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Aus aller Welt

Widerstand leisten!

Der nigerianische Literaturnobelpreisträger und UN-Sonderbotschafter Wole Soyinka sagt, wir hätten die Pflicht, uns den aufgeklärten Stimmen in der Debatte über Reformen der islamischen Glaubensverständnisse anzuschließen.

Der nigerianische Literaturnobelpreisträger und UN-Sonderbotschafter Wole Soyinka sagt, wir hätten die Pflicht, uns den aufgeklärten Stimmen in der Debatte über Reformen der islamischen Glaubensverständnisse anzuschließen.

Aus dem Englischen übersetzt von Arik Platzek.

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Das Wüten der islamistischen Terrorsekte Boko Haram in Afrika war nach der Entführung von mehr als 200 Mädchen im Jahr 2014 auch auf internationaler Ebene zum Thema geworden. Wole Soyinka sieht auf das nun schon jahrelange, mörderische Treiben in seinem Heimatland mit der gleichen Abscheu wie die meisten Beobachter. „Überzeugte Vertreter der Säkularisierung müssen akzeptieren, dass ihrer Menschlichkeit hier der Krieg erklärt worden ist und dieser Bedrohung genauso begegnen“, sagt Soyinka.

Was hat Sie dazu gebracht, sich für den Humanismus zu entscheiden?

Wole Soyinka: Ein gesundes Misstrauen gegenüber dem Absoluten, vor allem gegenüber dem ohne eine Verankerung in der Wirklichkeit.

Ihr Humanismus-Konzept entspringt dem Weltbild der Yoruba. Meinen Sie nicht, dass das die Universalität humanistischer Werte untergräbt?

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Entspringt denn der Humanismus – sagen wir mal – einem germanischen Weltbild? Wir ziehen das Universelle stets mit einer selektiven Wahrnehmung aus dem Besonderen. Dein Christentum? Dein Islam? Dein Buddhismus? Nun denn, mein Orisha! Auch der sokratische Agnostizismus und Atheismus leitet sich aus einem bestimmten gesellschaftlichen Bewusstsein ab.

Viele Menschen denken wegen Ihrer Bezugnahmen auf die Yoruba-Götterwelt, Sie seien ein theistischer Humanist. Wie reagieren Sie darauf?

Es sind nicht Etiketten, die mich bewegen. Weil sie häufig interne Kämpfe um Nomenklatura austragen, verlieren die Puristen an Boden und werden schließlich vom gemeinsamen Feind gefressen.

Im subsaharischen Afrika gibt es eine zunehmende Bedrohung durch religiösen Fundamentalismus und Gewalt. Wie kann die Hoffnung auf eine Säkularisierung in dieser Region aussehen?

Religiöser Fundamentalismus ist die gefährlichste Form von Fundamentalismus, weil er sich nicht der Vernunft und Korrektur unterwirft. Manche Menschen, die damit richtig benannt werden, beurteilen gesellschaftlichen Pluralismus per se als ultimative Sünde gegenüber Gott. Kaum hatte die muslimische Partei in Algerien (Islamische Heilsfront, erste Runde der Parlamentswahlen im Jahr 1991, Anm. d. Red.) in einer säkularen Wahl gewonnen, verkündete sie das Ende der Geschichte. Wahlen wurden generell zum Affront gegen Gottes Willen erklärt.

Also ja, die Säkularisierung befindet sich im Belagerungszustand. Gesellschaften, die sich dafür entschieden haben, sich durch die Vernunft leiten zu lassen, haben keine andere Wahl als den rationalen Imperativ zu verteidigen. Das ist erneut zu einem Kampf um Leben und Tod geworden, weil die Waffen der Einschüchterung, Beherrschung und Auslöschung so einfach zugänglich geworden sind. Die Einsicht, dass es bei Religion an sich letztlich um Macht und Dominanz geht, ist verspätet im Denken vieler afrikanischer Nationen angekommen, doch sie lernen, sie lernen…

Wole Soyinka (82) war Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft und Kreatives Schreiben und lehrte an mehreren afrikanischen und US-amerikanischen Universitäten. Er gilt als unbestechlicher Kritiker und Fürsprecher Afrikas und übernahm in der politischen Geschichte seines Heimatlandes mehrfach eine aktive Rolle. Er kritisierte deutlich die Regierungen seines Landes und diverser Diktaturen weltweit.
1986 erhielt er den Literaturnobelpreis, als erster Vertreter der afrikanischen Literatur. In der Begründung für die Verleihung des Preises hieß es, Soyinka gestalte „in breiter kultureller Perspektive und mit poetischen Obertönen das Drama des menschlichen Seins“. Er ist Autor zahlreicher Romane, Theaterstücke, Dramen und Hörspiele. 1994 wurde er zum UNESCO-Sonderbotschafter ernannt. Für sein vielfältiges Schaffen erhielt er vielfache weitere Auszeichnungen, darunter 1993 die Ehrendoktorwürde der Universität Bayreuth sowie 2008 den Bayreuther Markgräfin-Wilhelmine-Preis für ein engagiertes Eintreten für Humanität und Toleranz.

Was für eine Lösung kann es gegen die Angriffe von Boko Haram und der jihaddistischen Kampagne in Nigeria geben?

Widerstand leisten! Ich meine, kämpfen. Gebt die defensive Haltung auf und tragt diesen Kampf zu den Nichtgläubigen. Überzeugte Vertreter der Säkularisierung müssen akzeptieren, dass ihrer Menschlichkeit hier der Krieg erklärt worden ist und dieser Bedrohung genauso begegnen.

Für den Anfang muss das säkulare Lager damit aufhören, Sprache (und Haltung) „Politischer Korrektheit“ zu übernehmen. Es muss beginnen, die Dinge beim Namen zu nennen und strategische Allianzen gegen die ansteigende Flut gewalttätiger Intoleranz zu bilden. Und ja, wenn es notwendig wird, auch Taktiken der Fundamentalisten übernehmen, jedoch ohne fundamentalistisch zu werden. Mit Boko Haram sehen wir uns einer umfassenden Heimsuchung gegenüber. In einfacher Sprache handelt es sich um Gehirnwäsche, oft von Beginn der Kindheit an.

Wie etwa im Fall der Almajiri (Koranschüler, Anm. d. Red), die zu den Füßen ihrer Mullahs sitzen und die Doktrin des Hasses aufsaugen, welche sich gegen alle mit Ausnahme ihres familiären Umfeldes richtet. Ich bin vielen solcher Produkte aus allen Richtungen des religiösen Spektrums in engen Stadtvierteln begegnet, aber meistens islamischen. Ich habe mit ihnen gesprochen und ihnen dabei zugehört, wie sie wiedergekäut haben, was sie für unantastbare Wahrheiten halten. Der undurchsichtige Blick und das herablassende Lächeln ihrer „Intellektuellen“, das sie an die „Unerleuchteten“ richten, repräsentieren eine schreckliche Fehlentwicklung, der wir uns stellen müssen. Das gleiche Phänomen ist auch bei den „wiedergeborenen Christen“ zu erkennen. Ich bin andauernd erstaunt von der Kapazität des menschlichen Geistes, nicht-überprüfbare Wahrheiten anzunehmen, beizubehalten und zu verteidigen. Sie kommen aus jeder Schicht der Gesellschaft, jeder Klasse und in jedem gesellschaftlichen Status vor. Einige von Alice Lakwenas Lord’s Army sind Universitätsprofessoren, darunter Wissenschaftler. Also, die erste Stufe besteht darin, zu akzeptieren, dass das Phänomen der Gehirnwäsche Realität ist.

Boko Haram (der Name bedeutet in etwa „Bücher sind Sünde“ bzw. „Westliche Bildung verboten“) ist eine im Zuge von Islamisierungstendenzen in Nigeria erstmals 2004 auffällig gewordene terroristische Gruppierung, die die Einführung der Scharia in Nigeria und das Verbot „westlicher“ Bildung zum Ziel hat. Sie ist mittlerweile für hunderte Anschläge und Attentate sowie tausende Tote verantwortlich. Am 17. Mai 2014 haben Frankreich und fünf afrikanische Länder auf einem Krisengipfel einen Aktionsplan beschlossen, mit dem gegen die Gruppierung vorgegangen werden soll. Zu dem Plan gehören ein verstärkter Informationsaustausch der Geheimdienste, die Koordination afrikanischer Militärtruppen und bessere Kontrolle der Grenzen.
Lord‘s Army „Widerstandsarmee des Herrn“ ist eine vom ugandischen Kriegsverbrecher Joseph Kony gegründete paramilitärische Gruppierung, die für die Errichtung eines Gottesstaates kämpft, der auf den christlichen Zehn Geboten basieren soll.

Jedoch sollten wir auch erkennen, dass soziale Probleme ebenfalls Realität sind und sie ansprechen. Denn diese bilden einen fruchtbaren Boden für einfache Rekrutierung: Arbeitslosigkeit, Marginalisierung, obszöne ökonomische Ungleichheiten mit einem offensiv zur Schau gestellten Wohlstand bei einer parasitären Minderheit. Gleichzeitig sollten wir damit aufhören, vorzugeben, dass Ausbrüche wie Boko Haram nur eine Reaktion auf Armut, Marginalisierung und dergleichen sind. Gewährleiste soziale Dienste, Arbeitsplätze, eliminiere Korruption usw. – und dann löst Boko Haram sich auf? Vielleicht sollten die Menschen, die mit derart reduzierten Listen hausieren gehen, mal dazu gebracht werden, sich einige Videoaufnahmen von Verhören gefangener Boko-Haram-Mitglieder anzusehen. Sie sollten die Antworten auf Umfragen innerhalb der europäischen Nationen studieren, die unter dem eingewanderten Teil der Bevölkerung zur Frage „Würden Sie für Ihre Religion töten?“ durchgeführt worden sind. Die Mehrheit antwortete mit Ja.

Also was ist die Antwort auf Boko Haram? Ein mehrfacher Ansatz:

  • der Rekrutierung der Jugend den Nährboden durch eine Politik der ökonomischen Gerechtigkeit entziehen,
  • genaue Beobachtung und Regulierung religiöser Unterweisung in Schulen, einschließlich der Schließung unverbesserlicher Koranschulen,
  • die Einrichtung öffentlicher Institutionen, um die Jugend mit säkularen Alternativen bekannt zu machen – kurz: eine offene und nicht-apologetische Kampagne zur Gegen-Indoktrination,
  • Programme der Erwachsenenbildung auf den gleichen Ebenen, unter Rückgriff auf Musik, Theater, Filme, Malerei und andere Kommunikationsmittel.

Den wütenden Psychopathen, die sich jenseits der Rufe nach Umkehr befinden, sollte man jedoch die Erfüllung ihres größten Wunsches auf den selbstgeschaffenen Schlachtfeldern gewähren: das Märtyrertum.

Im subsaharischen Afrika gibt es eine wachsende Zahl säkularer humanistischer Schulen. Betrachten Sie das als positive Entwicklung für die Bildung und Aufklärung in Afrika?

Sie sind ein ständiger Anlass zur Feier.

Gelehrte wie der kenianische anglikanische Theologe und Philosoph John Samuel Mbiti beurteilen Afrikaner als „notorisch religiös“. Stimmen Sie ihm zu?

Vielleicht wäre der Begriff „spirituell“ weniger problematisch als der Begriff „religiös“. Die Menschheit ist von Natur aus „spirituell“. Sie versucht ständig, jenseits materieller Wahrheiten zu gelangen. Dieser Impuls führt zu einer Verdinglichung von Intuitionen. Sind Intuitionen real? Sie werden empfunden oder manifestiert. Sobald sie einmal empfunden wurden, suchen die Menschen Erklärungen oder Quellen. Wenn keine befriedigend ist oder von zweifelhafter Empirie, suchen sie nach Repräsentationen – auf symbolische Weise, also entweder in greifbaren Dingen oder in Mythologie. Es ist ein Prozess, der deutlich die menschliche Intelligenz widerspiegelt. Wenn das soweit verdinglicht wird, dass die Verbindung zur ursprünglichen Intuition verlorengeht, gewinnt dies die Oberhand: Für die Intuitionen beginnt eine Clique selbstgefälliger, frömmelnder „Wissender“ zu sprechen, selbsternannte Anwälte mit vermutlich speziellen Nachtsichtgeräten und anderen Empfängern, die auf die unsichtbaren Präsenzen eingestellt sind.

Das ist der Punkt, an dem das Ganze zu einer unheimlichen Sache, zu einem Mittel der Kontrolle für den Rest der Gemeinschaft degeneriert. Selbst in seiner harmlosesten Form ist es diese Stufe, auf der die Dinge den Bezug zu ihrer ursprünglichen, kreativen Intelligenz verlieren – welche damit zufrieden gewesen war, Mythen und symbolische Figurationen als Haltevorrichtungen für das Unerklärliche zu erschaffen.

In vielen afrikanischen Ländern wüten Hexenjäger. Was könnte man tun, damit dieses mittelalterliche Phänomen Geschichte wird?

Diese Sache ist wirklich ein Grund zum Jammern und steht in Verbindung zu meiner Antwort über die sogenannte afrikanische Religiosität, sie ist in der Tat ein Komplement. Krankheit, Unfruchtbarkeit, Versagen in geschäftlichen Unternehmungen usw. usf. werden mangels unmittelbar erklärender Faktoren der Hexerei zugeschrieben. Die Lösung für dieses Problem besteht in der Aufklärung von Erwachsenen und in ausgleichender Gerechtigkeit für die Opfer.

Kritik an Religion, insbesondere am Islam, zieht in vielen Ländern gewalttätige Reaktionen nach sich. Denken Sie, dass sich ein neues dunkles Zeitalter anbahnt?

Der Islam ist eine Religion, in der es in der Tat einen entsetzlich großen Bedarf dafür gibt, mehr zuzuhören und weniger zu reagieren. Diese Religion muss unbedingt diesen unhaltbaren Mantel der Unantastbarkeit ablegen. Alle Religionen sind gemeinfrei und sie stehen deshalb legitimerweise dem öffentlichen Diskurs offen. Innerhalb des Islams – der keine hermetische Religion ist, wie viele seiner Anhänger zu glauben belieben – gibt es leidenschaftliche Schismata. Einige von ihnen drücken sich im Primitivismus gegenseitigen Abschlachtens aus. Der Irak gehört hier mit zu den berüchtigtsten Beispielen.

Länder wie Tunesien, Ägypten usw. sind – unbeständige – Beispiele für die andere Sprache der Selbstuntersuchung. Wir als Außenstehende haben die Pflicht, uns den aufgeklärten Stimmen der Debatte anzuschließen. Wir sind, zu Recht und unmittelbar, darin involviert, weil wir ebenfalls täglich die Konsequenzen des Versagens der Evolution in einigen mächtigen islamistischen Sekten zu ertragen haben. Glaube ist für die Lebenden von Bedeutung, nicht für die Toten.

Wie können Humanisten und Freidenker der Verfolgung aus religiösen Gründen in der Welt entgegenwirken?

Auf die gleiche Weise, wie sich die Welt in allen Zeitaltern gegen die Diktatur des Geistes gewehrt hat: durch Widerstand, Widerstand, Widerstand! Verstehen Sie die historische Partnerschaft von Religion und Macht auf der einen Seite, und die von Humanismus und Freiheit auf der anderen. Die Welt dreht sich um die Achse aus Macht und Freiheit, manifestiert in unterschiedlichen Formen. Und gleich in welchem Kleid sich das in verschiedenen Zeitaltern und Orten zeigte, einschließlich des Widerstands gegen säkulare Ideologien, stellt das die Realität der menschlichen Geschichte dar – die Dynamiken, welche die unsichtbare Achse aus Macht und Freiheit antreiben. Ziehen Sie die Schalen der Zwiebelhaut von Religionen ab und Sie finden – Macht.

Das Interview erschien zuerst in der März-Ausgabe des IHEU-Magazins International Humanist News 2014.

Wole Soyinka sandte zum letzten World Humanist Congress ein Grußwort an die rund 1.000 im britischen Oxford versammelten Delegierten. Das Grußwort mit dem Titel From Chibok With Love können Sie hier nachhören.

Mehr davon? Im nächsten Jahr lockt vom 15. bis 18. Juni ein großes humanistisches Festival nach Nürnberg: Der HumanistenTag 2017 wird ein idealer Ort zum Diskutieren, Tanzen, Staunen und Netzwerken für Menschen, die gerne selber denken und gut feiern können. Unter den Referenten und Künstlern, die bereits zugesagt haben, sind u.a. der humanistische Philosoph Julian Nida-Rümelin, der u.a. durch seine ZEIT-Kolumne bekannt gewordene Bundesrichter Thomas Fischer, „Science-Rapper“ Baba Brinkman und die Jazz-Sängerin Lisa Bassenge. Alle Informationen finden Sie auf www.humanistentag.net

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