kombination aus ethnografischem Material und theoretischer Diskussion bezeichnete die Jury als „bedeutenden Beitrag zur Religionswissenschaft als Disziplin“.
Binder wurde 2017 an der Universität Utrecht promoviert und er ist zurzeit Research Fellow am Centre for Modern Indian Studies (CeMIS) der Universität Göttingen.
Warum war für Sie gerade die Untersuchung nicht-religiöser Gruppen in der indischen Gesellschaft und deren Lebens eine interessante Herausforderung?
Dr. Stefan Binder Das Thema „Atheismus in Indien“ wird häufig als geradezu paradox wahrgenommen, denn viele Menschen denken wohl vor allem an Yoga, hinduistische Tempel, bunte Rituale, religiöse Vielfalt, Mystik etc. wenn sie „Indien“ hören. Dieses Stereotyp vom „spirituellen Orient“ hat eine lange Geschichte und ist eng mit der Kolonialgeschichte und der in ihrem Rahmen entstandenen wissenschaftlichen Forschung zu Südasien verknüpft. Rassistische und orientalistische Vorstellungen haben die Wissenschaft tief geprägt und wirken auch heute noch auf unterschiedliche Weisen fort.
Die besondere Herausforderung meines Projekts lag zum einen darin, dieses orientalistische Stereotyp vom spirituellen Orient, das sich übrigens auch in der zeitgenössischen Kultur- und Geisteswissenschaft hartnäckig hält, zu durchbrechen und aufzuzeigen, dass das sogenannte „Abendland“ oder die „Europäische Aufklärung“ kein Monopol auf Säkularität oder Irreligiosität beanspruchen können. Zum anderen aber – und das war etwas schwieriger – ging es darum zu zeigen, dass diese Art Vorurteile große Macht und Plausibilität besitzen, und zwar auch vor Ort in Indien. Ziel meiner Forschung war daher zu zeigen, wie eine nicht-religiöse Minderheit damit umgeht, von ihrer Umgebung zumeist als „fremd“, „verwestlicht“, „nicht authentisch“ oder schlicht „anders“ wahrgenommen zu werden.
Den Titel Ihrer Arbeit haben Sie mit dem Begriff „Total Atheism“ versehen. Was bedeutet er?
Der Begriff „Total Atheism“ spricht einerseits ein Ideal an, an dem sich Atheistinnen und Atheisten in Indien orientieren, und andererseits bezieht er sich auf die aktuelle Forschungslage zu Säkularität innerhalb der Kultur- und Religionswissenschaft. Während sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Religion in den letzten Jahren weniger auf Glaubensfragen und vermehrt auf materielle, verkörperte, praktische oder ästhetische Aspekte gelebter Religiosität konzentriert, wird Nichtreligion und gerade Atheismus häufig noch auf eine philosophische oder intellektuelle Haltung und also auf Unglaube reduziert. Bei dem Begriff „Total Atheism“ ging es mir daher darum aufzuzeigen, wie Atheismus sich jenseits von Theorien über die (Nicht-)Existenz von Göttern auch als soziales und kulturelles Phänomen konstituiert und beschreibbare Formen von Ästhetik, emotionalen Haltungen und zwischenmenschlichen Beziehungen ausbildet.
Meine atheistischen Gesprächspartnerinnen und -partner in Indien artikulieren dies auch sehr deutlich, obwohl sie das nicht in der gleichen Weise theoretisieren wie ich das als Kulturanthropologe tue. Sie betonen immer wieder, dass Atheismus für sie mehr sei als Unglaube oder Religionskritik und dass es ihnen letztendlich um eine praktische, gerechte und rationale Lebensform („way of life“) gehe, die alle Lebensbereiche betrifft – und daher „total“ sein muss. Atheismus ist für sie also auch eine Form von gesellschaftlichem Aktivismus.
Wie viel Zeit haben Sie für Ihre Untersuchungen vor Ort verbracht?
Wie das in der Kulturanthropologie üblich ist habe ich insgesamt etwa 13 Monate in Südindien verbracht und mit verschiedenen Methoden meine Daten gesammelt. Das beinhaltet „teilnehmende Beobachtung“ bei atheistischen Aktivitäten, Interviews, informelle Gespräche, die Auswertung von Literatur in Englisch und der lokalen Landessprache Telugu und natürlich den Versuch, möglichst viel vom Alltag meiner atheistischen Gesprächspartner zu teilen. Ich habe jeweils sechs Monate in zwei atheistischen Familien gewohnt, die mich sehr herzlich bei sich aufgenommen haben. Obwohl ich letztendlich natürlich der Autor des Textes bleibe, habe ich versucht, meine Gegenüber als Gesprächspartnerinnen und -partner und nicht nur als Informanten oder gar Forschungs-„Subjekte“ zu begreifen.
Was können Sie über das Alter und die Größe der von Ihnen beobachteten „atheistischen Bewegung“ und deren Aktivitäten auf dem indischen Subkontinent sagen?
Die Zahl der Menschen, die sich öffentlich als Atheistinnen oder säkulare Aktivisten bekennen ist sehr überschaubar, was aber nicht unbedingt etwas aussagt über weniger offensichtliche Formen von Säkularität wie etwa religiöses Desinteresse oder nur nominelle Zugehörigkeit zu bestimmten religiösen Gruppen. Allgemein kann man sagen, dass es sich zum Großteil um ältere Männer handelt, von denen viele der Mittelschicht angehören. Indien ist ja ein sehr großes und diverses Land, und so gibt es auch in den verschiedenen Bundesstaaten große Unterschiede bei den organisierten atheistischen Bewegungen. Die mit Sicherheit typischsten Aktivitäten sind zum einen öffentliche Konferenzen und Tagungen, bei denen atheistische Philosophie und Religionskritik vorgetragen wird, und zum anderen sogenannte „Magic Shows.“ Bei solchen Shows, die häufig in ländlichen Gegenden stattfinden, wird versucht, vermeintliche religiöse Wunder und übernatürliche Fähigkeiten als bloße Zaubertricks zu entlarven.
Daneben gilt auch die Durchführung von nichtreligiösen Hochzeitsfeiern als wichtige atheistische Praxis, genauso wie alltägliche Formen der Nichtbeachtung von Kastengrenzen – wie beispielsweise den Brechen von Speiseregeln. Die direkte Geschichte der verschiedenen atheistischen Gruppen kann meist in die Kolonialzeit und vor allem ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts zurückverfolgt werden. Die Bewegung selbst jedoch besteht darauf, dass ihre Geschichte bis weit in die Früh- und Vorgeschichte Südasiens zurückreicht. Ein Großteil meiner Arbeit dreht sich darum, wie diese Geschichte einer ursprünglichen aber letztlich verlorengegangenen atheistischen Zivilisation in Indien erzählt und plausibel gemacht wird und das Ideal eines totalen Atheismus prägt.
Und können Sie kurz etwas das Umfeld erklären, in dem sich die Bewegung in Indien befindet?
Es ist hier schwer generelle Aussagen zu treffen. Man kann ganz klar sagen, dass sowohl in der Binnen- wie in der Fremdwahrnehmung die Auffassung besteht, dass Atheistinnen und Atheisten eine Minderheit sind und in deutlichem Widerspruch zum Mainstream stehen. Tatsächlich werden sie manchmal als suspekt betrachtet, und ich habe viele Geschichten gehört, die davon erzählen, dass Menschen wegen ihres Atheismus gesellschaftlich oder familiär ausgegrenzt oder benachteiligt und manchmal sogar physisch attackiert wurden. Fairerweise muss man aber auch sagen, dass sich Atheismus hier durchaus auch als sehr aggressive oder beleidigende Religionskritik äußern kann. Andererseits wurde mir häufig berichtet, dass man als Atheistin oder Atheist durchaus sehr erfolgreich sein kann, weil mutiges öffentliches Einstehen für Prinzipien und soziale Gerechtigkeit trotz Religionskritik mit sozialer Anerkennung belohnt wird. Und dann gibt es auch andere sogenannte „progressive“ Bewegungen wie die kommunistische, feministische oder die Anti-Kasten-Bewegung, die viele Überzeugungen und teils auch ihre Geschichte mit der atheistischen Bewegung teilen.
Was sind also die wichtigsten Ergebnisse Ihrer Studie?
Einer der wichtigsten Punkte ist, dass Atheismus nicht nur fester Bestandteil der indischen Gesellschaft ist und wohl immer schon war, sondern auch, dass seine heutige Form fest in der lokalen Kultur und Tradition verwurzelt ist. Gleichzeitig sind sich Atheistinnen und Atheisten aber auch sehr bewusst, dass sie „anders“ sind. Meine Arbeit beschreibt, wie sie auf kontinuierliche und sehr kreative Weise ihren Anspruch auf Dazugehören und Anderssein austarieren, indem sie manche Traditionen übernehmen, andere verändern oder uminterpretieren und wieder andere komplett ablehnen. Ich habe für diesen Balanceakt den Begriff „Exzentrizität“ entwickelt, weil die atheistische Bewegung behauptet, dass ihre Prinzipien, ihre Philosophie, und ihre Lebensform das eigentliche Zentrum der indischen Kultur und Zivilisation sind (bzw. waren) und gleichzeitig anerkennt, und auch ein bisschen stolz darauf ist, dass sie eben nicht das Zentrum des Mainstreams sind – aus dessen Perspektive ist dieser Anspruch verschroben und das Zentrum ist verschoben, daher im buchstäblichen und figurativen Sinne ex-zentrisch.
Und ist die Bewegung tatsächlich eine, im reduzierenden Sinne des Adjektivs, „atheistische“ oder, unabhängig von den vorgefundenen Selbstbezeichnungen, eher praktisch-humanistische?
Das lässt sich so eigentlich nicht beantworten, weil die Übersetzungen von Atheismus in der Landessprache Telugu und auch in Sanskrit eine andere Begriffsgeschichte haben. Der gängigste Terminus für Atheismus in Telugu, nastikatvam, geht von vornherein über eine reduzierte Bedeutung im Sinne von Unglaube an Gott beziehungsweise einer Ablehnung der Existenz Gottes hinaus. Und die Übersetzungsgeschichte respektive die Angemessenheit dieser Übersetzung wird innerhalb der atheistischen Bewegung durchaus kontrovers diskutiert. Letztendlich aber herrscht eine Art Konsens, dass unabhängig von terminologischen Fragen „wirklicher“ Atheismus eben „totaler“ Atheismus sein sollte, und deswegen immer schon eine praktisch-humanistische Lebensform beinhaltet, zumindest jedoch zu einer solchen hinführt.
Wodurch sollte schließlich eine nicht-eurozentristische Betrachtung von Säkularität, Glauben und Nicht-Glauben gekennzeichnet sein?
Ein wichtiges Argument meiner Arbeit ist, dass Atheismus gleichzeitig ein globaler und lokaler Diskurs ist, das heißt man muss betrachten wie gewisse Ideen, Vorstellungen und Praktiken global zirkulieren und wie sie übersetzt, „angewandt“ und dadurch auch verändert werden. Dazugehört aber auch die Frage, welche lokalen kulturellen, intellektuellen, sozialgeschichtlichen Bedingungen solche Übersetzungsleistungen und praktische Aneignungen überhaupt ermöglichen. Säkularität, Unglauben oder Atheismus sind eben historisch, sozial und kulturell bedingte und daher veränderbare Phänomene, die nicht einfach abstrakt als Theorie oder Philosophie existieren, sondern von Menschen „gelebt“ werden.
Mein Anliegen war es, zu zeigen, dass man gelebten Atheismus nicht verstehen kann, wenn man nur danach fragt, wie bestimmte vermeintlich „europäische“ Begriffe und Vorstellungen während der Kolonialzeit nach Indien kamen und dann übersetzt wurden. Vor allem aus Sicht indischer Atheistinnen und Atheisten muss man auch in die umgekehrte Richtung fragen: Wie wurde eigentlich ein Begriff wie nastikatvam und die mit ihm verbundene und von ihm vorausgesetzte Ideen-, Kultur- und Sozialgeschichte ins Englische oder andere europäische Sprachen übersetzt? Natürlich findet man in vorkolonialen Quellen keine absoluten Entsprechungen dafür, was man in Europa als „Atheismus“ bezeichnet hatte, schlicht weil niemand europäische Sprachen verwendete. Es gab aber andere Begriffe, die später aus bestimmten Gründen für übersetzbar gehalten wurden. Eine nicht-eurozentrische Betrachtung von Säkularität nimmt diese Begriffe sowie ihr Fortwirken in der Gegenwart ernst und akzeptiert sie als ebenso relevant für unser Verständnis von Unglaube und Atheismus wie das, was wir aus der europäischen Geschichte kennen.